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Kinderschutz
Auch im Leistungssport das Recht des Kindes achten

Anfang der Woche gab es besorgniserregende Nachrichten aus der Rhythmischen Sportgymnastik. Eine 16jährige Athletin aus Halle brachte schwerwiegende Beschuldigungen gegen zwei Betreuerinnen aus dem Bundesleistungszentrum Schmiebach-Felden vor. Die Bundestrainerinnen hätten sie geschlagen und beleidigt. Sie hätten ihr das Essen entzogen und verschreibungspflichtige Medikamente verabreicht. Die beschuldigten Trainerinnen, Angestellte des Deutschen Turnerbundes, haben nach Angaben des Verbandes alle Vorwürfe zurückgewiesen. Ganz gleich, ob sich die Vorwürfe bestätigen oder nicht, sie werfen die Frage auf nach dem Umgang mit dem Kindeswohl im Leistungssport.

Von Andrea Schültke |
    Kinder laufen bei einer Leichtathletikwettkampf
    Auch im Leistungssport müssen Kinderrechte gewahrt bleiben. (Deutschlandradio - Hendrik Maaßen)
    Der Deutsche Turnerbund nimmt die Vorwürfe seiner Sportlerin laut einer offiziellen Stellungnahme sehr ernst. Hier geht es nicht um eine Einschätzung des konkreten Falles, sondern um das Thema Kinderrechte im Sport. Fakt ist: körperliche und vor allem seelische Gewalt im Sport ist weltweit ein Problem: "Wir haben alarmierende Daten zum emotionalen Missbrauch. In manchen Ländern gab es 70 bis 80 Prozent Betroffene."
    So die britische Wissenschaftlerin Celia Brackenridge in einem Interview mit der WDR-Fernsehsendung "Sport inside". Die inzwischen emeritierte Professorin ist eine der anerkanntesten Forscherinnen auf dem Gebiet des Kindeswohles im Sport. Großbritannien hat schon vor 30 Jahren als eines der ersten Länder weltweit mit der Untersuchung dieses Themas begonnen. Vor vier Jahren hat auch das Internationale Olympische Komitee auf seiner Internetseite in Videospots aufmerksam gemacht, auf das Problem von körperlicher und seelischer Gewalt im Sport.
    In bestimmten Sportarten wie etwa im Turnen oder Eiskunstlaufen beginnen die Kinder schon in sehr jungen Jahren mit täglichem Training um ihren Traum zu verwirklichen. Sie sind hochtalentiert und gelten als künftige Medaillengewinner. An diesem Punkt sind die Athleten in Gefahr, alles zu tun und alles zu ertragen für den Erfolg. Übergriffe werden dann als normal gerechtfertigt, umgedeutet als Hilfe, sportliche Ziele zu erreichen. In englischsprachen Untersuchungen finden sich Aussagen wie diese einer Turnerin: "Wenn ich schlecht war, warf sie Gegenstände nach mir, die in der Nähe waren und behandelte mich sehr schlecht. Andererseits liebte ich sie, sie war wie eine zweite Mutter für mich".
    Trainer oder Trainerin haben eine schwierige Rolle: Sie sind gleichzeitig Vorbild, Vertrauensperson und der einzige Mensch mit dem der Athlet oder die Athletin glaubt, ihr großes Ziel zu erreichen. "Wir fanden heraus dass Führungspersönlichkeiten im Sport, besonders Trainer eine große Macht haben über junge, aufstrebende Athleten und sie können diese Macht benutzen für emotionalen und sogar sexuellen Missbrauch."
    Dramatische Missachtung ihrer Rechte
    In vielen Sportarten sind Federgewichte gefragt. Entweder, weil sie den vermeintlichen ästhetischen Anforderungen entsprechen, oder weil weniger Gewicht mehr Leistung bringt. Extreme Maßregelungen beim Essen sind keine Seltenheit und von den Athleten akzeptiert. So finden sich in sozialen Netzwerken viele Fotos von Sportlern mit Nahrungsmitteln. Auf einem zu sehen: Ein Magerjoghurt, Müsli mit Milch und ein Glas Orangensaft. Der Text dazu: Erste Mahlzeit des Tages nach 4 Stunden Training. Auch erniedrigende Kommentare über das Gewicht lassen Sportlerinnen über sich ergehen. Oft wird jungen Athleten eine teilweise dramatische Missachtung ihrer Rechte erst bewusst, wenn sie ihre Karriere längst beendet habe. Aber es sind nur wenige, die sich dann öffentlich dazu äußern. Auch im aktuellen Fall der Gymnastin haben ihre Mannschaftskolleginnen bei Befragungen durch den Verband die Vorwürfe gegen die Trainerinnen offenbar nicht bestätigt. Falsche Anschuldigungen etwa aus Enttäuschung über eine verpasste Nominierung kommen vor. Genauso aber auch zahlreiche Fälle, in denen Athleten Trainer gestützt und Übergriffe verschwiegen haben: "Ich war so glücklich über meine Fortschritte im Training, dass ich meinen Eltern nichts erzählt habe. Zu Hause habe ich nie geweint."
    Auch aus Angst, den Trainer oder den Sport zu verlieren. Kinderrechte im Leistungssport – in Großbritannien hat die größte Kinderschutzorganisation des Landes dafür eine neutrale Instanz ins Leben gerufen - außerhalb der Verbände. Die hat dem organisierten Sport aufgetragen: entwickelt einen Maßnahmenplan für Kinderschutz im Sport. Solange der nicht umgesetzt ist, gibt es kein Geld vom Staat. Nach Angaben von Celia Brackenridge hat das funktioniert. Jede Sportart habe inzwischen einen Beauftragten für Kinderschutz und setze diesen um von der Ausbildung bis zum Training.
    Soweit ist der organisierte Sport in Deutschland noch lange nicht. Zwar gibt es entsprechende Empfehlungen, aber nur wenig Handhabe, sie durchzusetzen. Als einen Baustein empfehlen DOSB und deutsche Sportjugend allen Verbänden und Vereinen, Ihre Mitarbeiter, Trainer und Ehrenamtliche einen Ehrenkodex unterschreiben zu lassen. Ein Passus darin: "Ich werde das Recht des mir anvertrauten Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf körperliche Unversehrtheit achten und keine Form der Gewalt, sei sie physischer, psychischer oder sexueller Art ausüben."
    Der Ehrenkodex steht auch auf der Seite des Deutschen Turnerbundes. Unterschreiben musste ihn nach Auskunft des Verbandes aber bisher niemand. Allerdings ist der Deutsche Turnerbund nach eigenen Angaben schon vor den Anschuldigungen der Gymnastin aktiv geworden. Gemeinsam mit einer anerkannten Expertin arbeitet der Verband offenbar an einem Ethikkonzept. Das soll dann auch Bestandteil von Arbeitsverträgen werden, hieß es.