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Kindesmissbrauch in Lügde
Ganzke (SPD): "Keine Panne, sondern ein Ermittlungschaos"

Die Bevölkerung habe keine Erklärung mehr für die jüngsten Versäumnisse im Fall Lügde, sagte der nordrhein-westfälische SPD-Innenpolitiker Hartmut Ganzke im Dlf. Um Vertrauen zurückzugewinnen, forderte er den Rücktritt von Landesinnenminister Herbert Reul (CDU). Ein Untersuchungsausschuss rücke immer näher.

Hartmut Ganzke im Gespräch mit Ute Meyer |
Eine Polizeibeamtin einer Spezialeinheit trägt einen sichergestellten Monitor aus der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde.
Durchsuchungen auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde - nun wurde zum wiederholten Mal verdächtiges Material gefunden: Nach bisher CDs und Disketten noch elf Videocassetten. (picture alliance / dpa / Guido Kirchner)
Ute Meyer: Der Fall des massenhaften Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde sorgt für immer neue Schlagzeilen. Anscheinend hat es schon wieder eine Ermittlungspanne gegeben. Der Abrissunternehmer, der den Dauercampingplatz des mutmaßlichen Haupttäters räumen soll, hat gestern zum wiederholten Mal verdächtiges Material gefunden: Erst CDs und Disketten, gestern dann noch elf Videocassetten. Außerdem haben Reporter die Ermittler darauf aufmerksam gemacht, dass ein kleiner Schuppen am Rande des Geländes noch gar nicht untersucht worden ist. Diese Versäumnisse der Polizei sind nicht die einzigen im Fall Lügde. Zur Erinnerung: Während der Ermittlungen ist der Polizei bereits ein Koffer mit CDs abhandengekommen - aus einem Büro. Einer, der den Dienstherrn der Polizei, den Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, deshalb scharf kritisiert, ist Hartmut Ganzke, SPD-Abgeordneter im NRW-Landtag und Sprecher des Innenausschusses. Herr Ganzke, Sie haben gestern in einer ersten Reaktion gesagt, das sind schon keine Pannen mehr bei der Ermittlungsarbeit. Was ist es dann für Sie?
Hartmut Ganzke: Das ist für mich ganz klar ein Ermittlungschaos. Wenn wir das Wort "Panne" hören, dann ist das vielleicht ein kleiner "Betriebsunfall". In diesem Fall sind es jetzt schon so viele Pannen und wir als SPD-Opposition weigern uns, von weiteren Pannen zu reden. Das ist schon ein Ermittlungschaos, was hier dem Innenminister vor die Füße fällt.
"Größter Kindesmissbrauchsskandal in Nordrhein-Westfalen"
Meyer: Die Polizei hat sich gestern erst mal verteidigt. Die Tatorte seien aufwendig untersucht worden und man habe auch keine Veranlassung gehabt, tagelang Beamte abzustellen, die nun auch noch die Abrissarbeiten begleiten. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Ganzke: Das ist für mich in keiner Art und Weise nachvollziehbar. Wenn wir uns erinnern, wo Polizeibeamte oftmals übers Wochenende eingesetzt sind; da versucht man sich jetzt zu verteidigen, dass kein Polizeibeamter, keine Polizeibeamtin vor Ort war. Ich frage: Es geht um den größten Kindesmissbrauchsskandal in Nordrhein-Westfalen, und da schafft die Polizei es nicht, Kolleginnen und Kollegen abzustellen, um die Abrissarbeiten zu überwachen? Das ist der Skandal.
Meyer: Aber wie kann das sein? Ich meine, Sie sind im nordrhein-westfälischen Landtag Mitglied im Innenausschuss und von daher öfter auch mal mit Angelegenheiten der Polizei befasst.
Ganzke: Ja.
"Pannen können immer geschehen"
Meyer: Haben Sie eine Erklärung für dieses Chaos?
Ganzke: Leider nein. Ich habe überhaupt keine Erklärung dafür, und das ist auch das, was ich gespiegelt bekomme von Bürgerinnen und Bürgern. Auch die haben keine Erklärung mehr dafür. Damit das klar ist: Pannen können immer geschehen. Die geschehen in jeder politischen Arbeit und in jedem Job, den man macht, geschehen Pannen. Aber in dieser Häufigkeit, über so viele Wochen immer wieder diese Pannen, das führt dazu, dass das ein Chaos ist, und das führt dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger das auch nicht mehr verstehen.
Meyer: Sie fordern jetzt seit dem Wochenende den Rücktritt des obersten Dienstherrn der Polizei, des Innenministers Herbert Reul von der CDU. Was soll so ein Rücktritt bringen?
Ganzke: Ich glaube, der Rücktritt von Herbert Reul ist notwendig, damit die Bevölkerung wieder Vertrauen in die Aufklärungsarbeit der Polizei erreicht. Herr Reul hat die Messlatte sehr hoch gelegt. Er hat Erwartungen geschürt und hat mitgeteilt, er schickt seine besten Beamtinnen und Beamten dahin. Er will, wenn nötig, alle Steine röntgen. Er möchte keinen Stein auf dem anderen lassen. Und wir müssen jetzt erfahren, dass genau die Beamtinnen und Beamten, wo er sagt, das sind seine besten, immer noch Sachen finden, wo Zeugen es ihnen sagen mussten, dass dort Schuppen stehen, oder auch die öffentliche Presse musste sagen, da stehen Schuppen. Da hat Herr Reul Erwartungen geweckt. Da kann er nicht zu einstehen und deshalb ist ein Rücktritt notwendig.
Es fehlte die Transparenz
Meyer: Aber durch den Rücktritt des Innenministers in Düsseldorf ist ja noch nicht automatisch die Polizeiarbeit in Lügde verbessert.
Ganzke: Das ist richtig. Aber ich glaube, es ist auch sehr wichtig: Eines ist die Polizeiarbeit als solche. Das zweite ist, die Bevölkerung, die Bürgerinnen und Bürger, die müssen Vertrauen in die Arbeit der Polizei haben und die müssen auch sicher sein, dass ein Strafverfahren gerichtsfest ist. Diese ganzen chaotischen Umstände dort auf dem Campingplatz in Lügde führen dazu, dass dieses Vertrauen der Bevölkerung schwindet, und wir als SPD-Opposition glauben, es ist ein notwendiges Zeichen zu setzen, und das kann nur sein, dass der Innenminister als verantwortlicher oberster Chef der Polizei zurücktritt.
Meyer: Aber noch mal: Was muss denn in Lügde passieren, dass das Vertrauen der Bevölkerung wieder zunimmt?
Ganzke: Erst mal muss in Lügde passieren, dass dort auch noch anders kommuniziert wird. Ich habe jetzt die Mitteilung erhalten, da wird nur noch mit Pressemitteilungen kommuniziert. Ich glaube, das war von Anfang an das Problem, dass die vollständige Transparenz auch von Anfang an nicht so gegeben war. Bei diesen Dimensionen – ich wiederhole es leider noch einmal -, der größte Kinderporno-Skandal in Nordrhein-Westfalen der letzten Jahre und Jahrzehnte, hätte man von Anfang an viel transparenter an die Sache herangehen müssen. Dann wären, glaube ich, auch die Befindlichkeiten in der Bevölkerung nicht so gewesen, wie sie jetzt sind.
Meyer: Herr Ganzke, bei all Ihrer Kritik am Innenminister, warum gibt es nicht schon längst einen Untersuchungsausschuss im Landtag?
Ganzke: Wir haben – und das sage ich auch ganz klar – gesagt, wir haben in die Aufklärungsarbeit von Staatsanwaltschaften hier in Nordrhein-Westfalen, von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten immer noch großes Vertrauen, und das haben wir auch, ohne Wenn und Aber.
"Ein Untersuchungsausschuss kommt näher"
Meyer: Entschuldigung! Trotz der Pannen haben Sie immer noch Vertrauen?
Ganzke: Ja! Ich sage es ganz deutlich, auch als Mitglied des Innenausschusses: Wir müssen dieses Vertrauen auch noch haben. Denn wenn dieses jetzt abhanden geht, da will ich gar nicht drüber nachdenken, was passiert. Deshalb müssen wir in die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen – und die meisten dort leisten gute Arbeit. Es gibt hier, deshalb sage ich, "chaotische Zustände", aber die meisten Kolleginnen und Kollegen reißen sich insoweit den Hintern auf dafür, dass sie dort den Beschuldigten gerichtsfest dingfest machen. Das glaube ich. Aber wir als Politik sind nicht die zweite Staatsanwaltschaft und wir müssen jetzt sehen: Angekündigt ist, dass die Anklage kommt, angeblich jetzt noch im April oder im Mai, und dann werden wir bewerten. Aber eins sage ich auch ganz klar: Ein Untersuchungsausschuss kommt höchst wahrscheinlich immer näher bei diesen chaotischen Zuständen.
Meyer: Aber was ich nicht verstehe: Sie kritisieren den Innenminister dafür, dass er die Lage bei der Polizei nicht im Griff hat, sagen aber selber, Sie vertrauen nach wie vor. Noch einmal: Worauf gründen Sie Ihr Vertrauen, Herr Ganzke?
Ganzke: Das Vertrauen gründen wir darauf, dass es 40.000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in Nordrhein-Westfalen gibt. Und wir können es überhaupt nicht tun und wir machen es auch nicht, alle Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte unter einen Generalverdacht zu stellen. Wir müssen aber insoweit Fehler ganz klar ansprechen, und das tun wir als Opposition auch. Wir machen es aber nicht, dass wir alle Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten unter einen Generalverdacht stellen. Das wäre nicht nur falsch, sondern das würde der Sache auch nicht angemessen sein. Denn die meisten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten machen einen guten Job. Aber noch mal: Die, die Fehler machen, müssen wir auch sehr scharf kritisieren, und das tun wir als Opposition.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.