Archiv

Kindesmissbrauch
Das große Schweigen

Nach Ansicht des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, ist sexuelle Gewalt gegen Kinder in vielen Institutionen noch immer ein Thema, über das nicht gesprochen wird. "Da setzen schnell Verdrängungsmechanismen ein", sagte Rörig im Dlf. Es brauche mehr Schutzkonzepte.

Johannes-Wilhelm Rörig im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
    Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (picture alliance/ dpa/ Britta Pedersen)
    Stefan Heinlein: Das Weltfamilientreffen der Katholischen Kirche, alle drei Jahre ein wichtiges Forum für Christen aus aller Welt, diesmal in Irland. Zehntausende Menschen aus mehr als 100 Ländern haben sich diese Woche dort versammelt, um zu diskutieren, zu feiern und zu beten. Jetzt, zum Abschluss und zum Höhepunkt, reist Papst Franziskus auf die Grüne Insel – kein einfacher Besuch für den Pontifex. Das einst erzkatholische Land erlebt eine tiefe Glaubenskrise. Hunderte Kinder und Jugendliche wurden über Jahre von Priestern und Nonnen sexuell missbraucht – Verbrechen, die von der Amtskirche systematisch vertuscht und verheimlicht wurden. Trotz der beginnenden Aufarbeitung und einer neuen Null-Toleranz-Linie des Vatikan wird sich der Papst in Dublin vielen kritischen Fragen stellen müssen.
    Über den schwierigen Papstbesuch in Irland und das Thema Missbrauch in Institutionen möchte ich jetzt sprechen mit Johannes-Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Guten Morgen, Herr Rörig.
    Johannes-Wilhelm Rörig: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein.
    Heinlein: Wir haben es gehört: Missbrauch und Vertuschung von Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche in Irland. Welchen Stellenwert hat jetzt der Papstbesuch an diesem Wochenende für die Aufarbeitung dieser Vergangenheit?
    Rörig: Es könnte sein, dass wir im Moment wirklich einen historischen Moment der Katholischen Kirche erleben. Der Papst hat ja in einem Brief an die Katholische Kirche in dieser Woche die unvorstellbare Dimension der Gräueltaten von katholischen Geistlichen so klar benannt wie noch kein Papst zuvor. Und ich hoffe sehr (und ich bin da bestimmt nicht allein), dass der Papst jetzt mit anderen in der Katholischen Kirche ein neues Kapitel im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen aufschlägt und ein neues Kapitel für die umfassende Aufklärung von Sexualverbrechen im katholischen Kontext.
    "Der entscheidende Punkt für eine Kehrtwende"
    Heinlein: Haben Sie den Eindruck, dieser Papst steht tatsächlich an der Seite der Opfer und versucht, nicht mehr wie in der Vergangenheit viele seiner Vorgänger, viele Bischöfe auch, die Täter zu schützen?
    Rörig: Ich habe da jetzt im Moment eigentlich eine große Hoffnung. Wir müssen sehen, das ist eben im Bericht auch angesprochen worden: Es gibt ja einen sehr, sehr langen Vorlauf, über 20 Jahre, wenn man an Boston denkt, an den Film "Spotlight", wo der Missbrauch in der Katholischen Kirche so gut dargestellt wurde, England, Australien, Deutschland, Chile. Es geht ja um zehntausende von Opfern sexueller Gewalt. Ich glaube, jetzt ist der entscheidende Punkt für eine Kehrtwende, für umfassende Aufarbeitung und Aufklärung der Sexualverbrechen im kirchlichen Kontext.
    Heinlein: Was macht Sie so zuversichtlich, dass das jetzt tatsächlich eine Zeitenwende ist in der Katholischen Kirche mit Blick auf den Umgang mit Kindesmissbrauch?
    Rörig: Na ja. Ich habe eben gesagt, vielleicht ein historischer Moment. Es kommt jetzt maßgeblich darauf an und nur dann ist es eine Kehrtwende, wenn die Katholische Kirche einen neuen Umgang im Umgang mit Missbrauchsopfern findet, also mit den Menschen, die in der Kirche vergewaltigt, erniedrigt und beschmutzt worden sind. Die Kirche muss verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und sie darf die Betroffenen nicht mehr als Bittsteller sehen, die Kirche stört und den Ruf der Kirche beschädigt. Die unabhängige Aufarbeitungskommission, die ich 2016 eingesetzt habe hier bei der Bundesregierung, sagt: Die Kirche muss den Betroffenen auf Augenhöhe begegnen und die Kirche muss den Betroffenen auch eine Zukunftsorientierung geben. Das finde ich so wichtig. Das hören wir so in den Anhörungen der Betroffenen immer wieder. Menschen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, haben oft Bildungs- und Erwerbsabbrüche. Das sind schwere Folgen auch des Missbrauchs, neben den psychologischen Folgen, und da wäre es wichtig, wenn da die Kirche sich bereit erklärt, Unterstützung zum Ausgleich der Nachteile zu leisten.
    "Häufig nur Minimallösungen"
    Heinlein: Herr Rörig, die Aufklärung, die Aufarbeitung der Vergangenheit, das ist ja das eine. Aber es geht ja auch um die Verhinderung von Missbrauch in Zukunft, und da gibt es ja durchaus auch strukturelle Probleme, nicht nur in der Kirche, sondern auch in anderen Institutionen. Welche Probleme sind das und wie kann man das verhindern?
    Rörig: Es ist leider heute immer noch so, dass viele sich hinter dem Tabu verstecken. Sie wollen über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen nicht reden. Die Verdrängungsmechanismen setzen da sehr schnell ein. Der Runde Tisch sexueller Kindesmissbrauch hat im Jahr 2011 uns allen empfohlen, dass in allen Einrichtungen, in denen Kinder Erwachsenen anvertraut sind, Schutzkonzepte eingeführt werden. Da sind wir im Moment auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Es ist so, dass häufig nur kleine Minimallösungen eingesetzt werden, um den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu gewinnen. Wir müssen aber mit Maximallösungen arbeiten. Wir brauchen in den Schulen beispielsweise – ich habe da eine Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" auf den Weg gebracht, mit allen 16 Bundesländern übrigens -, wir brauchen in den Schulen funktionierende Beschwerdesysteme. Die Fachkräfte müssen fortgebildet sein zu sexuellem Missbrauch, so dass sie die Signale der Kinder auch erkennen und den betroffenen Kindern Wege zur Hilfe aufzeigen können.
    Heinlein: Reden wir, Herr Rörig, noch ein wenig über die strukturellen Ursachen von Kindesmissbrauch: Missbrauch in Kirchen, in Vereinen. Welche strukturellen Probleme sind das? Sind das vor allem strukturelle Probleme in Institutionen mit strengen Hierarchien?
    Rörig: Ja, da sprechen Sie genau den richtigen Punkt an. Vor allen Dingen sind es Macht- und Abhängigkeitsstrukturen. Die sind natürlich in der Kirche besonders stark ausgeprägt durch die herrschende Stellung der Geistlichen, auch durch die körperliche geistige Nähe bei Zeremonien oder in der Seelsorge, bei der Beichte beispielsweise. Es ist auch so, dass oft in Institutionen, in denen Missbrauch stattfindet, keine gute Beschwerdekultur besteht und das Thema Sexualität tabuisiert ist, zum Beispiel Sprachlosigkeit zu sexueller Gewalt besteht.
    "Mit den Augen der Täter schauen"
    Heinlein: Was muss sich ganz praktisch, Herr Rörig – helfen Sie uns da weiter -, ändern, damit Kindesmissbrauch in diesen Institutionen verhindert werden kann?
    Rörig: Na ja. Bezogen auf die Katholische Kirche braucht es jetzt dringend eine innerkirchliche Klärung. Sie müssen selbst in der Katholischen Kirche, aber das gilt auch für alle anderen Institutionen, klären, welche Verhaltensweisen, Regeln und Strukturen ermöglichen bei uns sexuellen Kindesmissbrauch. Man muss in jeder Struktur eine Risikoanalyse vornehmen, muss mit den Augen der Täter schauen, wo gibt es Grauzonen, wo könnten die perfiden Täterstrategien aufgehen. Wenn man diesen Schritt gegangen ist, hat man schon ganz viel erreicht, weil dann kann man darauf die Schutzmaßnahmen und die Hilfemaßnahmen für Mädchen und Jungen aufsetzen.
    Heinlein: Herr Rörig, der Versuch der Vertuschung – das war ja jahrelang ein Prinzip in der Katholischen Kirche, auch außerhalb der Katholischen Kirche -, ist das typisch für den Umgang vieler Institutionen mit dem Thema Missbrauch? Man versucht, den Namen rein zu halten, auch auf Kosten der Aufklärung und letztendlich dann auf dem Rücken der Opfer.
    Rörig: Es war tatsächlich so, und das ist ja in Ihrem Bericht eben auch angesprochen worden, dass jahrelang der Ruf einer Institution unberechtigterweise über das Leid und das Unrecht, was Betroffenen angetan wurde, gestellt wurde. Davon müssen sich alle Institutionen, die Katholische Kirche, aber auch der organisierte Sport beispielsweise und auch Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und der schulische Bereich verabschieden. Man muss proaktiv aufarbeiten und wir brauchen proaktive Präventionsmaßnahmen, und ich sage immer, wir brauchen auch unbedingt kinderschutzfreundliche Finanzminister in Deutschland. Schutz und Hilfe ist nicht zum Nulltarif zu erreichen. Da muss zusätzliches Geld und zusätzliches Personal auf allen Ebenen, auf der Bundesebene, auf der Landesebene und der kommunalen Ebene, aber auch im Bereich der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt werden.
    "Wir haben schon verstärkte Sensibilität in Deutschland"
    Heinlein: Aber gibt es das noch, Herr Rörig, in unserer Gesellschaft, in den Vereinen, in den Institutionen, dieses Schweigegelübde, dieses Motto "Stell Dich nicht so an, das war nicht so schlimm, vergiss es, lass uns nicht darüber reden"? Gibt es dieses Schweigegelübde auch in Vereinen oder anderen Institutionen?
    Rörig: Wir haben schon eine verstärkte Sensibilität in Deutschland zu dem Thema sexuelle Gewalt. Aber vor Ort in den einzelnen Strukturen herrscht immer noch das große Schweigen und deswegen wollen wir jetzt auch eine bundesweite Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne starten. Da bin ich mit Bundesministerin Giffey im Gespräch im Moment, um den Menschen zu erklären, wie schlimm es ist, wenn man sich hinter dem Tabu versteckt, dass das Qual und Martyrium für Kinder und Jugendliche bedeutet. Jeder muss wissen, was sexuelle Gewalt ist und was man tun muss, wenn Vermutung und Verdacht im Raum steht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.