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Kino am Kreml

Anregend, vielseitig, mutig, experimentell und anspruchsvoll: Der Wettbewerb des 33. Moskauer Filmfestivals bewegte sich auf einem respektablen, hohen Niveau – und das ohne Staraufgebot und etablierte Regiegrößen.

Von Kirsten Liese |
    Keinesfalls überraschend gewann der Spanier Alberto Morais den Goldenen Georg und den Fipresci-Kritikerpreis für seinen ersten Spielfilm "Las Olas" – "Die Wellen". Das subtile Roadmovie handelt von einem alten Mann, der sich nach dem Tod seiner Frau auf eine letzte große Reise macht. Der Witwer kehrt noch einmal an jenen kleinen Ort in Frankreich zurück, wo er einst als junger Mann vor dem Diktator Franco Zuflucht suchte, aber seine Illusionen verlor. Vermutlich wäre er in einem Arbeitslager umgekommen, hätte ihn nicht eine Bäckertochter mit Brot versorgt. Jetzt will der Alte seine Retterin noch einmal sehen.

    Der Spanier erzählt seine unspektakuläre Geschichte einfühlsam, poetisch und leise mit kleinen Gesten und wenig Musik. Seitens der Bildsprache hat er sich dabei an großen Vorbildern orientiert, sagt er:

    "Mich inspiriert zum Beispiel die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit im Kino des Griechen Theo Angelopoulos. Auf diese Weise nehmen wir einen Schauplatz viel bewusster wahr. Denken wir nur an die Ikea-Filialen, die es heute in nahezu jeder Großstadt gibt: Alle Gelände, auf denen diese Möbelhallen stehen, sahen früher einmal ganz anders aus, und sie alle hätten uns, wenn sie reden könnten, viel zu erzählen."

    Ein weiteres großes Regietalent, das es in Moskau zu entdecken galt, ist der mittlerweile 70-jährige Pole Feliks Falk. Mit seinem sehr berührenden Drama "Joanna" um eine selbstlose, charakterstarke Frau, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Warschau ein jüdisches Mädchen versteckt, empfiehlt er sich als ein ganz Großer des polnischen Kinos. Doch zeichnete die Jury nur die in ihrer Rolle ganz und gar aufgehende Urszula Grabowska als beste Hauptdarstellerin aus. Warum, darüber lässt sich nur spekulieren: Schon oft habe er erfahren müssen, dass Holocaust-Filme nicht mehr en vogue sind, sagt Regisseur Falk:

    "Als ich im vergangenen Jahr in Amerika von meinem neuen Filmprojekt erzählte, warnte mich ein Kritiker, das sei nun alles längst Vergangenheit, Holocaust-Filme würden mittlerweile kaum noch jemanden vor dem Ofen hervorlocken. Wenn selbst schon ein Amerikaner so denkt, weiß ich kaum noch, was ich dazu sagen soll."

    Wohl als eine Reverenz an den russischen Gastgeber lässt sich der Spezialpreis der Jury an Sergej Lobans viel zu langen, fast vierstündigen Beitrag "Chapiteau Show" verstehen, ein Episodenfilm zum Thema Kommunikation. Dann und wann blitzt zwar ein skurriler, lakonischer Humor auf, der an den Finnen Aki Kaurismäki erinnert, doch wirken viele Szenen in ihrer Exzentrik mitunter künstlich aufgesetzt.

    Den Silbernen Georg für die beste Regie gewann überraschend der Chinese Wong Ching Po, dessen Film "The Revenge"- "Die Rache" kaum etwas anderes zeigt als exzessive, brutale Duelle.

    Das überzeugendere Anti-Gewalt-Plädoyer gelingt der Französin Charlotte Silvera in ihrem packenden Kammerspiel "Eskalation" mit Carmen Maura. Skrupellose Jugendliche, die Mitschüler mobben und Lehrer bedrohen, sind offenbar nicht nur in Deutschland ein viel diskutiertes Thema. Dabei geht es der Regisseurin vor allem um verzogene Kinder besserer Schichten.

    "Ich möchte dafür sensibilisieren, dass wir das Problem nicht lösen werden, solange wir es immer nur auf pädagogische Einrichtungen abwälzen. Vielmehr sind es doch die Eltern, die es versäumen, unsere Werte wie Toleranz und Respekt, die ich sehr wichtig erachte, an ihre Kinder weiterzugeben."

    Positiv entwickelt hat sich das Moskauer Filmfestival auch mit Blick auf den enormen Publikumszuwachs in den vergangenen Jahren. Nur eines wünscht sich Festivaldirektor Nikita Michalkow noch für die kommenden Jahre: eine mit Berlin, Cannes oder Venedig vergleichbare feste Residenz für das Festival.