Kann man heutzutage noch ein Epos schreiben? Und wie umfassend lässt sich von der Liebe erzählen, von einem Kinderwunsch oder vom Krieg? Oder davon, dass selbst die Auswüchse menschlicher Grausamkeit ein Teil dieses Lebens sein können und wie man lernt, sie wahrzunehmen, ohne die eigene Aufrichtigkeit zu verlieren.
"Von dem, was uns fehlt, genesen wir nie."
Heißt es im neuen Roman von Margaret Mazzantini, und der Satz hat den Charakter eines Leitmotivs. Die italienische Autorin befasst sich mit großen Themen, mutig genug, davon lebhaft und emotional in einer ausladenden Konstruktion zu erzählen.
Die 700-seitige Geschichte beginnt so: Gemma bricht mit ihrem Sohn Pietro auf, um nach Sarajevo zu reisen, wo der Junge vor 16 Jahren "zur Welt gekommen" ist. "Venuto al mondo" lautet der Titel im Original, und er trifft das Wesen dieser Geburt im Jahr 1992 am Beginn des Jugoslawienkriegs viel genauer - es ist der Kern der Geschichte.
Mutter und Sohn reisen also in die noch vom Krieg gezeichnete Stadt, um sich eine Foto-Ausstellung über die Belagerung Sarajevos anzusehen. Die Fotos stammen von dem Genueser Fotografen Diego - Gemmas große Liebe und Pietros Vater. Doch Diego ist tot. Im heimischen Rom ist für den halbwüchsigen Pietro Giuliano sein Vater, etwas anderes kann und will er sich nicht vorstellen.
Diese Reise der Hoffnung bildet die Rahmen-Geschichte, ein starker Bogen, unter dem viele Episoden Platz haben und der bis zum Schluss stabil bleibt, trotz Wendungen und Erschütterungen in Gemmas Leben und im Bosnienkrieg.
Die Liebesgeschichte zwischen Gemma und Diego beginnt viel früher, 1984, während der Olympischen Winterspiele in Sarajevo, wo sie als Journalisten akkreditiert sind. Gemma wird von Gojko, ihrem Fremdenführer, dem verrückten jungen Fotografen aus Genua vorgestellt. Gojko, ein typischer Bosnier, schreibt Gedichte und ist eigentlich in Gemma verliebt. Diego, der dünnbeinige Italiener, fotografiert Pfützen und wirkt wie ein kleiner Junge.
Und Gemma? Sie steht kurz vor ihrer Hochzeit. Doch die Liebe ist schneller. Im Bett von Gojkos Mutter, die gerade selbst nochmal Mutter geworden ist und eine kleine Sebina bekommen hat, verbringen Gemma und Diego ihre erste Nacht, die Diego so kommentiert:
"Du wirst mir zeitlebens fehlen."
Das Motiv des Fehlens, der Abwesenheit durchzieht den Roman wie eine dunkle Stimme. Pietro wächst ohne seinen leiblichen Vater auf, und auch der verlor seinen eigenen Vater früh. Fotografierend setzt Diego sich mit der Welt auseinander, indem er etwas aufnimmt, das die eigentlichen Motive nur widerspiegelt: Die realen Personen fehlen auf den Fotos, nur Spuren, Schatten und Abdrücke sind zu sehen.
Und Gemma, die tatsächlich heiratet, um sich bald wieder von dem Mann zu trennen, um fest mit dem jungen, genialen, aber zerbrechlichen Diego zusammenzuleben, hat in ihrem Leben auch eine Leerstelle: Sie wünscht sich ein Kind, ein Kind mit Diegos dünnen Beinen und seinem Nacken. Aber der Wunsch geht nicht in Erfüllung, sondern führt die beiden wieder nach Sarajevo, dorthin, wo sie der Freund Gojko vor Jahren schon geschickt zusammenführte - bei der Taufe seiner kleinen Schwester, Sebina.
An den Ort also, wo ihre Geschichte begann und an dem sie nun, während der Belagerung, zu enden scheint. Und den Menschen dort fehlt es an allem, nur nicht an Würde.
Als der Krieg ausbricht, sieht Gemma in einem einzigen TV-Bild die ganze Tragödie:
"Ein schnell laufender Mann mit einem Kind auf dem Arm ist von hinten zu sehen. Die Kamera folgt diesem Lauf. Das Kind ist schlaff, seine Beine schlenkern wie die einer Puppe. Womöglich ist es verletzt, und sein Vater hastet zum Krankenhaus. Man sieht ein Stückchen vom Hintern des Mannes, und das starre ich an. Er hat keinen Gürtel in den Hosen, vielleicht hatte er geschlafen. Und sich in großer Eile angezogen. Ich starre auf dieses Detail, auf die rutschenden Hosen und auf die Hand, die versucht sie festzuhalten, so gut es geht."
Die Szene steht emblematisch für die aufrechte Haltung, die alle Figuren des Romans, besonders die Nebenfiguren einnehmen. Nur der Erzählerin selbst gelingt es nicht, ihre Lebenssituation so anzunehmen, dass sich Ruhe oder vielleicht Glück einstellt. Acht Jahre führt sie mit Diego ein unkonventionelles Leben in Rom und auf Reisen, doch ihr wachsender unerfüllter Kinderwunsch entfernt das Paar voneinander. Gemma begreift ihre Unfruchtbarkeit als Makel, sieht sich als minderwertig an und versucht gleichzeitig, ihren Mann damit an sich zu binden, wie sie selbstkritisch bemerkt.
Diego geht einen langen Weg mit ihr, bis in die Ukraine, auf der Suche nach einer Leihmutter, doch die fortgeschrittene Entfremdung tritt grotesk zu Tage. Auf dem Rückweg besuchen die beiden ihren Freund Gojko in Sarajevo, wo sich der Krieg ankündigt. Gojko macht sie mit Aska bekannt, einer jungen, begabten Trompeterin mit Punk-Allüren. Sie will weg aus der Stadt und stellt sich für viel Geld als Leihmutter zur Verfügung.
Als die drei zu den Voruntersuchungen gehen, hat die Arztpraxis unter den ersten Angriffen bereits geschlossen. Es wird der letzte gemeinsame Gang von Gemma und Diego sein - der verliert sich immer mehr in der Stadt, im heraufziehenden Krieg und - bei Aska.
Erst die Engführung der Erzählstränge am Schluss des großen Roman-Epos gibt preis, was mit Diego passiert ist und welches Geheimnis sich hinter Pietros Zur-Welt-kommen verbirgt - überraschend für den Leser wie für die Protagonistin.
Der Roman erzählt wunderbare Einzelgeschichten - die Freundschaft zwischen Diego und Gemmas sanftem Vater, zu Sebina oder zu dem alten Paar, bei dem sie in der Schreckenszeit der Belagerung unterkommen. Krieg und Frieden bilden zwei Pole: die verweichlichte Welt der unaufrichtigen Zivilisationsgesellschaft, getrieben von Zeitnot, und die mentale Stärke und das Gefühl der Zusammengehörigkeit im Krieg, dessen Sinnlosigkeit brutal ins Alltägliche hineingreift. Dabei stellt die erzählerische Verschränkung von Kinderwunsch und Kriegsmotiv eine gewagte Konstruktion von ganz eigener ethischer Kraft dar.
Das Tempo der bildreichen Sprache ist schnell, "molto mosso", mitunter auch hart, fast journalistisch und sehr dicht am Geschehen - wie bei der Beschreibung der Scharfschützen oben in den Bergen, die zum Spaß auf einzelne Körperteile zielen oder junge Menschen erschießen, die älteren helfen.
Margaret Mazzantinis Roman wirkt wie hohes Fieber, aus dem man benommen erwacht, erschöpft von der Menge an Bildern, an Gefühlen, an Leid und Leben. Er ist hochfliegend und bescheiden, er ist überzeugend und absolut lesenswert.
Margaret Mazzantini: "Das schönste Wort der Welt".
Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger, DuMont Verlag Köln, 699 Seiten, 22,99 Euro.
"Von dem, was uns fehlt, genesen wir nie."
Heißt es im neuen Roman von Margaret Mazzantini, und der Satz hat den Charakter eines Leitmotivs. Die italienische Autorin befasst sich mit großen Themen, mutig genug, davon lebhaft und emotional in einer ausladenden Konstruktion zu erzählen.
Die 700-seitige Geschichte beginnt so: Gemma bricht mit ihrem Sohn Pietro auf, um nach Sarajevo zu reisen, wo der Junge vor 16 Jahren "zur Welt gekommen" ist. "Venuto al mondo" lautet der Titel im Original, und er trifft das Wesen dieser Geburt im Jahr 1992 am Beginn des Jugoslawienkriegs viel genauer - es ist der Kern der Geschichte.
Mutter und Sohn reisen also in die noch vom Krieg gezeichnete Stadt, um sich eine Foto-Ausstellung über die Belagerung Sarajevos anzusehen. Die Fotos stammen von dem Genueser Fotografen Diego - Gemmas große Liebe und Pietros Vater. Doch Diego ist tot. Im heimischen Rom ist für den halbwüchsigen Pietro Giuliano sein Vater, etwas anderes kann und will er sich nicht vorstellen.
Diese Reise der Hoffnung bildet die Rahmen-Geschichte, ein starker Bogen, unter dem viele Episoden Platz haben und der bis zum Schluss stabil bleibt, trotz Wendungen und Erschütterungen in Gemmas Leben und im Bosnienkrieg.
Die Liebesgeschichte zwischen Gemma und Diego beginnt viel früher, 1984, während der Olympischen Winterspiele in Sarajevo, wo sie als Journalisten akkreditiert sind. Gemma wird von Gojko, ihrem Fremdenführer, dem verrückten jungen Fotografen aus Genua vorgestellt. Gojko, ein typischer Bosnier, schreibt Gedichte und ist eigentlich in Gemma verliebt. Diego, der dünnbeinige Italiener, fotografiert Pfützen und wirkt wie ein kleiner Junge.
Und Gemma? Sie steht kurz vor ihrer Hochzeit. Doch die Liebe ist schneller. Im Bett von Gojkos Mutter, die gerade selbst nochmal Mutter geworden ist und eine kleine Sebina bekommen hat, verbringen Gemma und Diego ihre erste Nacht, die Diego so kommentiert:
"Du wirst mir zeitlebens fehlen."
Das Motiv des Fehlens, der Abwesenheit durchzieht den Roman wie eine dunkle Stimme. Pietro wächst ohne seinen leiblichen Vater auf, und auch der verlor seinen eigenen Vater früh. Fotografierend setzt Diego sich mit der Welt auseinander, indem er etwas aufnimmt, das die eigentlichen Motive nur widerspiegelt: Die realen Personen fehlen auf den Fotos, nur Spuren, Schatten und Abdrücke sind zu sehen.
Und Gemma, die tatsächlich heiratet, um sich bald wieder von dem Mann zu trennen, um fest mit dem jungen, genialen, aber zerbrechlichen Diego zusammenzuleben, hat in ihrem Leben auch eine Leerstelle: Sie wünscht sich ein Kind, ein Kind mit Diegos dünnen Beinen und seinem Nacken. Aber der Wunsch geht nicht in Erfüllung, sondern führt die beiden wieder nach Sarajevo, dorthin, wo sie der Freund Gojko vor Jahren schon geschickt zusammenführte - bei der Taufe seiner kleinen Schwester, Sebina.
An den Ort also, wo ihre Geschichte begann und an dem sie nun, während der Belagerung, zu enden scheint. Und den Menschen dort fehlt es an allem, nur nicht an Würde.
Als der Krieg ausbricht, sieht Gemma in einem einzigen TV-Bild die ganze Tragödie:
"Ein schnell laufender Mann mit einem Kind auf dem Arm ist von hinten zu sehen. Die Kamera folgt diesem Lauf. Das Kind ist schlaff, seine Beine schlenkern wie die einer Puppe. Womöglich ist es verletzt, und sein Vater hastet zum Krankenhaus. Man sieht ein Stückchen vom Hintern des Mannes, und das starre ich an. Er hat keinen Gürtel in den Hosen, vielleicht hatte er geschlafen. Und sich in großer Eile angezogen. Ich starre auf dieses Detail, auf die rutschenden Hosen und auf die Hand, die versucht sie festzuhalten, so gut es geht."
Die Szene steht emblematisch für die aufrechte Haltung, die alle Figuren des Romans, besonders die Nebenfiguren einnehmen. Nur der Erzählerin selbst gelingt es nicht, ihre Lebenssituation so anzunehmen, dass sich Ruhe oder vielleicht Glück einstellt. Acht Jahre führt sie mit Diego ein unkonventionelles Leben in Rom und auf Reisen, doch ihr wachsender unerfüllter Kinderwunsch entfernt das Paar voneinander. Gemma begreift ihre Unfruchtbarkeit als Makel, sieht sich als minderwertig an und versucht gleichzeitig, ihren Mann damit an sich zu binden, wie sie selbstkritisch bemerkt.
Diego geht einen langen Weg mit ihr, bis in die Ukraine, auf der Suche nach einer Leihmutter, doch die fortgeschrittene Entfremdung tritt grotesk zu Tage. Auf dem Rückweg besuchen die beiden ihren Freund Gojko in Sarajevo, wo sich der Krieg ankündigt. Gojko macht sie mit Aska bekannt, einer jungen, begabten Trompeterin mit Punk-Allüren. Sie will weg aus der Stadt und stellt sich für viel Geld als Leihmutter zur Verfügung.
Als die drei zu den Voruntersuchungen gehen, hat die Arztpraxis unter den ersten Angriffen bereits geschlossen. Es wird der letzte gemeinsame Gang von Gemma und Diego sein - der verliert sich immer mehr in der Stadt, im heraufziehenden Krieg und - bei Aska.
Erst die Engführung der Erzählstränge am Schluss des großen Roman-Epos gibt preis, was mit Diego passiert ist und welches Geheimnis sich hinter Pietros Zur-Welt-kommen verbirgt - überraschend für den Leser wie für die Protagonistin.
Der Roman erzählt wunderbare Einzelgeschichten - die Freundschaft zwischen Diego und Gemmas sanftem Vater, zu Sebina oder zu dem alten Paar, bei dem sie in der Schreckenszeit der Belagerung unterkommen. Krieg und Frieden bilden zwei Pole: die verweichlichte Welt der unaufrichtigen Zivilisationsgesellschaft, getrieben von Zeitnot, und die mentale Stärke und das Gefühl der Zusammengehörigkeit im Krieg, dessen Sinnlosigkeit brutal ins Alltägliche hineingreift. Dabei stellt die erzählerische Verschränkung von Kinderwunsch und Kriegsmotiv eine gewagte Konstruktion von ganz eigener ethischer Kraft dar.
Das Tempo der bildreichen Sprache ist schnell, "molto mosso", mitunter auch hart, fast journalistisch und sehr dicht am Geschehen - wie bei der Beschreibung der Scharfschützen oben in den Bergen, die zum Spaß auf einzelne Körperteile zielen oder junge Menschen erschießen, die älteren helfen.
Margaret Mazzantinis Roman wirkt wie hohes Fieber, aus dem man benommen erwacht, erschöpft von der Menge an Bildern, an Gefühlen, an Leid und Leben. Er ist hochfliegend und bescheiden, er ist überzeugend und absolut lesenswert.
Margaret Mazzantini: "Das schönste Wort der Welt".
Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger, DuMont Verlag Köln, 699 Seiten, 22,99 Euro.