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Kindertransporte
Rettung vor dem NS-Regime

Heute vor 75 Jahren ging die "De Praag" in Harwich vor Anker: Es war das erste Schiff, mit dem zwischen 1938 und 1939 etwa 10.000 Kinder vor dem NS-Regime flüchten konnten und in England Zuflucht fanden.

Von Anna Gann |
    "Es waren, ich glaube, etwa 110 Kinder in unserem Transport und mit fünf Erwachsenen, die konnten doch nicht 110 Kinder betreuen. Ich war eine der Ältesten, ich war zwölf, da hat man mir zwei kleine Kinder für den ganzen Weg gegeben. In der Eisenbahn, da gab es solche Netze, oben, wo man das Gepäck hingelegt hat. Und in den zwei Netzen habe ich sie schlafen gelegt in der Nacht. Ich habe immer nur Angst gehabt, sie sollen nicht runterfallen.“
    Die heute 86-jährige Shulamit Amir kam 1939 mit einem Kindertransport von Prag nach England. Es war eine der größten Rettungsaktionen für die Verfolgten des Hitlerregimes: Zwischen Dezember 1938 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 nahm Großbritannien etwa 10.000 jüdische und von den Nazis so genannte „nicht-arische“ Kinder und Jugendliche auf, aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen. Lord Stanley Baldwin, einst Premierminister, hatte nach der Reichspogromnacht 1938 an die Briten appelliert:
    "Ich bitte Sie, den Opfern dieser Katastrophe beizustehen, die keine Naturkatastrophe ist […], sondern ein Ausbruch von Unmenschlichkeit von Menschen gegen ihre Mitmenschen."
    Bei der Planung und Durchführung der Aktion arbeiteten jüdische und christliche Organisationen zusammen. Die erste Fähre erreichte die südenglische Küste am 2. Dezember 1938 um halb sechs Uhr in der Frühe, in kaltem, dichtem Nebel. Die meisten der etwa 200 Kinder kamen aus Berliner Waisenhäusern oder hatten Eltern, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren. In der Tageszeitung „Cambridge News“ war zu lesen:
    "Jungen und Mädchen mit traurigem Blick und gezeichnet von den Schatten ungekannten Kummers seufzten, als sie englischen Boden betraten. [Sie kamen als] eine tragische Fracht über das Meer in fremdes Land […]"
    Die britische Bevölkerung unterstützte die Aktion mit Spenden, viele stellten sich als Pflegeeltern zur Verfügung. Erwachsene durften nicht mit einreisen. So suchte die britische Regierung die Kosten für die Allgemeinheit zu reduzieren und eine Flüchtlingswelle zu verhindern. Viele Eltern entschlossen sich dennoch schweren Herzens, ihre Kinder ins sichere Ausland zu schicken. Die 12-jährige Eva Mosbacher schrieb ihren Eltern in einem Brief direkt nach Abfahrt des Zuges aus Nürnberg:
    "Das Schlimmste wäre jetzt wohl vorüber und ich finde, Ihr habt Euch sehr schön tapfer gehalten. Bei mir ging‘s […] nicht ganz ohne Tränen, so sehr ich mir auch Mühe gab. […] [In Frankfurt] haben wir noch ein paar Abschiede miterlebt, welche furchtbar waren."
    Den Nazis waren die Transporte willkommen. Sie sahen die Auswanderung von Juden zunächst als geeignetes Mittel für ihr menschenverachtendes Ziel, Deutschland „judenfrei“ zu machen. In einem „Schnellbrief“ des Reichsinnenministeriums vom 31. Dezember 1938 an die zuständigen Stellen hieß es:
    "Im Interesse der Förderung der Auswanderung der jüdischen Kinder und Jugendlichen […] [sollen] die Passbehörden umgehend […] [angewiesen werden], Kinderausweise und Reisepässe an die fraglichen Personen mit größtmöglicher Beschleunigung auszustellen."
    Für die meisten Kinder war das Leben in der Fremde anfangs schwer. Viele sprachen kaum Englisch und waren von Heimweh geplagt. Nicht alle wurden von fürsorglichen Pflegeeltern aufgenommen. Manche blieben in Heimen, einige wurden als Arbeitskräfte ausgenutzt. Vor allem aber lebten sie in nagender Ungewissheit über das Schicksal ihrer Familien. Eva Mosbacher drückte in zahlreichen Briefen ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen aus:
    "Ich bin in Gedanken sehr viel bei Euch. Ich spiele immer Theater in Gedanken. Der Titel von dem Stück ist meistens: Wenn ihr hier ankommt."
    Ihren Eltern gelang die Auswanderung nicht, sie wurden 1942 in das Getto Belzyce deportiert. Etliche der Geretteten aus den Kindertransporten litten Zeit ihres Lebens darunter, dass ihre Angehörigen ermordet wurden, während sie selbst in Sicherheit lebten. Shulamit Amir wanderte nach Israel aus, um sich für den Aufbau des Landes zu engagieren, und gründete eine eigene Familie. Die Trennung von ihrer Mutter hat sie bis heute nicht losgelassen.
    "Sie hat das arrangiert und sie hat mir den Koffer gepackt und sie hat mich hingebracht und hat mich weggeschickt. Sie hat mich nicht gefragt, willst du fahren. Aber ich hab‘ mir dann Jahre später habe ich mir doch irgendwie einen Vorwurf gemacht, dass ich sie ganz allein gelassen habe. Es war zwar nicht meine Schuld, aber ich habe mich irgendwie habe ich mich doch beschuldigt.“