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Kinderschutz in der Coronakrise
"Für manche Kinder ist Schule der einzige sichere Ort"

Für viele Jugendliche und Kinder sei ihr Zuhause auch vor der Coronakrise kein sicherer Ort gewesen, sagte Susanna Krüger, Geschäftsführerin der Organisation "Save the Children", im Dlf. Die momentane Situation verschlimmere das. Jetzt könne etwa Gewalt noch mehr im Verborgenen stattfinden.

Susanna Krüger im Gespräch mit Sarah Zerback |
Ein Mädchen allein im Treppenhaus
Die Organisation "Save the Children" sorgt sich um das Wohl vieler Kinder, die wegen geschlossener Schulen und Kontaktsperre zu Hause derzeit noch mehr Gewalt ausgeliefert sind (Imago/ Joker/ Gudrun Petersen)
Die Corona-Krise ist nicht nur ein Stresstest für den Staat und für die Unternehmen, sondern auch für Familien. Wenn Menschen längere Zeit zusammen zu Hause sind, kann es zu Problemen kommen, die häusliche Gewalt könnte zunehmen. Erste Zahlen scheinen solche Befürchtungen zu bestätigen. Der Europarat verweist auf Berichte aus EU-Mitgliedsstaaten, die zeigen, dass Kinder und Frauen in ihrem Zuhause einem erhöhten Risiko von Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind.
Auch in Deutschland sind Kinderschützer alarmiert, so wie Susanna Krüger von "Save the Children". Sie ist Geschäftsführerin und Vorstandsvorsitzende der Hilfsorganisation, die sich weltweit für Kinderschutz engagiert.
Sarah Zerback: Wenn Familien jetzt über längere Zeit eng aufeinander hocken, isoliert auch, welche Befürchtungen haben Sie da?
Susanna Krüger: Wir befürchten vieles für Kinder, die in Familien sich jetzt befinden, die vielleicht arm sind, die vielleicht nicht die gleichen Chancen hatten und das auch schon vor Corona. Für viele Jugendliche und Kinder ist ihr Zuhause ohnehin kein sicherer Ort gewesen, auch vorher schon, und die momentane Situation verschlimmert das.
Warum ist das so? Weil die Situation in zum Beispiel gewaltbelasteten Familien jetzt noch mal schwieriger wird. Man kann nicht raus. Eltern sind massiv überfordert. Für manche Kinder ist Schule und Hort der einzige sichere Ort, den sie eigentlich haben, und der fällt jetzt weg, und auch andere Unterstützungsangebote fallen weg. Man kann nicht mal mehr zu Oma und Opa gehen.
Und Gewalt – und das ist ein ganz wichtiger Punkt – kann jetzt im Verborgenen stattfinden. Es fällt nämlich noch weniger auf. Unsere Sorge ist dabei, dass sich mit zunehmender sozialer Isolation, noch dazu in meistens ziemlich engen Wohnverhältnissen, die häusliche Gewalt in Familien erhöht, gegen Kinder und auch gegen Frauen.
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"Coronakrise wird Armut vertiefen und Spaltung begünstigen"
Zerback: Ich habe gerade bei Ihnen herausgehört, dass sich die Lage vor allem zuspitzt für diejenigen Kinder, die vorher schon gefährdet waren oder die auch in sozial schwachen Familien aufwachsen, die sich dieser Krise jetzt auch besonders ausgesetzt fühlen. Befürchten Sie denn auch, dass da neue Konflikte entstehen können in Familien, in denen Gewalt vorher kein Thema war? Wo ist da die Schwelle?
Krüger: Für mich zeigt sich in dieser Situation, dass die bestehenden Ungleichheiten massiv verstärkt werden. Natürlich kann auch Gewalt neu entstehen, aber das, was vorher schon ganz schwierig war, das zeigt sich jetzt auf allen Ebenen. Diese Coronakrise, die wird Armut vertiefen und Spaltung begünstigen, und man kann das ganz gut erleben, wenn man genau darauf achtet, wer die Situation als Chance sehen kann und wer gar nicht. Chancen sehen nämlich die, die gut zu Hause arbeiten können, die gut durchkommen. Das sind die, die die Eltern haben, die die Chance haben, zuhause mit ihren Kindern überhaupt zu lernen. Wer ist denn digitalisiert? Wer hat denn gelernt, sich mit sich selbst zu beschäftigen? Natürlich diejenigen, denen es vorher auch schon ganz gut ging.
Ich finde, wir als Gesellschaft sollten diese Krise nicht nur als ökonomische und gesundheitliche verstehen, sondern ganz grundlegende Fragen stellen, Armutsfragen, soziale Ausgrenzungsfragen, Bildungsungleichheiten, die in Deutschland sehr, sehr hoch sind. Das wäre dann tatsächlich mal eine Chance zur Weiterentwicklung und das gilt übrigens auch weltweit.
"Es werden mehr Kinder Hunger haben"
Zerback: Ein Problem, was Sie ansprechen, das ist die Ernährung. Jedes fünfte Kind in Deutschland, so sagen es ja Statistiken, ist von Armut betroffen und hat normalerweise Zugang zu kostenfreien Mahlzeiten in Schulen, in Kindergärten, Jugendzentren. Wenn die jetzt alle geschlossen haben, was heißt das denn für die Ernährung der betroffenen Kinder?
Krüger: In Deutschland wird sicher kein Kind verhungern, aber es werden mehr Kinder Hunger haben. Vor Corona war jedes fünfte Kind von Armut betroffen, und was bedeutet das dann, wenn diese Einrichtungen schließen. Eine warme Mahlzeit am Tag fällt weg, zum Beispiel beim Schulessen. Die Tafeln sind geschlossen. Viele ärmere Familien haben sich dort auch versorgt. Und ganz besonders eindrücklich kann man sich das vorstellen, wenn man mal an diejenigen denkt, die zum Beispiel auf der Straße sind, Jugendliche und natürlich auch Erwachsene - da kann man es sich am besten vorstellen -, die gar keine Wohnung mehr haben. Und stellen Sie sich vor: Alles hat zu, sie können noch nicht mal mehr betteln, daher auch nichts mehr kaufen. Die Notunterkünfte schließen und Essen und Versorgung fällt weg, und das ist maximale Schwierigkeit und Katastrophe für diese Menschen. Es sind sehr viele davon betroffen, gerade die man vielleicht gar nicht so sieht.
"Wir begrüßen auch die Krisentelefone"
Zerback: Nun hat – das muss man fairer Weise dazu sagen – die Bundesregierung, die Bundesfamilienministerin auch das Problem früh adressiert, erkannt, und die Bundesregierung hat auch insofern gehandelt, als dass ein Sozialpaket ja gestern in Kraft getreten ist, das im Eiltempo auf den Weg gebracht wurde. Reicht das nicht, um Kinder auch jetzt in dieser Krise noch mal besonders zu schützen?
Krüger: Wir begrüßen, was dort auf den Weg gebracht wird, und es sind ganz viele gute Möglichkeiten, glaube ich, dabei. Es reicht aber nicht, denn auch wenn Angebote nicht mehr in der normalen Form abgehalten werden können, wir müssen absolut sicherstellen, dass die Betreuung von Familien weitergeht und auch mehr weitergeht, als das im Moment der Fall sein kann, zum Beispiel mit mehr mobilen Teams. Eine Möglichkeit wäre auch eine Einrichtung von Familienräumen in zum Beispiel Bibliotheken oder Familienzentren mit Terminvorgabe oder Vergabe. Das Allerwichtigste ist aber Nachfragen, den Kontakt halten.
Ministerin Giffey hat auch etwas Gutes vorgeschlagen gestern, nämlich leerstehende Hotels für Frauen zu öffnen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Wir begrüßen das sehr. Wir begrüßen auch die Krisentelefone, die es gibt. Grundsätzlich gilt natürlich, dass die ganzen Maßnahmen, die gegen Corona eingeleitet worden sind, natürlich wichtig und richtig sind, aber die treffen ganz besonders die vernachlässigten Kinder und Kinder aus armen Familien, und da braucht es noch mehr Hilfe als das was, was da gerade angeschoben ist.
"Die Jugendämter sind im Moment überfordert"
Zerback: Sie haben die Isolation angesprochen. Notrufstellen berichten jetzt, dass obwohl die Krise ja zunimmt, wie Sie das beschreiben, tatsächlich sogar weniger Notrufe per Telefon eingehen, dafür aber dann mehr Sofortnachrichten im Netz. Das spricht dafür, dass auch der Kontakt nach draußen einfach schwieriger geworden ist. Was könnte es da für Lösungen geben, um es den Betroffenen zu erleichtern?
Krüger: Ich glaube, es braucht die Möglichkeit, dass die Menschen wissen, dass sie anrufen können, und dass sie auch die Möglichkeit dazu haben, digital das zu tun. Wir sind zum Beispiel auch dafür, dass Laptops verteilt werden und dass es Möglichkeiten gibt, in diesen Familien von den Betreuern, mit denen sie vorher gearbeitet haben, das digital zu tun. Ich glaube, man muss, wie ich gerade sagte, Kontakt halten, Kontakt, Kontakt, anrufen, immer wieder hingehen, sehen, wie geht es den Menschen und wie geht es den Kindern dort, da vor allem dran bleiben.
Zerback: Können die Jugendämter das leisten jetzt in der Krise? Auch da muss ja heruntergefahren werden.
Krüger: Die Jugendämter sind im Moment überfordert mit dieser Situation und das wissen wir, weil wir mit vielen von denen reden. Es gibt auch sehr viele Krankheitsfälle dort zum Beispiel. Ich glaube, dass es massive Unterstützungspakete braucht in diesem Bereich, um nicht die schwierige Lage noch schwieriger zu machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.