Adalbert Siniawski: Bei "Corso – Kunst & Pop" blicken wir nun auf die indische Geschichte und wie sie im Film verarbeitet wird. Die Unabhängigkeit des Landes vom britischen Kolonialreich hat mit Richard Attenboroughs "Gandhi" von 1982 einen großen Film gefunden. Aktuell läuft das Drama "Der Stern von Indien" in unseren Kinos. Regisseurin ist die britische-indische Filmemacherin Gurinder Chadha. Ein Historienfilm, der ebenfalls die indische Unabhängigkeit und die Teilung des Landes in Indien und Pakistan beschreibt:
Filmausschnitt: "Neue Nationen werden selten friedlich geboren. Aber Hindus und Muslime in einem Staat zu vereinen, führt zwangsläufig zu dem Blutvergießen, das sie vermeiden wollen. Indien war nie eine wirkliche Nation, das sieht nur auf der Karte so aus. Die Briten haben Irland geteilt, um den Frieden zu wahren. Sie müssen hier dasselbe tun."
Unser Filmkritiker Hartwig Tegeler hat "Der Stern von Indien" gesehen. Welche Geschichte erzählt Gurinder Chadha Genau?
Hartwig Tegeler: Ja, es ist der steinige Weg Indiens in die Unabhängigkeit. Denn man darf nicht vergessen, dass das ein sehr, sehr blutiges Geschehen war. Das Ganze sehen wir gefilmt an Originalschauplätzen, es ist historisch sehr präzise nachgestellt, es ist solide ausgestattet, es sind prachtvolle Bilder. Aber das alles ändert nichts daran, dass es - wie gesagt - ein blutiges Geschehen war. Denn damals, '47, die Hindus, die Muslime und die Sikhs, die drei großen Bevölkerungsgruppen in Indien, waren zerstritten. Ein Indien oder ein geteiltes Indien, das war die Frage.
Und dazwischen sehen wir dann am Anfang des Films, wie er ankommt, der neue Vizekönig des Noch-Kolonialreiches Indien. Und Lord Mountbatten, so hieß er, der Noch-Vizekönig, der soll also quasi das Kolonialreich und die Unabhängigkeit abwickeln und ist dabei - das macht der Film sehr, sehr deutlich - Spielball der britischen Politiker, allen voran Winston Churchill, der im Hintergrund Interessen verfolgt, die sich am Ende verwirklichen und dann eben zu diesem geteilten Indien führen, geteilt in Indien und Pakistan. Das ist die eine Erzählung, die Gurinder Chadha uns präsentiert.
Liebesgeschichte mit Klischees
Siniawski: Im Kino werden häufig - wie gesagt - große Weltereignisse verhandelt - dies gelingt mal besser, mal schlechter - in "Der Stern von Indien". Was bekommen wir da an emotionalem Futter?
Tegeler: Ja, das ist eben ein guter Ausdruck dafür. Was ist dieses emotionale Futter, von dem die Mainstream-Produzenten glauben, dass wir sie brauchen, um so einen Film überhaupt anzusehen. Übrigens, ein anderes Beispiel: Diese Woche, "The Promise", Film über den Genozid an den Armeniern, jetzt auch im "Stern von Indien", was brauchen wir also? Ja, natürlich, die Liebesgeschichte. Hier im Stern von Indien ist es die - auch keine große Überraschung - die Liebesgeschichte zwischen einem Hindu und einer Muslima. Beide arbeiten sie im Palast des Vizekönigs Lord Mountbatten, werden dann getrennt in den Wirren der Unabhängigkeit und so weiter. Die Liebesgeschichte, das ist eben der Haken an diesem Film, ist doch als ziemliches Klischee inszeniert. Sie ist ein Vehikel und - wie Sie eben sagten - das emotionale Futter für diese große historische Dimension.
Blutiger Tribut für die Unabhängigkeit
Siniawski: Was erfahren wir hier über den historischen Teil, die Spaltung Indiens?
Tegeler: Ja. Das ist sehr, sehr interessant, was da sozusagen als historisch-politische These eingewoben ist. Das hört sich dann im Dialog so an:
Filmausschnitt: "Sehen Sie auf die Karte. Sehen Sie, wo die Macht einmal liegen wird. Der Golf, das Öl. Diese Sicherheit haben wir jetzt, und zwar dank Pakistan. Sie haben Indien geteilt wegen des Öls."
Also, der Generalplan Churchills, das desavouiert natürlich nicht den Kampf der Inder um ihre Unabhängigkeit, vollkommen klar, aber macht doch sehr deutlich, was Gurinder Chadha in den Vorspann ihres Films geschrieben hat. Da steht zu lesen: "Der Film zeige, was passiere, wenn Geschichte von Siegern geschrieben wird". Man darf eben nicht vergessen, da sind eine Millionen Menschen vertrieben worden, übrigens, unter anderem auch die Großmutter der Filmemacherin, es gab tausende von Toten. Also ein wirklich blutiger Tribut, den die Inder für ihre Unabhängigkeit zu zahlen hatten.
Bilder von Flucht und Vertreibung
Siniawski: Der Film spielt Ende der 40er Jahre. sagt das Drama auch etwas über die heutige Zeit aus?
Tegeler: Naja, Großmachtpolitik, habe ich eben schon erwähnt, mit Folgen für die Menschen. Es geht um Flucht und Vertreibung , das sind natürlich sehr, sehr aktuelle Bilder, oder sagen wir mal besser, historische Bilder, die auf uns aktuell sehr intensiv wirken. Wir sehen Flüchtlingslager, wir sehen die Flüchtlingsströme, die Flüchtlinge eindrücklich, wie gesagt. Aber das Ganze wird wieder sozusagen ins Klischee gebrochen, wenn das dann verbunden wird mit der Liebesgeschichte.
Und ich darf vielleicht eben - Sie hatten es in der Anmoderation erwähnt, dass dieser andere große Film über das gleiche Thema, "Gandhi" von Sir Richard Attenborough - da ist mit Gandhi natürlich eine so große Figur in dieses epische Erzählen eingebaut, da braucht es dann eben nicht solche emotionalen Vehikel, wie eine Liebesgeschichte. Gandhi steht für sich, und darüber wird eine ganz große Geschichte erzählt über die indische Unabhängigkeit. Und das ist wirklich so der kleine Wermutstropfen beim "Stern von Indien".
Siniawski: Unser Filmkritiker, Hartwig Tegeler, über "Der Stern von Indien" – zu sehen in unseren Kinos. Sein Tipp für Fortgeschrittene also: Richard Attenboroughs "Gandhi". Vielen Dank, Herr Tegeler.