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Kinderrechte werden weltweit missachtet

Koczian: Heute ist Weltkindertag melden die Agentur und am Telefon in Senden Ekin Deligöz, sie ist Vorstandsmitglied bei UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen und gehört für die Grünen dem Familienausschuss des Bundestages und der Kinderkommission an. Guten Morgen, Frau Deligöz.

    Deligöz: Guten Morgen aus Senden.

    Koczian: Weltkindertag ist nicht ganz korrekt, man spricht präziser vom Kinderrechtetag, warum?

    Deligöz: Es geht um Kinderrechte, nämlich genau genommen um die Kinderrechte der Vereinten Nationen. Es gibt eine UN-Erklärung zu Kinderrechten, die inzwischen von über 190 Staaten ratifiziert wurde, das haben wir in Deutschland mit Vorbehalten auch gemacht und es geht darum, Kinderrechte auf der ganzen Welt durchzusetzen.

    Koczian: Diese UN-Kinderrechtskonvention beschreibt, wie es sein sollte und wie es sicher nicht ist. Auch wenn wir zunehmende Kinderarmut in Deutschland zu beklagen haben, in Hinblick auf die Dritte Welt ist ein Kind doch glücklich dran, wenn es in Deutschland geboren wird.

    Deligöz: In der Tat, es ist so, wir erleben in der Dritten Welt zunehmend die Militarisierung der Kinder. Es gibt in afrikanischen Staaten, aber nicht nur dort, zunehmend Kindersoldaten, die von Militärmilizen, von einzelnen feindlichen Gruppen entführt werden aus ihren Familien. Beispiel Uganda, dort gibt es eine Million Binnenflüchtlinge und alle diese Personen haben auch Angst um ihre Kinder, die über Nacht geklaut, entführt werden von den Familien und zu Gewehren beziehungsweise zu Soldaten ausgebildet werden und auch auf dem Feld eingesetzt werden. Wir reden über Kinderrechte weltweit, wo viele, viele Mädchen, wo Hunderttausende von Mädchen von der Schulbildung ausgeschlossen sind. Wir reden immer noch über eine hohe Kindersterblichkeitsrate, über Hunger, über Bildungsarmut. Wir reden darüber, dass wir Kinder auf der Welt haben, die keinen Zugang zu Chancengerechtigkeit haben, zum Teil aber nicht mal zu Wasser und zu Nahrung.

    Koczian: Ja wir reden darüber, aber was kann man praktisch tun zum Beispiel in Afrika, wo den Kindern die Eltern an Aids wegsterben?

    Deligöz: Wir von UNICEF versuchen, durch das, was wir können, durch einzelne Projekte dem entgegenzuwirken. Für uns ist es wichtig, gerade in dem Bereich der Gesundheit hinzugehen, wir wissen auch, dass Bildung die beste Form der Aufklärung von jungen Frauen ist und von Mädchen ist. Wenn Sie etwas gegen Aids tun wollen, dann müssen Sie Kinder und Jugendliche ausbilden, aufklären. Wir haben nicht nur mobile Schuleinheiten, sondern wir finanzieren in den verschiedenen Ländern auch insbesondere Lehrerinnen, Schulen zur Frauenausbildung, Ärzte vor Ort und auch mobile Krankenhäuser, die auch Impfungen machen, aber auch Projekte, wo Kinder und Jugendliche insbesondere Schutz vor Entführungen, vor Milizen, vor Kriegen bekommen. Und das ist unsere Hauptaufgabe, durch kleine Projekte etwas zu bewegen, aber vor allem auch Aufklärung im Sinne der Kinderrechte zu realisieren.

    Koczian: Nun muss man auch an die Kinder ran kommen. Wie macht man das zum Beispiel mit den Straßenkindern in Brasilien?

    Deligöz: Wichtig ist es, dass man vor allem Sozialarbeiter vor Ort hat. Je niedrigschwelliger Sie das anpacken, desto erfolgreicher sind Sie. UNICEF arbeitet vor Ort immer mit Kräften, die auch vor Ort die Landessprache kennen, die Landessitten, die Landesgebräuche kennen, um auch Vertrauen der Kinder, Jugendlichen als auch der Eltern zu gewinnen, vor Ort direkt dort angehen können, wo die Menschen leben und sie auch ein Stück weit mitnehmen, mit abholen. Das betrifft alle unsere Projekte.

    Koczian: Ist im Vergleich zu Afrika und Brasilien nicht Kinderarbeit wie in Asien wenigstens ein Minimum an Gebrauchtsein und Betreuung?

    Deligöz: Wissen Sie, Kinderarbeit ist eine sehr, sehr umstrittene Sache. Selbstverständlich gibt es auch die Meinung, zu sagen, es ist besser, die Kinder arbeiten und retten sich vor Hunger, als sie bleiben zu Haus und machen nichts. Das mag vielleicht ein Stück weit stimmen. Das Wichtigste für uns ist aber, dass ein Kind auch ein Rechtsanspruch auf Kindsein hat und nicht zu besseren, früheren Kleinerwachsenen werden darf. Man kann das auch ein Stück weit kombinieren. Wir versuchen zum Beispiel insbesondere in den Ländern, wo Mädchen auf dem Feld im landwirtschaftlichen Gefüge einfach mit eingesetzt werden müssen, weil sie der Familienarbeit beitragen, nachmittags, abends Schulunterricht anzubieten und sei es auch nur zwei Stunden am Tag. Das ist schon viel mehr an Bildung und an Aufklärung, als das, was ihnen die Arbeit an sich gibt.

    Koczian: Wäre eine weltweite Geburtenregelung eine Lösung?

    Deligöz: Eine weltweite Geburtenregelung ist nur eine oberflächliche Lösung. Die beste Form der Aufklärung ist, Sie geben den Menschen eine Existenzgrundlage, eine Erwerbstätigkeit und natürlich auch eine gesundheitliche Vorsorge, aber mit der Ausbildung der Frau, indem Sie in die Entwicklung der Frauen investieren, regulieren Sie die Geburten, weil dann von selber Frauen nach Wegen und Möglichkeiten suchen zum Beispiel präventiv gegen Aids vorzugehen und präventiv gegen Geburten vorzugehen.

    Koczian: Nun hat ein deutsches Kind wenig davon, wenn man ihm sagt, in Afrika geht es den Kindern viel schlimmer. Wie drückend ist die neue Armut bei den Kindern hierzulande?

    Deligöz: Ja verglichen mit afrikanischen Kindern können wir natürlich nicht von Armut sehen. Aber Armut ist immer relativ. Die OECD definiert Armut weniger als 50 Prozent des Durchschnitteinkommen eines Landes. Das heißt für ein afrikanisches Kind tatsächlich Zugang zu Nahrungsmitteln, zu Wasser oder überhaupt nicht auf der Flucht sein, während das für unsere Kinder schon auch mal heißt, dass ein Kindergeburtstag ausfällt, keine Freizeitmöglichkeiten oder aber auch tatsächlich Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln nicht möglich ist. Natürlich gibt es die Form der Armut von Afrika in Deutschland nicht. Aber wie gesagt, Armut ist immer relativ. Für uns in Deutschland ist es wichtig, dass unsere Kinder auch die Chance haben, aufzusteigen, auch in der Bildungsschicht aufzusteigen, eine Zukunftschance zu bekommen und auch aus der Gesellschaft nicht ausgeschlossen zu werden.

    Koczian: Nun ist derzeit viel von Parallelgesellschaften die Rede, Gewalt kommt sicher auch in Familien vor, die sich christlich und deutsch nennen, aber ist es richtig, dass die Ohrfeige in islamischen Familien als problemlos gilt?

    Deligöz: Dass die Ohrfeige in islamischen Familien als problemlos gilt? Naja, es ist in der Tat so, dass in Migrantenfamilien öfter Gewalt angewendet wird. Man kann das soziologisch erklären. Dadurch, dass die Eltern vor der Orientierungslosigkeit stehen genauso wie ihre Kinder und Jugendlichen und in Gewalt ihre Sprache suchen. Dass das nicht richtig ist, das betonen wir immer wieder. Sei es in UNICEF als auch in der Kinderkommission. Hier in Deutschland haben wir ein Recht auf gewaltfreie Erziehung im BGB und ich versuche das persönlich auch innerhalb der türkischen Migranten über die Medien immer wieder zu transferieren, weil wir wissen, wer Gewalt als Sprache lernt, der nutzt diese Sprache auch und schlägt später selber zurück.

    Koczian: Nun müssen wir, so pervers es auch angesichts des bisher Gesagten klingt, auch von Wohlstandverwahrlosung sprechen, von pastösen Kindern, die mit Gaben verwöhnt werden, um die seelische Kälte zu überspielen. Kinder brauchen auch Zuwendung. Sind wir da nicht vielleicht sogar ärmer dran als in der Dritten Welt?

    Deligöz: Kinder brauchen Liebe und Zuneigung. In der Tat ist es so, dass in vielen Ländern die Familienbindung vielleicht manchmal etwas stärker ist als bei uns. Wir wissen, dass bei uns Kinder nicht nur die Ärmsten sind, sondern auch sehr reich sind. Kinder haben sehr, sehr viel Geld, was zum Beispiel Ausgaben für Handys und ähnliche moderne Mittel und Medien anbelangt. Das sehen wir ja tagtäglich eigentlich dann immer, wenn die Rechnungen offenbart werden, wie viele Kinder schon heutzutage ein Handy besitzen oder einen eigenen Fernseher im Zimmer. Aber ich denke, Zuwendung gibt es zum einen durch die Eltern, da mag es vielleicht in der ein oder anderen Familie problematisch gehen, aber 80 Prozent der Familien funktionieren noch. Das muss man auch immer wieder betonen.

    Koczian: Geht es vielleicht darum, eine Bewusstseinsänderung, die seelische Not mancher Kinder nicht in Markenklamottenwettbewerb mithalten zu können, ließe sich doch durch Einsicht in diesen Mechanismus lindern.

    Deligöz: Das ist in der Tat richtig, die Debatte haben wir immer wieder. Aber die Antwort darauf ist nicht so einfach und nicht so pauschal zu geben. Wir brauchen gute, qualitativ hochwertige Kindertagesstätteneinrichtungen, gute Schulen, wir brauchen selbstbewusste Kinder, die offen auch ihre Meinung ausdrücken können. Das ist tatsächlich auch eine Aufgabe unserer Pädagogen und unserer Einrichtungen, die sich an Kinder und Jugendliche richten, eine gute Jugendhilfe trägt dazu auch bei, Kinderbeteilung vor Ort in den Rathäusern in den Stadtverwaltungen sind sehr, sehr wichtig. Wenn wir aufrechte Kinder haben wollen, die nicht auf die Falle des Konsums hineintappen, dann müssen wir ihnen Kompetenz vermitteln und das können wir nur gemeinsam mit den Eltern, das heißt auch Erziehungskompetenz bei den Eltern, vor allem aber auch eine kinderoffene Gesellschaft, die die Meinungsfindung der Kinder auch zulässt.

    Koczian: Messen wir mit zweierlei Maß, der Schutz der Familie, also ihr Zusammenbleiben gilt in der Praxis hierzulande doch nicht unbedingt für Flüchtlingskinder, für Flüchtlingsfamilien?

    Deligöz: Wir versuchen, wir arbeiten daran, dass Flüchtlingskinder in Deutschland gleiche Rechte bekommen, das ist eine Forderung von UNICEF als auch der Kinderkommission des deutschen Bundestages. Wir sind bisher an den Ländern und auch am Bundesinnenminister gescheitert, dieses Gesetz, diesen Vorsatz der UN-Kinderrechtskonvention eins zu eins in Deutschland umzusetzen. Es geht darum, dass auch Flüchtlingskinder in Deutschland Zugang zu Bildungseinrichtungen haben, Zugang zu präventiven medizinischen Versorgung, Zugang haben auch zu den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Das ist die Forderung aller Fachleute, die in diesem Bereich arbeiten in Deutschland, scheitert leider Gottes bis jetzt an unseren Innenpolitikern und diesen Appell möchte ich hier auch noch mal an die Innenpolitiker geben, zu sagen, wenn wir die Zukunft unserer Kinder tatsächlich auch in der Integrationsleistung sehen, dann müssen wir auch etwas dafür tun, wir müssen ihnen diese Chancen geben, vor allem aber auch hier in Deutschland, Zugang zu Bildung ist der wichtigste Schlüssel, den wir ihnen mit auf den Weg geben können.

    Koczian: Letzte Frage, sie hat nun gar nichts mit unserem Thema zu tun, ich weiß, Sie sind auf dem Sprung zum Parteitag der bayrischen Grünen in Lindau. In München findet der CSU-Parteitag statt, es ist Jahrzehnte her, dass Bayern mal von einer Viererkoalition ohne CSU regiert wurde, sehen Sie eine realistische Perspektive?

    Deligöz: Eine realistische... Wir Grünen in Bayern versuchen Prämienopposition zu sein. Wir haben gute Konzepte, wir haben gute Antworten, wir haben vor allem sehr, sehr viele Elternverbände auf unserer Seite, wenn es zum Beispiel an der Kritik um das geht, was Bayern zur Zeit machen will, nämlich massive Kürzungen, Sparmaßnahmen an Schulen, an Bildungseinrichtungen, an Kindergärten aber auch in der Jugendhilfe in den präventiven Einrichtungen, da sagen wir als Grüne nein, als einzige Partei. Aber das ist nur ein Beispiel, was mich hoffen lässt, dass unsere Stimme auch in Deutschland erhellt.

    Koczian: In den Informationen am Morgen hörten Sie Ekin Deligöz, Vorstandsmitglied bei UNICEF und Mitglied der Kinderkommission des Bundestages. Danke schön nach Senden.