Im Missbrauchskomplex Münster ist der Hauptangeklagte am 6. Juli 2021 wegen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu 14 Jahren Haft verurteilt worden. Zudem ordnete das Landgericht Münster für den 28-Jährigen eine anschließende Sicherheitsverwahrung an.
Ursula Enders von "Zartbitter", einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, bezeichnete dieses Urteil als angemessen. Sie sei in ihrer beruflichen Laufbahn immer wieder mit solch unfassbaren Taten konfrontiert worden. Oft sei es möglich, sie zu verhindern, betonte die Kinderschutzexpertin: "Diese massiven Formen sexualisierter Gewalt beginnen nicht mit dem Grauen, sondern sie beginnen mit leisen Übergriffen, die schrittweise vorbereitet werden." Kinder würden oft Hinweise darauf geben und Dinge erzählen. Es sei wichtig, dass Menschen, die mit Kindern in Kontakt kämen, diese Hinweise verstehen könnten.
Enders begrüßte zudem das im Juni 2021 beschlossene Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Demnach werden Missbrauchstaten immer als Verbrechen eingestuft und mit mindestens einem Jahr Haft geahndet. Dieser Umstand hätte das öffentliche Bewusstsein für dieses Thema sensibilisiert. "Gerade im Bereich der Jugendlichen erleben wir immer wieder, dass diese auch pornografische Aufnahmen konsumieren oder herstellen und meinen, das wäre halt witzig." Das Gesetz trage dazu bei, dass sie nun wüssten, dass dieses Verhalten strafbar sei.
Das Interview im Wortlaut:
Jonas Reese: Mit langen Haftstrafen ist der Hauptprozess zum Missbrauch in Münster zu Ende gegangen. Darüber habe ich vor der Sendung mit Ursula Enders gesprochen, sie ist von der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen mit dem Namen Zartbitter. Zunächst wollte ich von Frau Enders wissen, wie sie denn das Urteil bewertet.
Ursula Enders: Angemessen, das heißt, jemand, der in dieser Form massiv Kinder missbraucht, der darf eigentlich nicht wieder die Möglichkeiten haben, mit Kindern in Kontakt zu kommen.
"Alle Kinder geben Hinweise auf Missbrauch"
Reese: Es war von unfassbarer Brutalität die Rede. Der vorsitzende Richter hat gesagt, diese Tat übersteigt alles, was dieser Kammer bislang vorgelegt wurde. Wie sind solche Taten zu verhindern?
Enders: Es gibt diese wirklich brutalen Taten immer wieder. Mir sind solche unfassbaren Taten seit Anfang der 90er-Jahre bekannt, als wir massive Fälle im Bereich des organisierten Verbrechens hatten, auch mit Pornoproduktionen. Damals wurden die Filme noch auf Video geladen, also auf Kassetten, und die Kinder mussten sie teilweise selber im Handel auch noch vertreiben.
Wir können das Böse nicht ganz verhindern, aber was wir verhindern können in ganz vielen Fällen, ist, dass es dazu kommt, denn auch diese massiven Formen sexualisierter Gewalt beginnen nicht mit dem Grauen, sondern sie beginnen mit leisen Übergriffen, die schrittweise vorbereitet werden.
Alle Kinder geben Hinweise auf Missbrauch, sie erzählen oft Dinge sogar, wenn man genau zuhört, dass man sie versteht. Und was Sie vor allen Dingen erreichen müssen, ist, dass Menschen, die mit Kindern in Kontakt kommen, diese Hinweise verstehen und früher handeln.
Reese: Das heißt mehr Aufklärung, mehr Schulungen, auch mehr Präventionsmaßnahmen, vielleicht auch mehr Anlaufstellen. Im Juni hat der Bundestag ein neues Gesetz gegen sexuelle Gewalt an Kindern beschlossen, dieser Reform zufolge werden Missbrauchstaten jetzt immer als Verbrechen eingestuft und mit mindestens einem Jahr Haft geahndet. Ist das der richtige Weg, weil die Erfahrung zeigt ja eher, eine Abschreckung in juristischem Sinne, die wirkt ja kaum bis gar nicht?
Enders: Ich glaube, dass es absolut richtig ist, weil in der Vergangenheit waren viele Menschen bereits darüber informiert, dass kinderpornografisches Material existierte. Aber da sie wussten, dass es in der Regel nur eine Geldstrafe gab, wurden die Fälle nicht angezeigt.
Dass die massiven Fälle heute häufiger aufgedeckt werden, hat auch was mit dem anderen öffentlichen Bewusstsein zu tun und hat auch damit zu tun, dass die Menschen dies nicht mehr als Witz oder Scherz ansehen. Gerade im Bereich der Jugendlichen erleben wir immer wieder, dass diese auch pornografische Aufnahmen konsumieren oder herstellen und meinen, das wäre halt witzig. Ich bin ganz sicher, dass auch im Sinne der Täterprävention eben die Strafverfolgung jetzt dazu beiträgt, dass alle wissen, das ist nicht okay.
"Wir müssen Hoffnung vermitteln"
Reese: Sie haben das Stichwort Öffentlichkeit schon genannt. Jetzt in diesem Prozess in Münster ist die Verhandlung weitgehend ohne Öffentlichkeit abgelaufen. Finden Sie das richtig oder müsste man eigentlich viel mehr auch über diese Brutalität vielleicht sprechen, um gerade diese Öffentlichkeit, um diese Sensibilisierung vielleicht auch zu erreichen?
Enders: Der Ausschluss der Öffentlichkeit in Verfahren ist absolut richtig im Sinne des Opferschutzes, er ist auch richtig in der Hinsicht, dass es nicht weiterhilft, wenn die ganze Nation in Angst und Schrecken versetzt wird. Diese extremen Fälle sind nicht die Regel, aber die Regeln sind leise Übergriffe und dann immer eine schrittweise Zunahme.
Wir bei Zartbitter haben diese massiven Formen gar nicht in unsere Öffentlichkeitsarbeit eingebaut, sondern wir haben in den letzten 20 Jahren vielmehr immer wieder Lösungsmöglichkeit dargestellt, wie man Betroffenen helfen kann und auch, wie man präventiv tätig werden kann. Wir müssen Hoffnung vermitteln. Eine geschockte Nation erlahmt, erschrickt und ist handlungsunfähig, und die Menschen müssen verstehen und auch Möglichkeiten sehen, wie wir handeln können.
Reese: Wenn wir jetzt mal uns den Opfern zuwenden: Das Unrecht ist ja jetzt geschehen – wie kann man den Kindern, den Jungen, den Mädchen, die dieser Gewalt ausgesetzt waren, jetzt am besten helfen?
Enders: Durch eine wirklich beschützende Umwelt, durch einen strukturierten normalen Alltag, wo sie nicht auf die Opfererfahrung reduziert werden, durch kompetente traumatherapeutische Angebote. Und das ist so ein Bereich, der mir einfach viel Mut macht. Ich bin ja 40 Jahre in dem Bereich tätig, und ich sehe, wie viel Heilungschancen Kinder eigentlich haben.
Sie haben sie oft nicht, weil die Institutionen versagen und sie ohne Hilfe bleiben, und auch in diesem Fall hätte das Jugendamt und das Familiengericht vorher wahrnehmen können, was dort ist, und in dem Sinne hätte zum Beispiel der Junge, der das meiste hier erlebt hat, nicht derartiger Folter ausgesetzt werden müssen.
"Ich sehe, was sich bewegt, und ich bin optimistisch"
Reese: Haben Sie da den Eindruck, dass da die richtigen Lehren gezogen worden sind?
Enders: Ich bin froh, die letzten Jahre hier noch mitzuerleben, auch noch im Rahmen meiner Tätigkeit, weil gerade in NRW im Grunde eine Aufbruchstimmung ist. Ich bekomme mit, dass die Landesregierung aktiv wird, dass sie was macht, dass sie handeln will. Natürlich dauert das jetzt zwei, drei Jahre, und es ist ganz, ganz schwer auszuhalten, ehe wir ein flächendeckendes Angebot der Hilfe haben, aber ich sehe, was sich bewegt, und ich bin optimistisch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.