Die Zahlen sind eindeutig: Seit 1990 sind weltweit 102 Staatsverfassungen neu geschrieben worden. In diesen neu formulierten Grundgesetzen taucht das Wort Religion in 40 Fällen auf. Der Anteil von Verfassungen, die eine Religion als Rechtsquelle anerkennen, ist vergleichsweise gering. Noch kleiner ist die Zahl der Verfassungen, die eine Staatsreligion definieren. Es sind gerade mal 16 - die allerdings, das ist das Besondere, weitgehend einem Kulturkreis entstammen.
"Von diesen 16 sind 15 muslimische Länder und ein buddhistisches Land, Cambodia, das auch eine staatliche Religion anerkennt, und in diesem Fall ist es der Buddhismus."
Mirjam Künkler, Professorin für Politikwissenschaft und Orientalistik an der Princeton University in den USA. Während in westlich geprägten Staaten Religion in Verfassungen – wenn überhaupt – nur eine symbolische Bedeutung hat, erfährt sie in manchen Ländern Afrikas, Asiens und des Nahen Osten einen erstaunlichen Bedeutungsgewinn.
"Wenn der Staat zerfällt, und das ist natürlich der Fall in der ganzen arabischen Region, von Libyen bis Syrien und so weiter, dann suchen die Leute Zuflucht in der Religion,..."
...Mark Farha, Professor für Politikwissenschaft an der Georgetown University in Katar,...
"...da ist natürlich eine Problematik dabei, diese autokratischen Herrscher, die vorher an der Macht waren, generell, wenn man ehrlich ist, haben die natürlich eher ein säkulares Recht vollzogen, als die jetzigen Regimes die kommen danach."
Phänomen: Konfessionalismus
Ein Phänomen, das Politikwissenschaftler unter dem Begriff Konfessionalismus diskutieren. Die ohne Zweifel mit brutaler Gewalt erzwungene politische Einheit vieler arabischer Staaten zerfällt seit Beginn des Arabischen Frühlings zu regionalen Staatsgebilden mit jeweils eigenen politischen Grundsätzen – der Islam spielt in allen Fällen eine besondere Bedeutung. Auf der anderen Seite gibt es islamisch geprägte Länder, deren Verfassungen weder den Islam noch andere Religionen als Rechtsquelle nennen. Politikwissenschaftler erkennen sie deshalb im Grundsatz als Demokratien an. Die Türkei und Indonesien zählen dazu, Albanien, Senegal und Mali – vergleichsweise wenige Staaten. In allen anderen Ländern behindert die Staatsreligion Islam aufkeimende Demokratisierungsbewegungen – so Mirjam Künkler von der Princeton-University.
"Man sieht oft, dass islamistisch geprägte Parlamentsangehörige den verfassungsrechtlichen Status der Religion so zu interpretieren suchen, dass man Limitierungen einführt, was die Identität des Präsidenten betrifft, es ist oft so, dass der Präsident Muslim sein muss, oft es ist es auch so, dass die Richter an den höchsten Gerichten des Staates muslimisch sein müssen oder eine Mehrheit von ihnen muss muslimisch sein, oft gibt es auch Diskriminierungen auf der Geschlechtergrundlage, dass Frauen der Zugang zu bestimmten Positionen nicht gewährt wird."
Eine besondere Rolle spielt dabei die islamische Vorrangklausel in Staatsverfassungen. Sie legt fest, dass kein Gesetz verabschiedet werden darf, das dem islamischen Recht widerspricht. Trotzdem dürfe man nicht in klischeehaftes Denken verfallen, so Mirjam Künkler. Mit einiger Faszination lässt sich das Ringen vieler arabischer Staaten um einen Kompromiss zwischen liberaler Verfassungen – die der Vereinigten Staaten etwa – und Verfassungen mit einer deutlichen islamischen Dominanz beobachten. Die Ergebnisse sind verwirrend.
"Man sieht einerseits, dass Staatsbürger aus rein juristischer Sicht de jure immer mehr Recht haben sollten weltweit, andererseits sieht man aber auch, dass gerade bei den Verfassungen, die eine Staatsreligion anerkennen, und die zusätzlich auch noch Religion als Rechtsquelle anerkennen, ganz oft in der gleichen Verfassung wieder andere Klauseln zu finden sind, die diese Grundrechte einschränken. Ob man sich die ägyptische Verfassung anschaut oder die iranische oder die libysche, die im Grunde gerade entworfen wird, ist es so, dass oft Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden kann aufgrund islamischer Rechtsprinzipien."
Leben in Frieden und Wohlstand
Wohin die verfassungsrechtliche Reise islamisch geprägter Länder geht – und damit deren politische Entwicklung – kann seriös noch niemand sagen. Sicher ist, dass sich die reine Lehre des Islams vor dem Hintergrund globaler Wirtschaftssysteme auf Dauer nicht halten kann. Zu stark sind die kulturellen Einflüsse aus dem Westen. Mark Farha, Politikwissenschaftler an der Georgetown University in Katar, bezweifelt allerdings die allein seligmachende Wirkung westlicher Werte.
"Das ist eine Problematik für die arabische Welt: Ist Demokratie, wie wir sie kennen, eine Lösung für alle Probleme?"
Schnelle Lösungen gibt es nicht, dafür sind die gesellschaftspolitischen Spannungen zu komplex. Schnelle Lösungen wird es möglicherweise aber auch deshalb nicht geben, weil dem Islam im Vergleich zum Christentum ein paar Jahrhunderte Entwicklung fehlen. Vielleicht erlebt der arabische Raum eine Phase, wie sie Europa während der Religionskriege durchlebt hat. Besonders optimistisch ist Mark Farha nicht.
"Ich glaube, im Moment gehen wir durch eine Phase, wo das nur noch schlimmer wird, weil es um einen Existenzkampf geht in gewissem Grad für diese Länder und für dies Gruppen, und die fundamentalen ideologischen Ideen und Gründe für diesen Konflikt sind nicht wirklich behandelt worden. Und da kommt noch mit hinzu, dass außenstehende Kräfte, wir reden hier von einem globalen und regionalen Konflikt, diese Identitäten ausnützen, um sie für sich gegeneinander ausspielen, also die Sunniten gegen Schiiten auszuspielen, und die Schiiten gegen die Sunniten ausspielen, das ist ein Plan der wirklich da ist in Washington und anderswo."
Dabei geht es für die vielen Millionen Menschen in den Krisenregionen Arabiens vor allem um ein Leben in Frieden und Wohlstand. Das verfassungsrechtlich umzusetzen, erfordert für Mark Farha vor allem eines: Toleranz.
"Wollen wir, weil wir eine andere Weltanschauung haben bezüglich der Religion, deshalb versuchen einander zu konvertieren, oder wollen wir eine Staatsverfassung akzeptieren, wo alle die gleichen Rechte genießen? Rousseau hat es gut formuliert, er hat gesagt, wir müssen tolerant sein gegenüber allen, außer den Intoleranten!"