Archiv


"Kinderunfreundlich ist Deutschland auf keinen Fall"

Deutschland sei ein kinderentwöhntes Land, sagt der Pressesprecher des Deutschen Kinderhilfswerks, Michael Kruse. Damit sich Paare wieder häufiger für ein Kind entschieden, müssten die gesellschaftlichen Rahmenbedingen verbessert werden.

Michael Kruse im Gespräch mit Jonas Reese |
    Deutschland ist das kinderärmste Land Europas.
    Deutschland ist das kinderärmste Land Europas. (Jan-Martin Altgeld)
    Christoph Heinemann: Trauriger Rekord: Deutschland ist das kinderärmste Land Europas. Nur 16,5 der Bevölkerung sind unter 18 Jahren, im Schnitt der 27 Länder der Europäischen Union liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung bei 19 Prozent. Diese Zahlen hat das Statistische Bundesamt gestern vorgelegt. Darüber hat mein Kollege Jonas Reese mit Michael Kruse vom Deutschen Kinderhilfswerk gesprochen. Erste Frage: Ist Deutschland ein kinderunfreundliches Land?

    Michael Kruse: Nein, das können wir auf keinen Fall sagen. Wir sagen, es ist ein kinderentwöhntes Land, das haben ja die Zahlen auch heute bewiesen, dass es immer weniger Kinder in Deutschland gibt. Die Kinder spüren oft, dass sie nicht erwünscht sind, also Kinder sagen, sie haben wenig Spielmöglichkeiten, sie haben wenig Beteiligungsmöglichkeiten in Deutschland und die Eltern überlegen sich natürlich auch angesichts der Rahmenbedingungen – Betreuungssituation, Infrastruktur, Arbeitslosigkeit –, ob sie überhaupt Kinder haben wollen. Und das wird sehr oft bei vielen jungen Paaren heute in Deutschland diskutiert. Aber kinderunfreundlich ist Deutschland auf keinen Fall.

    Jonas Reese: Wie kann man das Land denn wieder an Kinder gewöhnen?

    Kruse: Man kann sie daran gewöhnen, indem man zum Ersten eine bessere Betreuungssituation schafft, also das, was sicherlich mal gut angefangen ist in der DDR, muss auf jeden Fall fortgesetzt werden, aber, das ist ganz wichtig, natürlich auch im westlichen Teil unseres Landes, der zügige Ausbau der Betreuungssituation, und damit einhergehend ist erforderlich eine besondere Qualifizierung und Weiterbildungsmöglichkeit für die Erzieher und Erzieherinnen in Deutschland. Wir haben beispielsweise hier in Berlin das Problem, dass verzweifelt Erzieher und Erzieherinnen gesucht werden, und zwar qualifizierte Leute, die mit Kindern und Kleinkindern umgehen können und so natürlich auch Perspektiven schaffen, in unserer Gesellschaft mitzubekommen, wie kinderfreundlich Deutschland sein kann. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Dann denke ich noch mal daran, dass der Unterschied zwischen den anderen europäischen Ländern und Deutschland ist, dass oft das Geld, was ja vorhanden ist – wir leben ja in einem der reichsten Staaten der Erde –, nicht der Infrastruktur zugute kommt, also dem Ausbau der Betreuungssituation, sondern oft ist es eine direkte Transferleistung von Geld an die Betroffenen – die es sicherlich brauchen, aber andere Länder wie beispielsweise Frankreich oder auch unsere skandinavischen Nachbarn haben da schon viel weitergedacht und bessere Betreuungsbedingungen geschafft, was natürlich auch insbesondere Alleinerziehenden die Möglichkeit verschafft, sich stärker um ihre Kinder zu kümmern, sie gut untergebracht zu wissen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen dafür geschaffen sind in Deutschland.

    Reese: Das ist ja schon im Gange, 50.000 Plätze pro Jahr entstehen neu in Deutschland. Ist das denn zu wenig?

    Kruse: Das ist in den alten Bundesländern auf jeden Fall zu wenig. Da müssen Sie ja oft schon, wenn Sie Ihre Kinder geboren haben, schon auf die Warteliste gesetzt werden. In den neuen Bundesländern denke ich, dass es gut vorangekommen ist, also dass wir den Ausbau weiterhin begleiten sollten.

    Reese: Das heißt, die Politik ist da noch mehr in der Pflicht?

    Kruse: Die Politik insbesondere in den alten Bundesländern ist in der Pflicht, aber auch die Ausbildungssituation, was ich angesprochen habe, nämlich, diese Erzieher und Erzieherinnen zu qualifizieren. So fordern wir beispielsweise vom Deutschen Kinderhilfswerk aus frühzeitige Medienkompetenz, Sprachkompetenz, insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund – dieses beides können Sie aber nur schaffen, wenn es gelingt, die Erzieherinnen und Erzieher entsprechend zu qualifizieren und auszubilden, ein Bildungsprogramm, das diese Menschen stärker qualifiziert, als es das bisher tut.

    Reese: Inwieweit ist denn die Geburtenrate überhaupt politisch zu manipulieren oder zu befeuern? Ist es nicht eher ein gesellschaftliches Phänomen, was die Politik nur begleiten kann?

    Kruse: Selbstverständlich, das kann Politik nicht leisten, also sich auf die Fahnen zu schreiben, wie es die frühere Bundesjugendministerin Frau Dr. von der Leyen gemacht hat, wir erhöhen die Geburtenquote – das hat nicht funktioniert und wird auch nie funktionieren. Das ist jeweils eine individuelle Entscheidung, die natürlich durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen begleitet wird. Und wenn die Menschen spüren, dass Kinder nicht gewünscht sind – nehmen sie die aktuelle Debatte noch, die wir vor ein paar Tagen noch geführt haben über Kinderlärm: Das ist eine Debatte, die nicht geführt werden muss. Kinderlärm ist Zukunftsmusik, und die gehört in unsere Gesellschaft. Und da müssen Signale ausgehen von Politik, auch von Länderebene, von den Bürgermeistern, dass Kinderfreundlichkeit ein Standortfaktor in unserer Gesellschaft wird.

    Reese: Welche gesellschaftlichen Ursachen kann es denn Ihrer Meinung nach noch haben, dass Deutschland am Schluss steht in der EU, was den Kinderanteil in der Gesellschaft betrifft?

    Kruse: Wir beobachten das ja in vielen europäischen Ländern, das ist beispielsweise in Spanien so, das ist in Italien so, dass sich die Menschen aufgrund der wirtschaftlichen Gesamtlage … aktuelle Haushaltsdebatte in den USA schwappt natürlich auch hier rüber und führt die Menschen dazu, sich zu überlegen, wie ihre Zukunft aussehen soll, mit einem Kind, mit zwei Kindern oder sogar mit drei Kindern. Das ist immer eine individuelle Entscheidung, aber die durch gesellschaftliche Probleme wie die Wirtschaftskrisen, wie Hungersnot in anderen Ländern mit beeinflusst werden. Und Politik kann da nur die Rahmenbedingungen setzen, und die kann mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft schaffen, sie kann Migrantenkinder insbesondere ganz gezielt fördern, und, ganz wichtig, ein gesundes Aufwachsen ermöglichen, gesunde Ernährung, einen Schulranzen für jedes Kind, da ist ja das Deutsche Kinderhilfswerk sicher gut aufgestellt. Und in diesem Rahmen denke ich, dass es notwendig ist, da noch stärker in die einzelnen Kommunen hineinzugehen und dort mehr und bessere Bildungsangebote für Kinder zu schaffen, denn Bildung ist das A und O einer Gesellschaft. Wenn wir unsere Kinder nicht gut ausbilden, dann haben wir weniger Perspektiven und weniger Zukunft.

    Reese: Sie haben die anderen Länder schon angesprochen. Was können wir denn von denen konkret lernen, was machen die besser?

    Kruse: Was sie eindeutig besser machen ist die Infrastruktur, dass die Kinder in einer Infrastruktur aufwachsen, im Kindergarten, in der Schule, die ganz eindeutig stärker kinderfreundlicher ist, dass mehr Angebote in den Nachbarländern bereitgestellt werden, sodass es Eltern auch leichter gemacht wird, Kinder zu gebären, wenn sie spüren, dass a) ihre Kinder gewünscht sind in einer Gesellschaft, und b) sie selber ihre Jobchancen, die sie haben, auch umsetzen können. Da sind unsere Nachbarländer uns weit voraus, und das führt dann eben auch in anderen südeuropäischen Ländern dazu, dass die Kinderzahl doch massiv zurückgegangen ist.

    Heinemann: Michael Kruse vom Deutschen Kinderhilfswerk im Gespräch mit meinem Kollegen Jonas Reese.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.