Christiane Florin: Vor ein paar Tagen wurde bekannt, dass der Evangelische Kirchentag im nächsten Jahr AfD-Politiker ausdrücklich nicht einladen wird. Außerdem ist in Bayern Wahlkampf und gekämpft wird nicht nur darum, wer wo sein Kreuzchen macht. Gestritten wird auch darüber, wo Kreuze hängen und wer sie deuten darf – auch das mit Beteiligung der Kirchen. Und schließlich ist da noch ein Papst, der die italienische Regierung ermahnt, weil sie Flüchtlingsschiffe abweist.
Ob und wie sich Kirchen in die Politik einmischen sollen, darüber haben wir in lockerer Folge in "Tag für Tag" gesprochen, und wir tun es auch heute, an diesem Einheitstag. Mein Gesprächspartner ist jemand, der als Historiker über einzelne Wahlkämpfe hinausblickt, der längerfristige Entwicklungen beobachtet und auch schon mal eine Prognose riskiert. Es ist Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Sein Buch "Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts" stand lange auf der Bestsellerliste. Guten Tag, Herr Rödder.
Andreas Rödder: Guten Morgen, Frau Florin.
Florin: Bei welcher Einmischung der Kirchen sagen Sie: Das wäre aber jetzt nicht nötig gewesen?
Rödder: Bei Einmischungen, die ganz normal im Tagesgeschäft so stattfinden, dass man sagt, dafür braucht es tatsächlich eigentlich nicht die Kirche, dafür hat die Kirche kein besonderes Mandat, sondern das ist eine tagespolitische Intervention, wie sie jeder Zeitungsleser auch so leisten könnte.
Florin: Fällt Ihnen da ein konkretes Beispiel ein?
Rödder: Das habe ich jetzt ganz bewusst so allgemein gesagt, weil mir das konkrete Beispiel nicht einfällt. Man hat eher den Eindruck, man ist so von einem Grundrauschen umgeben, wo sich Kirchen in die politische Diskussion einschalten und man sagt, es wäre hilfreicher, wenn die Kirche sich da tatsächlich auf ihre spezielle Expertise beziehen würde.
"Mit moralischem Absolutheitsanspruch"
Florin: Und wann haben Sie mal eine kirchliche Einmischung vermisst in letzter Zeit?
Rödder: Ich vermisse vor allen Dingen ein gutes Stück an Selbstreflexion. An Selbstreflexion darüber, dass die Kirche nicht als absoluter Player in diesem Spiel mitwirkt. Das eigentliche Problem ist, dass die Kirchen mit einer Art von moralischem Absolutheitsanspruch in eine politische Diskussion eintreten, in der andere Spielregeln gelten - jedenfalls nicht der moralische Absolutheitsanspruch gelten kann.
Florin: Hören wir einmal, was der Philosoph Alexander Grau in dieser Sendung gesagt hat:
"Insbesondere der aktuelle Papst schwenkt da ja ganz fröhlich ein, quasi auf diesen politisierenden und moralisierenden Diskurs, den wir in Deutschland zumindest von protestantischen Vertretern kennen, insbesondere der EKD. Man stellt nicht so sehr Glaubensinhalte in den Mittelpunkt, vielleicht auch einfach, weil man natürlich spürt, dass die klassischen religiösen Formeln für eben viele Menschen sperrig geworden sind, also flieht man in den Bereich der Moral und der Politisierung. Man engagiert sich gegen Umweltverschmutzung. Denken Sie nur, also, der vor irgendeinem Endlager angekettete Pfarrer gehört ja quasi zur protestantischen Folklore noch aus den 80er Jahren."
Florin: Warum ist Moralkritik dieser Art derzeit so en vogue?
Rödder: Weil der politische Diskurs sich insgesamt moralisiert hat. Wir erleben eine Polarisierung der Extreme innerhalb der deutschen Diskussion - übrigens nicht nur innerhalb der deutschen Diskussion - und diese Polarisierung der Extreme besteht darin, dass auf der Seite einer fremdenfeindlichen nationalistischen Rechten ein Ressentiment betrieben wird, während auf der Seite der - wie Alexander Grau sagen würde - "hypermoralistischen" Linken eine Form von diversitätsorientierter, moralischer Absolutheit behauptet wird, die ihrerseits gar keinen Raum mehr für Diskussionen lässt. Das Problem ist, dass zwischen dieser Polarisierung der Extreme eine sprachlose Mitte aufgetreten ist, sodass eine wirklich vernünftige, auf kontroverse, aber auch Austausch beruhende öffentliche Diskussion in Deutschland schwerer geworden ist.
Florin: Aber wenn Bischöfe sagen würden, so in der Art von Thilo Sarrazin: "Ja, Nächstenliebe bedeutet eigentlich, dass du dich um deine Familie kümmerst, also um die, die dir auch, sozusagen, physisch räumlich nahestehen". Dann wäre doch nichts mit Kritik an Hypermoral, oder?
Rödder: Ja, wenn sie es so täten, wäre es in Ordnung. Aber lassen Sie uns tatsächlich konkret werden, lassen Sie uns doch auf die Flüchtlingskrise von 2015 schauen. Da haben die christlichen Kirchen einen hohen moralischen Ton bezogen, sie haben in der Flüchtlingskrise eine sehr stark moralisch grundierte verabsolutierte Position der Willkommenskultur und der Aufnahme von Flüchtlingen betrieben. Und der Politik dann aber wiederum die Mühe und die Widrigkeiten der politischen Ebene überlassen. Und das ist etwas, wo ich sagen würde, das ist am Schluss unredlich.
Der bayerische Ministerpräsident und der Kardinal
Florin: Aber eine politische Diskussion braucht doch auch Ideale.
Rödder: Ja, eine politische Diskussion braucht Ideale, aber sie muss davon leben, dass ich weiß, dass mein Gegenüber auch Recht haben kann, und dass ich nicht mit dem Anspruch der moralischen Absolutheit in einer politischen Diskussion auftreten kann. Und in der Flüchtlingskrise zu sagen: "Refugees welcome" und "Asyl kennt keine Obergrenze" - was politisch im engeren Sinne auch richtig ist. Aber zu sagen, wir müssen alle aufnehmen und wenn dann aber, wie es geschehen ist, ein bayrischer Ministerpräsident einem Kardinal sagt: "Ja, aber wie soll das denn politisch gehen?" Und der Kardinal sagt dann: "Ja, das ist Sache der Politik." So kann eine politische Diskussion nicht stattfinden. Ich sage noch einmal, wenn ich auf der Ebene der politischen Diskussion mich einbringe, dann muss ich auch nach den Regeln der politischen Diskussionen agieren und die kennt keine Absolutheit.
Florin: Es könnte doch gerade der Vorteil sein, dass die Kirchen anderen Regeln unterworfen sind, sonst würden sie ja sprechen wie Parteien.
Bloß nicht Kirche im Ghetto!
Rödder: Eben. Und deswegen bin ich auch der Meinung, dass es richtig ist, dass die Kirchen sich in den politischen Diskurs einbringen. Wenn sie das nicht wären, dann wären sie rein und weltentrückt, aber sie wären Kirche im Ghetto. Dass die Kirchen sich also in die politische Diskussion einbringen, halte ich vom Grundsatz her richtig, aber sie dürfen sich eben nicht anmaßen, dass sie die absolute Wahrheit hätten.
Florin: In diesem Vorwurf der Hypermoral schwingt der Gedanke mit, die Kirchen sollten sich auf ihr Kerngeschäft beschränken. Das besteht in Gottesdiensten, in der Spendung von Sakramenten, in Seelsorge. Was würde dann gesellschaftlich passieren, wenn die Kirchen das wirklich machten?
Rödder: Dahinter stecken ja unterschiedliche Traditionen des abendländischen Denkens. Die Position, die Sie gerade vorgetragen haben, das ist ja die Position in der Tradition von Platon, die davon ausgeht, dass die Idee den Vorrang hat, dass die Idee vor der Wirklichkeit ist. Wir haben das kirchenpolitisch oder kirchlich sehr deutlich beobachten können an Benedikt XVI.. Das war - oder ist - so ein wirklicher Platoniker, der vom Vorrang der Idee ausgeht und deshalb ja auch ganz bewusst die Entweltlichung der Kirche nicht nur in Kauf nimmt, sondern geradezu gefordert hat. Die Konsequenz ist, dass man der Schönheit der Idee huldigen kann - aber was darüber verloren geht, ist das, was die Theologen den Sitz im Leben nennen könnten.
Die andere Position ist die des Aristoteles, die sagt, dass die Idee nur in der Wirklichkeit besteht und nicht für sich. Das heißt, dass die Kirche in der Welt besteht und bestehen muss, das können sie auch stark in Verbindung bringen mit Johannes XXIII., mit dem zweiten Vatikanischen Konzil und der Idee des Aggiornamento, der Idee, dass die Kirche in der Welt ist und sich dem Lauf der Welt auch öffnen und in gewisser Weise auch anpassen muss. Ich würde sagen, die Kirchen sind im gesellschaftlichen Diskurs dann am fruchtbarsten, wenn sie ihre spezifische Kompetenz aus ihrem kirchlichen Selbstverständnis heraus in Diskussion einbringen, ohne sich zu einem permanenten politischen Player - wie alle anderen - zu machen.
"Kirchen hatten nach '45 eine gesellschaftsstabilisierende Wirkung"
Florin: Wann war das denn schon mal so? Also, wenn wir jetzt zum Beispiel an die Frühphase der Bundesrepublik denken - Konrad Adenauer, Katholik als Bundeskanzler. Hatten die Kirchen da eine demokratiestabilisierende Wirkung?
Rödder: Die Kirchen hatten nach 1945 vor allen Dingen eine gesellschaftsstabilisierende Wirkung, vor allem in der Bundesrepublik - für die DDR gelten da ja andere Gesetze. Aber in der frühen Bundesrepublik hatte die Kirche insofern eine gesellschaftsstabilisierende Funktion, als wir es mit einer moralisch zutiefst erschütterten und traumatisierten Gesellschaft zu tun hatten, die durchaus nach moralischen Autoritäten sich sehnte. Das war die große Stunde der christlichen Kirchen nach 1945 bzw. 1949, die dann aber in den 60er Jahren von einem Schub der Säkularisierung und des Wertewandels erfasst wurde.
Florin: Das heißt, damals war die Moral wichtig und heute ist Moral schlecht.
Rödder: Nein, so würde ich das nicht sagen. Es waren einfach in den 50er Jahren grundsätzlich ganz andere Voraussetzungen, die geherrscht haben. Freilich hat auch in den 50er Jahren die katholische Kirche sich gerne mit einem gewissen Absolutheitsanspruch zu den Themen geäußert, den wir heute auch nicht mehr akzeptieren würden. Das Hirtenwort der katholischen Bischöfe, das ziemlich deutlich sagt, CDU zu wählen - das wäre heute sicherlich und mit gutem Grund auch nicht mehr akzeptabel.
Florin: Ja, oder es hat sich ins Gegenteil verkehrt, indem von einer bestimmten Partei abgeraten wird. Oder, wie jetzt beim Kirchentag gerade geschehen, die AfD explizit ausgeladen wird. Was halten Sie davon?
Rödder: Ich halte es grundsätzlich für richtig, Grenzen zu setzen, gerade im Umgang mit der AfD. Und diese Grenze ist die Menschenwürde, das ist Artikel 1 des Grundgesetzes. Diese Grenze ist die Anwendung oder die Propagierung von Gewalt, und diese Grenze ist völkisches Denken. Allerdings ist diese Grenzziehung eine, die wir gar nicht aus genuinen religiösen oder kirchlichen Gründen vornehmen müssen, sondern es ist eine, die wir zu 100 Prozent politisch begründen können. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, diesseits dieser Grenze ist es nötig, sich mit der AfD kritisch konstruktiv auseinanderzusetzen und Ausgrenzung diesseits dieser Grenze, die ich gerade genannt habe, halte ich für politisch unklug und für politisch auch nicht richtig.
"Die Ausgrenzung der AfD halte ich für unklug"
Florin: Also, dieser Beschluss ist politisch unklug?
Rödder: Ich kann die Argumente von Hans Leyendecker nachvollziehen, weil er sagt: "Auch diesseits dieser Grenze haben wir es mit einer AfD zu tun, die sich in den Sog hineinziehen lässt, der hin zu völkischem Denken und einem nicht mehr akzeptablen Denken führt". Und im selben Moment muss ich sagen, diese Ausgrenzung der AfD - voll und ganz, pur et simple - halte ich für unklug und für falsch.
Florin: Zur Erklärung, Hans Leyendecker ist der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages im nächsten Jahr. Sie schreiben in Ihrem Buch "Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts": Diese Zeit der vollen Kirchen, diese Zeit der Wirtschaftswunderjahre - das war historisch gesehen die Ausnahme, und wir kehren jetzt eigentlich in so eine Art Normalität zurück. Welchen Einfluss hat es zum Beispiel, wenn Kirchen Papiere machen zur Demokratie, dazu aufrufen, dem Populismus zu widerstehen, geradezu auch diese Demokratie zu retten?
Rödder: Wenn die Kirche sich zu sehr ins alltägliche, politische Geschäft hineinbegibt, dann ist sie auch so ein alltäglicher, politischer Akteur, wie alle anderen. Und so, wie die SPD im Moment erleben musste, dass sie keine Ewigkeitsgarantie hat, sondern sich im freien Fall nach unten bewegen kann, so ist das für die Kirchen auch. Und für die katholische Kirche ist es obendrein ganz besonders problematisch, weil die gegenwärtige Aufarbeitung der Missbrauchskrise die Autorität der katholischen Kirchen sowieso massiv erschüttert. Die Kirchen müssen aufpassen, dass sie ihren Glaubwürdigkeitskredit nicht überziehen.
"Man wird es der katholischen Kirche immer um die Ohren hauen"
Florin: Kann diese katholische Kirche überhaupt noch eine moralische Autorität sein, die in Ethikräten vertreten ist? Oder wird man der immer um die Ohren hauen: "Kehrt vor eurer eigenen Haustüre"?
Rödder: Man wird es ihr immer um die Ohren hauen. Und das ist ja auch das fundamentale Glaubwürdigkeitsproblem der katholischen Kirche, mit dem sie nicht nur jetzt, sondern auch auf absehbare Zeit massiv konfrontiert sein wird. Deswegen glaube ich, hilft es der katholischen Kirche nur, sich ehrlich zu machen und ansonsten mit der gebotenen Balance und der gebotenen Klugheit auf dem zu bestehen, wo man sagt "ja, das können wir als katholische Kirche tatsächlich in die gesellschaftliche Debatte guten Gewissens einbringen, ohne uns ständig sagen lassen oder fragen zu müssen, ob wir das nicht selbst uns völlig verunmöglicht haben, weil unsere eigene Glaubwürdigkeit gelitten hat."
Florin: Sie haben ja vorhin das Beispiel der SPD kurz angesprochen. Kann man ja auch allgemein als Beispiel dafür nehmen, dass Institutionen wie Parteien, wie Gewerkschaften und eben auch wie Kirchen erodieren. Was bedeutet das gesellschaftlich?
Rödder: Die Institutionen tatsächlich verlieren an Bedeutung, wobei es zugleich Autorität gibt. Es ist ja nicht so, als gäbe es keine Autorität. Alleine die Klage über die sogenannte Political Correctness heißt ja, dass es Regeln gibt, Regeln des Sagbaren, aber dieser Rahmen des Sagbaren, der uns heute allen als Autorität entgegentritt, der scheint zwar sehr anonym, aber im selben Moment wird er gemacht. Es gibt Akteure, die diesen Rahmen machen.
"Keine Ewigkeitsgarantie"
Florin: Aber es halten sich doch viele gar nicht daran und sagen, was man angeblich nicht sagen darf.
Rödder: Ja, aber die Grenzen werden ja in dem Moment sichtbar, wo darüber gesprochen wird. Und selbst die, die sagen, was sie meinen nicht sagen zu dürfen, tun ja etwas, wovon sie in dem Moment wissen, dass das eigentlich gegen den Comment ist. Und in dieser Grenzziehung haben die Kirchen eine abnehmende Glaubwürdigkeit aus den Gründen, die wir gerade genannt hatten, aber diese Autorität, wie gesagt, die gibt es schon. Ich meine, es hat viele Institutionen gegeben, Organisationen, die historisch gesehen untergegangen sind, selbst die, die nie daran geglaubt haben - Erich Honecker hat noch gesagt "den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf". Und der Sozialismus fühlte sich wissenschaftlich bestätigt. Also, als Historiker sage ich: Es ist nichts für die Ewigkeit. Die Katholische Kirche ist mit 2000 Jahren ziemlich nahe dran, aber selbst das ist, wenn wir auf die gegenwärtige Krise schauen, keine Ewigkeitsgarantie.
Florin: Auch das vermeintlich Ewige kann für den Historiker nur ein Provisorium sein. Mit Andreas Rödder von der Universität Mainz habe ich über die politische Einmischung der Kirchen in Geschichte und Gegenwart gesprochen. Damit endet Tag für Tag für heute an diesem 3. Oktober. Ich bin Christiane Florin. Danke fürs Zuhören und Danke fürs Mitdenken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.