Wie Jesus von Nazareth sein Kreuz trägt der Junge Jehoschua eine Tür auf seinem Rücken durch das ultraorthodoxe jüdische Viertel Jerusalems, Mea Shearim. Niemand weiß so recht, warum. Nicht einmal er selbst. Sein Urgroßvater hatte die Tür für eine sephardische Synagoge geschreinert, die später durch die Araber zerstört wurde. Nur die Tür wurde gerettet und kehrte auf verschlungenen Wegen zur Familie zurück, die sie seither wie ein Heiligtum vererbte. Doch der geistig verwirrte Junge hält sie für eine Tür des im Jahre 70 nach Christus von den Römern zerstörten zweiten Jerusalemer Tempels. Der Beginn jüdischer Diaspora. Wie heimatlos irrt auch Jehoschua durch die Gassen, seit seine Mutter nach dem Tod des Vaters für eine neue Zweckehe ihre Söhne alleine zurücklassen musste. Es ist, als trüge der Waise stellvertretend die Last tausendjähriger jüdischer Verfolgung auf seinem Rücken.
"Von seinem ersten Tag allein im Keller schlief er nur noch auf der Tür. Geheimnisvolle Gedanken huschten ihm durch den Kopf, wenn er darauf lag, verwaiste Echos einer fernen, verborgenen Stimme, etwas vom Raunen der Generationen, das sich im Wandel der Zeiten in ihrem Holz gesammelt hatte."
Nichts als deren Rettung im Sinn, verwahrlost Jehoschua zusehends und wird trotz der wundersamen Heilkräfte der Tür von der ultraorthodoxen Gemeinschaft gemieden. Als er seine Tür fälschlicherweise im Feuer verbrennen zu sehen meint, wirft der heilige Narr sich ihr in die Flammen hinterher. Seine eigene prophetische Vision geht damit in Erfüllung.
Für den jungen Ich-Erzähler sind Mea Shearim und seine Bewohner eine märchenhaft-surreale Kindheitswelt zwischen Traum und Albtraum, die ihn fasziniert und verängstigt. In jedem Hinterhof lauert ein Wunder. In jeder Gasse begegnet er seltsamen Menschen. Fast alle werden auf irgendeine Weise Opfer religiös motivierter Wahnvorstellungen.
Da ist zum Beispiel Fleischer Kahana, der sich für den Nachfahren eines alten Priestergeschlechts hält. Im Wunsch nach Wiederbelebung priesterlicher Tempelopfer-Kulte steigert er sich in einen allen jüdischen Geboten zuwiderlaufenden Blutrausch hinein. Oder Friseur Jehoschua, ein ausgemachter Frauenfeind, der darüber zu verzweifeln droht, nur Töchter zu zeugen. Als seine Tochter endlich den ersehnten männlichen Nachkommen zur Welt bringt, haucht der Friseur vor lauter Glück sein Leben aus. Eine ganze Familie wird Opfer der rigiden ultraorthodoxen Sexualmoral, nachdem der Ich-Erzähler ein kleines Mädchen mitten im Viertel völlig unschuldig auf den Mund küsst. Als deren Eltern daraufhin sogleich die spätere Heirat der beiden Kinder einfordern, bezichtigt seine Mutter die Kleine der Hexerei und hetzt die jüdische Sittenwache auf die Wassermanns. Mit alten Bettstangen bewaffnet, prügeln Talmud-Studenten sie buchstäblich aus dem Viertel. "Wassermanns Tochter" bezieht sich auf die alttestamentarische Geschichte von der unschuldig des Ehebruchs bezichtigten "Susanna im Bade", obwohl gerade diese Erzählung aus dem Buch Daniel in der hebräisch-aramäischen Bibel nicht enthalten ist. Auch die Geschichte "Jona, die Amme" nimmt eine Stelle aus dem Talmud beim Wort. Die Hebamme der während der Geburt von zwei Kindern verstorbenen Rivka Schwarz beobachtet bei dem frisch verwitweten Ehemann Jona Unglaubliches:
"Jonas Brustwarzen schwollen blasenartig an [...]. 'Oh, Gott im Himmel', flüsterte sie mit aufgerissenen Augen. [...] Er war größer geworden, auf seiner Brust war ein Busen gewachsen [...]. Blitzartig hatte sie das wundersame Empfinden, dass die Weltordnung sich änderte. "Alles von der Hand des Ewigen, gelobt sei er", murmelte sie hastig."
Der seine Kinder an der eigenen Brust säugende Totengräber wird zur heiligen Attraktion des Viertels. Doch als ihn die Frau des Fleischers Jerucham sogar in intimen Dingen um Rat fragt, nutzt er die erotisch zwielichtige Situation schamlos aus. Ironie des Schicksals: Als Jona ihren später verstorbenen Ehemann persönlich unter die Erde bringen will, fällt der vor Fleischeslust und Alkohol trunkene Jona selbst in das von ihm frisch ausgehobene Grab.
Das ironische Element der Erzählungen steigert sich in der Geschichte von der hässlichen, unfreiwillig ehelosen Fischfrau Jona Schiff bis zur Satire. In der Parodie einer salomonischen Verhandlung vor dem ultraorthodoxen Rabbinatsgericht streiten die Fischverkäuferin und die Mutter des Erzählers um eine vermeintlich kostbare Mesusa, die diese im Bauch eines bei Jona Schiff erworbenen Sabbat-Karpfens gefunden hat. Der völlig absurde Schauprozess über die Eigentumsverhältnisse an der vergoldeten Thora-Schriftkapsel eines Türpfostens wird zur religionsrechtlichen Farce. Mit sanfter Ironie schildert der Erzähler dagegen den gutmütigen und kinderlieben alleinstehenden Uhrmacher Nathan Weiser, der Wochen, Monate und selbst Jahre in Stunden misst. Genauso liebens- wie bemitleidenswert wird die Figur des deutschstämmigen "jecken" Hausierers mit der Taube auf der Schulter gezeichnet. Der stets überelegant gekleidete studierte Geisteswissenschaftler ist so naiv, dass er sich sogar von einfachen Schuljungen an der Nase herumführen lässt.
Trotz heiterer und skurriler Elemente erweisen sich schließlich die Geschichten in Asher Reichs Erzählband "Ein Mann mit einer Tür" alle als schwere psychoanalytische Seelenarbeit. Man spürt beim Lesen die Last, mit der die jahrtausendealte jüdische Geschichte auf den zarten Schultern des jungen Erzählers liegt. Vergleichbar dem Gewicht der heiligen Tür auf dem Rücken Jehoschuas, der darunter schließlich zerbricht. Asher Reichs Erzählungen schildern das ultraorthodoxe Judentum im Jerusalemer Viertel Mea Shearim weder als zeitenthobene Idylle noch als heile verzauberte Märchenwelt. Seine mit archaischer alttestamentarischer Dramatik und expressionistischer Drastik erzählten Geschichten erinnern eher an düstere Chagall-Gemälde. Asher Reichs Prosaband "Ein Mann mit einer Tür" ist höchst authentische, persönlich mühsam erkämpfte literarische Traumaarbeit.
Asher Reich: "Ein Mann mit einer Tür".
Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
S. Fischer Verlag 2012. 304 Seiten, 19,99 Euro
"Von seinem ersten Tag allein im Keller schlief er nur noch auf der Tür. Geheimnisvolle Gedanken huschten ihm durch den Kopf, wenn er darauf lag, verwaiste Echos einer fernen, verborgenen Stimme, etwas vom Raunen der Generationen, das sich im Wandel der Zeiten in ihrem Holz gesammelt hatte."
Nichts als deren Rettung im Sinn, verwahrlost Jehoschua zusehends und wird trotz der wundersamen Heilkräfte der Tür von der ultraorthodoxen Gemeinschaft gemieden. Als er seine Tür fälschlicherweise im Feuer verbrennen zu sehen meint, wirft der heilige Narr sich ihr in die Flammen hinterher. Seine eigene prophetische Vision geht damit in Erfüllung.
Für den jungen Ich-Erzähler sind Mea Shearim und seine Bewohner eine märchenhaft-surreale Kindheitswelt zwischen Traum und Albtraum, die ihn fasziniert und verängstigt. In jedem Hinterhof lauert ein Wunder. In jeder Gasse begegnet er seltsamen Menschen. Fast alle werden auf irgendeine Weise Opfer religiös motivierter Wahnvorstellungen.
Da ist zum Beispiel Fleischer Kahana, der sich für den Nachfahren eines alten Priestergeschlechts hält. Im Wunsch nach Wiederbelebung priesterlicher Tempelopfer-Kulte steigert er sich in einen allen jüdischen Geboten zuwiderlaufenden Blutrausch hinein. Oder Friseur Jehoschua, ein ausgemachter Frauenfeind, der darüber zu verzweifeln droht, nur Töchter zu zeugen. Als seine Tochter endlich den ersehnten männlichen Nachkommen zur Welt bringt, haucht der Friseur vor lauter Glück sein Leben aus. Eine ganze Familie wird Opfer der rigiden ultraorthodoxen Sexualmoral, nachdem der Ich-Erzähler ein kleines Mädchen mitten im Viertel völlig unschuldig auf den Mund küsst. Als deren Eltern daraufhin sogleich die spätere Heirat der beiden Kinder einfordern, bezichtigt seine Mutter die Kleine der Hexerei und hetzt die jüdische Sittenwache auf die Wassermanns. Mit alten Bettstangen bewaffnet, prügeln Talmud-Studenten sie buchstäblich aus dem Viertel. "Wassermanns Tochter" bezieht sich auf die alttestamentarische Geschichte von der unschuldig des Ehebruchs bezichtigten "Susanna im Bade", obwohl gerade diese Erzählung aus dem Buch Daniel in der hebräisch-aramäischen Bibel nicht enthalten ist. Auch die Geschichte "Jona, die Amme" nimmt eine Stelle aus dem Talmud beim Wort. Die Hebamme der während der Geburt von zwei Kindern verstorbenen Rivka Schwarz beobachtet bei dem frisch verwitweten Ehemann Jona Unglaubliches:
"Jonas Brustwarzen schwollen blasenartig an [...]. 'Oh, Gott im Himmel', flüsterte sie mit aufgerissenen Augen. [...] Er war größer geworden, auf seiner Brust war ein Busen gewachsen [...]. Blitzartig hatte sie das wundersame Empfinden, dass die Weltordnung sich änderte. "Alles von der Hand des Ewigen, gelobt sei er", murmelte sie hastig."
Der seine Kinder an der eigenen Brust säugende Totengräber wird zur heiligen Attraktion des Viertels. Doch als ihn die Frau des Fleischers Jerucham sogar in intimen Dingen um Rat fragt, nutzt er die erotisch zwielichtige Situation schamlos aus. Ironie des Schicksals: Als Jona ihren später verstorbenen Ehemann persönlich unter die Erde bringen will, fällt der vor Fleischeslust und Alkohol trunkene Jona selbst in das von ihm frisch ausgehobene Grab.
Das ironische Element der Erzählungen steigert sich in der Geschichte von der hässlichen, unfreiwillig ehelosen Fischfrau Jona Schiff bis zur Satire. In der Parodie einer salomonischen Verhandlung vor dem ultraorthodoxen Rabbinatsgericht streiten die Fischverkäuferin und die Mutter des Erzählers um eine vermeintlich kostbare Mesusa, die diese im Bauch eines bei Jona Schiff erworbenen Sabbat-Karpfens gefunden hat. Der völlig absurde Schauprozess über die Eigentumsverhältnisse an der vergoldeten Thora-Schriftkapsel eines Türpfostens wird zur religionsrechtlichen Farce. Mit sanfter Ironie schildert der Erzähler dagegen den gutmütigen und kinderlieben alleinstehenden Uhrmacher Nathan Weiser, der Wochen, Monate und selbst Jahre in Stunden misst. Genauso liebens- wie bemitleidenswert wird die Figur des deutschstämmigen "jecken" Hausierers mit der Taube auf der Schulter gezeichnet. Der stets überelegant gekleidete studierte Geisteswissenschaftler ist so naiv, dass er sich sogar von einfachen Schuljungen an der Nase herumführen lässt.
Trotz heiterer und skurriler Elemente erweisen sich schließlich die Geschichten in Asher Reichs Erzählband "Ein Mann mit einer Tür" alle als schwere psychoanalytische Seelenarbeit. Man spürt beim Lesen die Last, mit der die jahrtausendealte jüdische Geschichte auf den zarten Schultern des jungen Erzählers liegt. Vergleichbar dem Gewicht der heiligen Tür auf dem Rücken Jehoschuas, der darunter schließlich zerbricht. Asher Reichs Erzählungen schildern das ultraorthodoxe Judentum im Jerusalemer Viertel Mea Shearim weder als zeitenthobene Idylle noch als heile verzauberte Märchenwelt. Seine mit archaischer alttestamentarischer Dramatik und expressionistischer Drastik erzählten Geschichten erinnern eher an düstere Chagall-Gemälde. Asher Reichs Prosaband "Ein Mann mit einer Tür" ist höchst authentische, persönlich mühsam erkämpfte literarische Traumaarbeit.
Asher Reich: "Ein Mann mit einer Tür".
Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
S. Fischer Verlag 2012. 304 Seiten, 19,99 Euro