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Kinderlähmung in Afrika
Rückschlag nach der Auslöschung des Poliovirus

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation Polio in Afrika für besiegt erklärt hatte, meldet nun auch der Sudan durch den verwendeten Impfstoff ausgelöste Fälle von Kinderlähmung. Dass sich mutierte Impfviren im Sahel ausbreiten konnten, liegt an der mangelhaften Qualität vieler Impfkampagnen - und an Corona.

Von Julia Amberger |
Impstoff gegen Tuberkulose und Polio
Ein neuer Impfstoff gegen Impfpolio ist in Entwicklung, doch wann der zur Verfügung steht, ist ungewiss (dpa-Zentralbild/Tom Schulze)
Im März war im Dorf Kas nahe der Grenze zum Tschad der erste sudanesische Fall aufgetreten: ein zweijähriges Kind mit Lähmungserscheinungen. Inzwischen weiß Collins Boakye-Agyeman, der für die WHO das Polio-Impfprogramm für Subsahara Afrika leitet, von 12 weiteren Fällen in der Gegend. Sie alle sind Opfer eines Virus, das aus dem Impfstoff stammt.

"Es handelt sich um ein Polio-Virus, das aus der Schluckimpfung mit dem abgeschwächten Erreger Typ zwei mutiert ist und aus Nigeria in den Tschad kam. Wegen der Covid-19-Pandemie und den Abstands-Regeln mussten wir alle unsere Aktivitäten im Zusammenhang mit der Impfkampagne stoppen. So konnte sich das Virus im Tschad und bis in den Sudan verbreiten."
Ein Kind wird in Kawo Kano (Nigeria) gegen Polio geimpft.
Polio in Afrika besiegt
Polio gilt nun auch in Afrika als ausgerottet. Trotzdem müsse weiter gegen Kinderlähmung geimpft werden, betont Kathrin Keeren vom Robert Koch-Institut. Auch hierzulande. Denn das Virus ist tückisch – und könne schnell wieder eingeschleppt werden.
Schuld daran ist, dass die Schluckimpfung ein Lebendimpfstoff ist. Sie enthält abgeschwächte Viren. Derzeit melden in Afrika 15 Länder Ausbrüche des sogenannten Impf-Polio, 260 Fälle allein in diesem Jahr.
"Es gibt eine ganze Gruppe von Kindern, die nicht geimpft sind. Diese können sich bei den geimpften Kindern anstecken, meistens geschieht das auf der Toilette. Und wenn das Virus aus dem Impfstoff von einer Person auf die andere überspringt, kann es sein, dass es mutiert. Das ist ein bekanntes Phänomen."
Gegen Polio gibt es zwei Impfstoffe: Lebend- und Totimpfstoff. Sie haben beide Vor- und Nachteile. Der Lebendimpfstoff ist billig, übersteht die Hitze und ist einfach zu verabreichen. Vor allem aber verhindert er eine Übertragung des wilden Poliovirus von Person zu Person. Anders beim Totimpfstoff. Kinder, die mit dem Totimpfstoff geimpft sind, werden zwar nicht krank, wenn sie sich mit den wilden Polio-Viren anstecken. Aber sie können das Virus immer noch ausscheiden und oral weiterverbreiten. Deshalb hilft der Totimpfstoff auch wenig bei einem Ausbruch.
Lebendimpfstoff führt zu neuen Polio-Ausbrüchen
Auch in Deutschland hat man bis 1998 auf die Schluckimpfung mit dem Lebendimpfstoff gesetzt. Seitdem wird nur noch der Totimpfstoff IPV verwendet. In Afrika wurden die ersten Impfdosen und Spritzen mit dem Totimpfstoff 2016 verteilt. Aber erst seit diesem Jahr haben alle Länder Zugang, berichtet Dr. Meseret Zelalem. Sie leitet die Impfkampagne der Regierung in Äthiopien:

"Möglicherweise sind wir immer noch bei der Erstimmunisierung mit dem Totimpfstoff. Der Umstieg sollte das Risiko eines weiteren Ausbreitens von Impfpolio-Erregern vermeiden. Aber wenn Sie sich den Umfang des aktuellen Ausbruchs ansehen, dann sehen Sie, dass die Fallzahlen weit höher liegen, als wir bei der Zertifizierung 2015 angenommen haben. Dieser Ausbruch ist die größte Herausforderung in der letzten Phase vor der Auslöschung von Polio von dieser Welt."
Utensilien zur Injektionsimpfung gegen die Krankheit Kinderlähmung liegen am 24.10.2014 in der Universitätsklinik in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) bereit. 
Spätfolgen der Polio
Viele der ehemals an Polio erkrankten Kinder können als Erwachsene ein halbwegs normales Leben führen. Bei einigen ist das jedoch nicht der Fall. Jahrzehnte später machen ihnen Müdigkeitsattacken und Muskelschmerzen zu schaffen.
Dass das mutierte Impfvirus sich so ausbreiten konnte, liegt auch an Corona, heißt es. Doch Zelalem geht davon aus, dass die Pandemie die Probleme lediglich verstärkt hat. Die mangelhafte Qualität vieler Impfkampagnen kritisiert auch ein Apotheker aus dem Tschad. Ihm zufolge würden für Kampagnen häufig Mitarbeiter angeheuert, die nicht einmal den Impfstoff kennen, geschweige denn die Risiken.
Mangelhafte Qualität vieler Impfkampagnen in Afrika
"Ein Faktor könnte auch sein, dass bei den aktuellen Ausbrüchen immer noch der Lebendimpfstoff verabreicht wird. Dadurch könnte aber ein neuer Ausbruch verursacht werden."
Die WHO setzt jetzt alles daran, die Ausbrüche einzudämmen und neue zu verhindern. Auch ein neuer Impfstoff gegen Impfpolio ist in Entwicklung. Er könnte das Risiko ausschalten. Doch wann der zur Verfügung steht, ist ungewiss. Deshalb will die WHO ab Oktober weiterimpfen – so viel und schnell es geht, sagt Collins Boakye-Agyemang:
"Mit zwei parallel laufenden Kampagnen mit dem Tot- und dem Lebendimpfstoff werden wir die Epidemie eindämmen. Und wir werden auch mehr Routineuntersuchungen durchführen, um sicher zu gehen, dass das Virus die Menschen in keinem anderen Teil von Subsahara Afrika mehr befällt."

In den 80er-Jahren lähmte das Virus rund 350.000 Kinder weltweit pro Jahr. Im letzten Jahr erkrankten weniger als 200 Kinder an wildem Polio, aber etwa 400 an Impfpolio.