Wenn es um Kirchenabrisse in der DDR geht, sind die Medien mit Erklärungen schnell bei der Hand: Die SED-Oberen waren schuld, insbesondere SED-Chef Walter Ulbricht. Er gilt gemeinhin als der Kirchenfeind und damit auch als der Kirchenzerstörer. Beim Thema der Kirchensprengungen zu DDR-Zeiten laute der übliche Topos – moniert Kunsthistoriker Arnold Bartetzky – dass die Kirchen auf Geheiß des SED-Chefs geschliffen, also abgerissen worden seien. Doch so einfach sei es eben nicht, sagt - im Rahmen eines Vortrags an der Potsdamer Garnisonkirche - Bartetzky, Abteilungsleiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig und Honorarprofessor an der Universität Leipzig: "Ich denke erst mal, dass man die Rolle von Ulbricht auch nicht überschätzen sollte. Er war natürlich ein Feind von Kirchen, auch von Kirchenbauten im Stadtraum. Aber im Zuge der Vorbereitungen zu diesem Vortrag ist mir klar geworden, dass der vermeintliche Wille von Ulbricht, eine Kirche abzureißen oder der vermeintliche Befehl von Ulbricht – in Leipzig sagt man: "Das Ding muss weg in Bezug auf die Paulinerkirche" –, dass da ziemlich viel Legendenbildung dabei ist."
"Eine Folge lokaler Entscheidungen"
Bartetzky beruft sich in seiner Argumentation unter anderem auf Arbeiten von Matthias Lerm und Christian Winter, die sich den Kirchenabrissen gewidmet haben. Deutlich werde beim Quellen-Studium, sagt Kunsthistoriker Bartetzky, dass jene Akteure, die Zerstörungen befürwortet haben, keinesfalls nur aus den Reihen der SED kamen. Schon gar nicht könne man SED-Chef Walter Ulbricht alleine für Kirchensprengungen in der DDR verantwortlich machen.
Bartetzky: "Meistens waren die Kirchenabrisse eine Folge lokaler Entscheidungen, an denen die SED-Spitzen beteiligt waren, an denen die Stadtspitze beteiligt war. Oftmals auch der Nutzer. Die Universität Leipzig war selbst interessiert am Abriss der Universitätskirche."
In anderen Fällen, wie etwa der Dresdner Sophienkirche, hatte selbst die Kirchenleitung den Erhalt des Sakralbaus aufgegeben. Später setzte man sich zwar für den Erhalt ein, aber nur ziemlich halbherzig. Und nur unter dem Druck der Gemeindemitglieder, erzählt Bartetzky, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung:
"Dann gab es 1949 einen Vorschlag zum Wiederaufbau. Aber: Das evangelisch-lutherische Landeskirchenamt hat sich dagegen ausgesprochen. Man hat sich damals seitens der Kirche entschieden, das Gebäude Zitat – 'völlig abzuschreiben'. Und es kam zum Beschluss des Landeskirchenamts, die Ruine nicht zu erhalten. Das war eine Entscheidung der Kirche."
Zerstören am Modell
Die Sophienkirche stand in der Nähe des Zwingers. Mit den zwei markanten gotischen Spitztürmen prägte sie einst das Dresdner Stadtbild. An der Silbermannorgel – die erste in Dresden überhaupt - spielte einst Johann Sebastian Bach, später war dessen Sohn Wilhelm Friedemann Bach dort Organist.
Bei den Angriffen der Alliierten auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 – als aus der Barockstadt Dresden eine Trümmerwüste wird – brannte auch die Sophienkirche aus. Die Turmstümpfe wie Reste des Kirchenschiffs blieben aber erhalten. Die Kirche war – wie es damals hieß – in einem durchaus "wiederaufbaufähigen Zustand".
SED-Chef Walter Ulbricht konnte mit der Sophienkirche jedoch wenig anfangen. Deutlich wurde das bei einem Besuch des SED-Chefs in Dresden: Überliefert ist, dass Ulbricht Anfang der 1960er-Jahre vor einem Wiederaufbau-Modell der kriegszerstörten Stadt gestanden und die Kirche aus dem Modell eigenhändig herausgenommen haben soll. Was bis heute als eine Anweisung Ulbrichts verstanden wird, dass man die Kirche entfernen, ja abreißen solle. Weil sie nicht ins Stadtbild passte.
"Ulbricht hat sicherlich zu ihrem Ende beigetragen mit seinen Einlassungen, mit seinen Interventionen", sagt Architektur-Experte Bartetzky. "Aber er war keineswegs der einzige, der für den Abriss eintrat. Und es gab auch keine klare Frontstellung. Hier: die Abrissbefürworter von der SED und von der Staatsmacht. Da: die Gegner auf Seiten der Kirche und der Bürgerschaft."
"Kirchen sollten keine Rolle spielen"
Eine Lesart, die auf Widerspruch stößt. Der Bauingenieur und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Potsdamer Denkmalpfleger Andreas Kitschke kritisiert die Betrachtung Bartetzkys als einseitig. Der vorauseilende Gehorsam der SED-Genossen gegenüber Ulbricht habe in der DDR eine große Rolle gespielt, die man nicht vernachlässigen dürfe. Weshalb man den SED-Chef bei den Kirchenabrissen als den Strippenzieher bezeichnen müsse. Hätte Ulbricht keinem Abriss, keiner Sprengung zugestimmt, wäre es dazu auch nicht gekommen. Genau dieser Aspekt käme bei Bartetzky schlicht zu kurz, so Denkmalpfleger Kitschke.
"Bei Ulbricht war es auch so, er hatte eine Idee wie Städte auszusehen haben und da sollten Kirchen keine Rolle spielen. Dieser Satz gilt. Und das wurde von den Niederen in der SED eben weiterverfolgt und verinnerlicht."
Saskia Hüneke – die frühere Kustodin der Skulpturensammlung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten - ergänzt, dass bei dieser Art von Betrachtung der Charakter von Diktatur nicht verstanden werde. Allzu oft hätten gerade die unteren lokalen SED-Kreise im vorauseilenden Gehorsam agiert. Weshalb es hinsichtlich der Kirchenabrisse das Wort von SED-Chef Walter Ulbricht gar nicht gebraucht hätte.
Hüneke: "Das ist eben das Typische von so einer Diktatur. Sie funktioniert ja nur dadurch, dass sich die größte Menge der Menschen anpasst. Das ist ja das Furchtbare daran."
"Wir wollen moderne Räume haben"
Man weiß heute von etwa 60 Kirchen, die im Zeitraum zwischen 1947 und 1987 in der DDR abgerissen beziehungsweise gesprengt wurden. "Die Zahl ist unsicher und gewiss zu niedrig. Viele Kirchenzerstörungen in kleinen Städten und Dörfern sind nicht bekannt", so Historiker Ilko- Sascha Kowalczuk in seinem Standardwerk "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR."
Eine der spektakulärsten Kirchen-Sprengungen ist neben der Potsdamer Garnisonkirche die der Leipziger Universitätskirche. Sie hatte alle Kriege überlebt, wie den Siebenjährigen Krieg, den Dreißigjährigen, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Erst die DDR hat die völlig erhaltene Kirche abgerissen. Aber nicht nur, weil es SED-Chef Walter Ulbricht so wollte; beteiligt waren an der Entscheidung in einem ganz erheblichen Maß die örtlichen Parteispitzen und die Universitätsverwaltung, sagt Bartetzky: "Und den Anstoß gab eine Erklärung der Universitätsleitung. Die Universität ist der Eigentümer der Universitätskirche. Die Universität hat erklärt, dass die bestehenden Bauten zu klein seien und nicht mehr angemessen für den modernen Lehrbetrieb. Die Universität hat gesagt, das passt uns nicht mehr. Wir wollen jetzt die Chance nutzen, wir wollen was Neues. Wir wollen moderne Räume für unsere Lehre haben."
"Das Ding muss weg"
Ein weiterer Aspekt war auch, dass die Leipziger Stadtverordneten diskutierten, wie man aus dem Stadtzentrum eine "moderne sozialistische Stadt" machen könne. Die Universitätskirche stand da den Planungen am Karl-Marx-Platz, dem heutigen Augustusplatz im Weg, weshalb man beschloss, die Kirche abzureißen.
Es war aber keinesfalls Ulbricht für den Abriss allein verantwortlich, moniert Bartetzky. Und erinnert an den Besuch von Ulbricht 1960 in seiner Heimatstadt und dessen Ausspruch: "Das Ding muss weg".
"Es ist durchaus nicht sicher, dass er diese Äußerung wirklich getan hat.
Das würde man allerdings aber bis heute behaupten, kritisiert er mit harschen Worten. Und verweist auf den Text der Gedenktafel, die an der Universitätskirche angebracht ist, die Geschichte aber schlicht verdrehen würde. Wörtlich heißt es da:
"Am 30. Mai 1968 wurde die Universitätskirche gesprengt. Diesen Akt der Willkür verhinderten weder die Stadtverordneten noch die Leipziger Universität. Sie widerstanden nicht dem Druck eines diktatorischen Regimes."
Bartetzky: "Also hier wird im Grunde der Eindruck erweckt - das ist eigentlich ziemlich dreist - die Stadt und die Universität seien die Opfer gewesen. Und dabei ist das Gegenteil der Fall. Sie selbst waren Akteure. Sie haben ja selbst den Abriss vorangetrieben. Natürlich gab es die Kirchenfeindlichkeit, es gab eine anti-christliche Stoßrichtung der SED-Politik. Aber gleichzeitig – das muss man auch ganz klar sehen: Das Christentum war in der DDR nicht verboten, die evangelische Kirche war legal. Und sie war ein wichtiger Akteur in den gesellschaftlichen Prozessen und war in vielem durchaus ein Partner des SED-Regimes."
Bartetzky will keine neuen Schuldigen benennen, wie er am Ende noch sagt. Ihm gehe es um historische Genauigkeit, um einen ehrlichen Blick auf die Geschichte.