Wissenschaftlerinnen haben kürzlich einen Appell verfasst für "Mehr Kinderschutz in der Corona-Pandemie", der von rund 100 Unterzeichnern unterstützt wird. Darin weisen sie auch auf ein Ungleichgewicht hin:
"Während die Gewaltschutzhotlines für Frauen und andere Krisendienste bereits in den ersten Tagen zum Teil durch Überlastung nicht mehr erreichbar waren, deuten erste Erfahrungen darauf hin, dass sexualisierte Gewalt wieder ins Verborgene rutscht. Die betroffenen Mädchen und Jungen suchen ohnehin selten selbst Hilfe, sondern vertrauen sich Personen aus dem direkten Umfeld an."
Und genau das fehle gerade, sagt Kathinka Beckmann, Professorin für die Pädagogik der frühen Kindheit an der Hochschule Koblenz, die den Appell initiiert hat. Sonst habe häufig das pädagogische Personal aus den Kitas dem Jugendamt einen Verdacht oder einen konkreten Fall von sexuellem Missbrauch gemeldet. Mehr als 40 Prozent der hier eingehenden Meldungen beträfen Kinder, die jünger als sechs Jahre sind. Aber:
"Die Kinder gehen gerade nicht in die Kita. Das heißt, die Erzieherinnen melden nicht. Die Kinder gehen nicht in die Schule. Und auch hier, die Lehrer und Lehrerinnen sind eine große Meldegruppe. Und auch die Kinderärzte, die inzwischen auch wirklich gut nachgelegt haben im Erkennen von Gewalt gegen Kinder, auch sexualisierter Gewalt. Da werden die Kinder gerade auch nicht hingebracht, weil natürlich hier auch die Order ist: Die Eltern sollen anrufen, wenn das Kind irgendwas hat. Das heißt, wir haben gerade drei ganz große Meldergruppen, die Kinder nicht sehen. Und insofern können die Jugendämter in dem Bereich beziehungsweise die Abteilung, die für den Kinderschutz zuständig ist, auch gerade gar nicht rausgehen und nachgucken."
Untätigkeit des Jugendamts - wegen Nichtwissen
Kerstin Kubisch-Piesk ist beim Jugendamt des Berliner Bezirks Mitte für das Kinderschutzteam zuständig. Sie bestätigt, dass seit Beginn der Pandemie seltener sexueller Kindesmissbrauch gemeldet wird. Das hänge nicht damit zusammen, dass die Zahl der Fälle gesunken sei. Unabhängig von Corona rufen meist nicht die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst an, sondern ihre Bezugspersonen.
"Ich glaube, was wirklich jetzt in der jetzigen Situation das erschwert, ist, dass wir davon erfahren. Das ist jetzt erst mal das Wichtigste. Weil wenn wir nichts wissen, dann können wir eben auch nicht tätig werden."
Wie wichtig eine Meldung ist, damit die Fachkräfte für Kinderschutz in den Jugendämtern aktiv werden und die betreffende Familie aufsuchen, verdeutlicht Kathinka Beckmann anhand eines Beispiels:
"Was letzte Woche Freitag von einer Fachkraft auch im Jugendamt an mich herangetragen worden ist, die bei mir studiert. Die wurde zu einer Inobhutnahme von einem vierjährigen Kind gerufen und fuhr dann also da hin. Und hat noch neun weitere Kleinkinder gefunden - alle geschminkt, und die Kamera war schon aufgebaut. Und das war in einer ganz normalen, netten Siedlung, wo mit Sicherheit keiner der Nachbarn darüber nachgedacht hat oder es jemals für möglich halten würde, was sich da hinter diesen netten Türen so ereignet."
Anlaufstellen sind geschlossen
Zugleich bezeichnet die Sozialwissenschaftlerin es als hoch problematisch, wie die Arbeit von Jugendämtern und freien Trägern der Jugendhilfe sich in den vergangenen Wochen verändert hat. Viele Mitarbeiter arbeiten im Homeoffice, nicht wenige Anlaufstellen sind geschlossen, Hausbesuche reduziert. Wenn möglich, soll die persönliche Begegnung durch "alternative Beratungs- und Kontaktformen" ersetzt werden, heißt es in einem Informationsschreiben der Berliner Jugend-Senatsverwaltung. Auch das Bundesfamilienministerium empfiehlt, die Online- und Telefonberatung zu stärken. Und den 'Hausbesuch' nach einer Kinderschutzmeldung statten Sozialarbeiter jetzt anders ab als sonst, erzählt Kerstin Kubisch-Piesk:
"Sicherlich müssen wir da jetzt auch kreativ werden, das heißt, dass man so ein Gespräch nicht im engen Wohnzimmer oder in der Küche führt, sondern rausgeht. Dass man guckt, inwieweit kann man mit den Kindern sprechen, also das alles ein bisschen nach draußen verlagern, sodass das aber trotzdem stattfinden kann."
Wie Täter COVID-19 für sich nutzen
Die Täter und Täterinnen nutzen derweil die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten der Jugendhilfe, um sexuell übergriffig zu werden und kinderpornografische Abbildungen ins Internet zu stellen, befürchtet Kathinka Beckmann. Corona diene ihnen dabei als Vorwand, Hausbesuche und direkte Kontakte abzublocken.
"Hier reicht es auch nicht, ich sage jetzt mal nur zu skypen mit einer Familie oder nur zu telefonieren. Also ich muss ein Kind wirklich sehen und ein bisschen beobachten, um eine Idee davon zu bekommen - gerade wenn wir auch über jüngere Kinder sprechen: Geht es dem gut oder ist irgendetwas merkwürdig? Nichts ersetzt wirklich den persönlichen Kontakt, auch in der Tat im eigenen Haus."
Bei "Kind im Zentrum" hat sich die Arbeit infolge der Coronakrise ebenfalls stark verändert. In der Berliner Einrichtung melden jährlich rund 1.600 Menschen eines Verdachts oder einen konkreten Fall von sexuellem Kindesmissbrauch und fragen nach Beratung und therapeutischer Hilfe, berichtet der Leiter Udo Wölkerling. Die Hälfte davon seien Lehrer und Erzieher, Trainer und Freizeitpädagogen.
"Wir haben völlig auf Telefonberatung und Videoberatung umgestellt, um langfristig arbeitsfähig zu bleiben. Und das andere ist, dass - vielleicht etwas ungewöhnlich, aber wir haben damit gerechnet – die Anfragen eingebrochen sind im März. Und wir erklären das uns so, dass es eine Vielzahl von Stressfaktoren in den Familien gibt durch die Kontakteinschränkungen und diese Situation in den Familien die Möglichkeit sich zu melden, dann überdecken."
Es gibt auch gegenläufige Trends
Gab es im März 2019 noch 143 Anfragen, waren es im März dieses Jahres nur noch knapp die Hälfte. Warum das so ist, sei nicht eindeutig, sagt der Psychotherapeut: "Es gibt so was, dass es sexuelle Übergriffe gibt durch die räumliche Verdichtung und auch so ein gewisses Ausgeliefertsein und nicht mehr die sozialen Kontakte zu haben und rausgehen zu können. Und andererseits gibt es was Gegenläufiges: Missbrauch passiert ja nicht nur in familialen Kontexten, das gibt es auch in Institutionen. Es gibt schwerwiegende Übergriffe von Kindern untereinander oder Jugendlichen, und das ist ja jetzt teilweise eingeschränkt. Eingeschränkt durch die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten ist es auch, dass Personen übergriffig sind auf Kinder, die jetzt etwas weiter entfernt weg von der Kernfamilie ist. Da fällt also etwas weg."
Schließlich sind nicht zuletzt die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst weniger handlungsfähig, sagt Kathinka Beckmann. Dass sogenannte Selbstmelder auch während der Coronakrise beim Jugendamt oder bei Einrichtungen wie "Wildwasser" oder "Kind im Zentrum" anklopfen, bezweifelt die Expertin für Kinderschutz: "Tausende von Kindern, die wirklich von sich aus zum Jugendamt gehen und sagen: 'Mir geht es zu Hause nicht gut. Ich soll verkauft werden, ich werde geschlagen, ich werde vergewaltigt.' Und die Kinder kommen gerade nicht, und die können auch gerade nicht kommen, weil da einfach die Türen buchstäblich zu sind. Und das ist wirklich sehr schwierig, weil wir haben ja hier auch Kinder, die im Moment auch nicht zu Hause zum Hörer greifen können, weil der oder die Schädigerin, die steht neben denen. Das ist eine Situation, wenn man darüber nachdenkt, das ist schon wirklich unerträglich."
Dass die neue Form der Telefon- und Videoberatung dennoch wichtige Hilfe bietet, betont Udo Wölkerling. Bei allen, die sich derzeit an "Kind im Zentrum" wenden, stellt er eine große Bereitschaft fest, sich darauf einzulassen.
"Insbesondere Kinder und Jugendliche haben es sogar, habe ich von den Kolleginen gehört, als positiv empfunden, weil die sagten: 'Das ist nicht so schambesetzt. Also am Telefon kann ich doch einfacher darüber sprechen: Wie geht es mir, was ist mir eventuell passiert.' Als so einer fremden Person, die sie erst mal kennenlernen müssten, gegenüber zu sitzen.
Mit Influencern für mehr Transparenz sorgen
Deshalb sind sich die Experten aus Wissenschaft und Praxis einig: Kinder und Jugendliche sollten über die sozialen Medien nicht nur miteinander, sondern auch mit Erwachsenen Kontakt halten - und an prominenter Stelle auf Hilfsangebote und Hotlines stoßen:
"Hier würde ich mir sehr wünschen, dass die ganz großen Influencer, die es ja auch gibt, wo gerade die Gruppe der zehn- bis 16-Jährigen auch unterwegs ist, dass die hier vielleicht wirklich durch Videos aufgefordert werden, sich Hilfe zu holen – nicht unbedingt über das Telefon, sondern über all das, was heutzutage digital möglich ist. 'Hänsel und Gretel' hat zum Beispiel ein ganz großartiges Video gemacht, wo ein Mädchen selber auffordert: 'Ich bin zu Hause. Was ist, wenn es dir zu Hause nicht gut geht, dann ist hier die Nummer oder der Link, wo du dir Hilfe holen kannst.'"