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Kinderbuchautor James Krüss
"Ohne Sprache ist die Welt so nackt"

Der Kinderbuchautor James Krüss hat Bücher wie "Henriette Bimmelbahn" und "Timm Taler oder das verkaufte Lachen" geschrieben. Dieses Jahr wäre er 90 Jahre alt geworden. Sein Spaß am Sprachspiel vermittelt sich bis heute.

Von Christine Knödler |
    Der Kinder- und Jugendbuchautor James Krüss. Krüss wurde am 31. Mai 1926 auf Helgoland geboren und starb am 2.8.1997 auf Gran Canaria. Zu seinen populärsten Büchern gehören "Timm Thaler" und "Mein Urgroßvater und ich", wofür er 1960 den Deutschen Jugendbuchpreis erhielt.
    Kinder- und Jugendbuchautor James Krüss, 1926 auf Helgoland geboren, 1997 auf Gran Canaria gestorben (dpa/Roelen)
    Eines der bekanntesten Fotos von James Krüss hängt gleich dutzendfach im festlich geschmückten Saal auf Schloss Blutenburg. Es zeigt den Dichter mit einer dieser Strickmützen von der Waterkant: Pfeife in den Mund – fertig ist der Seemann. Doch Krüss trägt die Mütze wie eine Krone oben auf dem Kopf. Das sieht schräg aus, passt aber ziemlich gut.
    Denn sein legendärer Witz, seine Lust am Theatralen, sein Spaß am Sprachspiel, das Kindliche, ohne je kindisch zu sein, – all das klingt auf dem Foto an. Und natürlich die Eckpunkte seiner Lebensgeschichte, die am 31. Mai 1926 auf einer Insel, auf Helgoland, begann und auf einer anderen Insel, auf Cran Canaria, am 2. August 1997, endete.
    Auf dem Foto legt James Krüss den Zeigefinger an die Lippen: Leise sein! heißt das, und zuhören. Ein Anspruch, mit dem der Autor seine Auftritte eingeläutet hat: "Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen."
    Und Geschichten erzählen – das konnte er. Aus dem Nichts generierte er Helden – kleine, die groß über sich hinauswachsen. Sogar Fahrzeuge inspirierten ihn zu unvergesslichen Texten. "Der blaue Autobus", "Das U-Boot Fritz" und vorneweg die alte, nette "Henriette Bimmelbahn" rattern, knattern, fauchen, zischen bis heute durch Kinderzimmer.
    Wie zeitlos Krüss’ leidenschaftlicher Leichtsinn zu komischen Kommentaren taugt, machte Martin Baltscheit an jenem Geburtstagsabend auf Schloss Blutenburg vor, als er aus der Ballade der Küchenschaben "Höpftbönöff" las:
    Zitat: "Höpftbönöff" von James Krüss, gelesen von Martin Baltscheit
    Bei den dummen Küchenschaben
    Gibt es manchen klugen Knaben,
    Der verschiedne Sprachen spricht.
    Das sind hochgescheite Wesen,
    Aber schreiben oder lesen können Schaben leider nicht,
    Schreiben sie was hin,
    Gibt es keinen Sinn:
    Höpftbönnöff!
    Als die Schaben ihre Zeitung
    Gründeten mit viel Bedeutung,
    Gingen sie zur Druckerei.
    Und sie sagten: "Druckt uns heute
    Eine Zeitung, liebe Leute!
    Was ihr druckt ist einerlei.
    Sie verschwanden dann.
    Und so druckte man:
    (( - Na kommt, traut euch! –))
    Höpftbönnöff! (...)
    So kennt ihn sein Publikum und so liebt es ihn: den lustigen Mützen-Mann. Gerade mal fünf Jahre alt, hat der schon gereimt – auf Friesisch. James Krüss ließ sich zum Lehrer ausbilden, musste für ein Jahr noch in den Krieg, wagte danach den Absprung aufs Festland und startete in München seine Karriere als Schriftsteller.
    Er hat Gedichte, Geschichten, Fabeln, Balladen, Liedtexte, Romane verfasst – die meisten für Kinder. Er hat für Zeitungen und Zeitschriften, fürs Radio, Theater und Fernsehen geschrieben. Und wurde populär. In über 40 Sprachen übersetzt hat er selbst Texte ins Deutsche übertragen. Heute bewahren und ehren der James Krüss-Turm in der Internationalen Jugendbibliothek, der James Krüss-Preis und das Museum Helgoland Werk, Leben und Andenken des Dichters.
    Der wurde selbst vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1960 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis für "Mein Urgroßvater und ich". Darin erzählen und reimen der sehr alte und der junge Boy um die Wette. Das Ergebnis: ein Zyklus aus Geschichten und Gedichten, eine Anleitung zum Erzählen und Verstehen. Mit dabei: "Höpftbönöff"!
    Doch James Krüss kann auch ganz anders klingen:
    Zitat: "Heimkehr aus dem Kriege", gelesen von Martin Baltscheit
    "Ich weiß von Hunger und Angst, von Krankheit und Tod und von Kisten, die Särge ersetzten. Ich weiß das alles. Doch ich kann es nicht beschreiben. Ich blieb am Rande des Schreckens, weil ich am Rande bleiben wollte. Ich handelte nach dem Instinkt der Katzen, die sieben Leben zu verlieren haben. Befreit von Bindungen, die ich gehasst hatte, fürchtete ich neue Bindungen jeder Art, sogar die Liebe. Ich blieb allein, war flüchtiger, dankbarer Gast in vielen Häusern am Rande des Weges; aber der Weg blieb lange mein Zuhaus. Ich war ein halbes Jahr lang heiter Vagabund. So überlebte ich."
    Vom unbeschwerten Mützen-Mann ist im Vorwort zu "Heimkehr aus dem Kriege" wenig übrig. Während gleichaltrige Schriftsteller-Kollegen wie Heinrich Böll, Wolfgang Borchert oder Siegfried Lenz das mühsame Geschäft der Erinnerung aufnahmen und die Realität eines nahezu nahtlosen Übergangs in bundesdeutsche Wirtschaftwunderzeit schreibend kritisierten, erfand und beschrieb James Krüss fantastische Welten. Denn das konnte er.
    Der Wirklichkeit hält er Kinderbücher wie "Timm Taler oder das verkaufte Lachen" aus dem Jahr 1962 entgegen und verknüpft die alte Form des Kunstmärchens mit aktueller Gesellschaftskritik. Das Wesen des Einzelnen, so eine Lesart, steht über Gewinn. Geld macht weder glücklich noch frei und ein Pakt mit dem Teufel ist sowieso noch nie gut ausgegangen.
    Auch hier liegt die Rettung im Erzählen. Es ist im Krüssschen Kosmos das einzige Gegengift gegen Verführbarkeit, Machtmissbrauch, Diktatur.
    In "Mein Urgroßvater und ich" fragt der junge Boy einmal, was Höpftbönöff eigentlich heiße. "Wahrscheinlich Hauptbahnhof", antwortet der Urgroßvater, "aber du kannst dir wohl denken, dass Küchenschaben sich darunter schwerlich etwas vorstellen können."
    "Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen."
    Und er erklärt weiter: "Ohne Sprache ist die Welt so nackt, wie du es jetzt bist. Aber durch die Sprache wird sie so gesittet und ordentlich wie du durch deinen Anzug."
    Denn Sprache ordnet und gestaltet. Als Literatur verweist sie auf neue Möglichkeiten – etwa auf das, was Krüss "Menschsein" genannt hat. Dazu wollte er anstiften. Dafür hat der große Kinderbuch-Autor auf Unfug gesetzt statt auf Pathos, auf Verstehen statt Belehren. Dass er dabei nicht nur unbeirrbar Geschichten und Gedichte geschrieben hat, sondern in seinen Geschichten und Gedichten immer wieder das Geschichten-Erzählen und Gedichte-Schreiben selbst thematisiert und vorgemacht hat, ist seine große Kunst.
    "Was ihr druckt, ist einerlei", sagen die dummen Küchenschaben in der Ballade. "Schreiben sie was hin, macht es keinen Sinn." Was bleibt? Höpftbönöff! Und was bleibt von James Krüss? Dazu noch einmal Martin Baltscheit:
    "Ich kannte den Krüss gar nicht. Ich hab den nie gelesen. Und wenn ich Bücher gesehen hab, dann hab ich immer auf das Foto gekuckt und da lacht dieser Mann mit der Pudelmütze.
    Und der sieht aus wie der Kinderkasper – da hatte ich nie Lust drauf. Und dann hab ich jetzt für die Veranstaltung die Bücher gelesen und finde: Ein Schriftsteller von großer Tiefe, von Weisheit, von Ehrlichkeit, von sprachlicher Brillanz – also: Das hätte ich nach dem Foto echt nicht erwartet. Ich bin ein Riesenfan geworden von James Krüss."
    Denn James Krüss, der Mützen-Mann und Dichter-König, erhebt nicht den pädagogischen Zeigefinger – er legt den Zeigefinger an die Lippen:
    "Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen."

    James Krüss, Jutta Bauer (ill): Der Leuchtturm auf den Hummerklippen (Carlsen Verlag)
    James Krüss, Jochen Bartsch (ill): Mein Urgroßvater und ich (Oetinger)
    James Krüss, Katrin Oertl (ill): Der wohltemperierte Leierkasten (cbj)