"Er war ein Individualist und einer, der sich ungern etikettieren und kategorisieren ließ. Dafür war er viel zu lebendig. Er gehört hinein in die Tradition des aufgeklärten Protestantismus", sagt Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, über Theodor Fontane. Der Apothekersohn, Journalist und Schriftsteller entstammte einer alten Hugenotten-Familie und war so im Grunde dem reformierten Christentum verpflichtet.
Fontane war ein kritischer Geist, gerade der eigenen Kirche gegenüber, sagt Claussen: "Kirchenkritisch war er vor allem der kirchlichen Obrigkeit gegenüber. Er hat scharfe polemische Porträts von kirchlichen Karrieristen, Konsistorialräten geführt. Immer da, wo Kirche sich zur Magd der Herrschaft gemacht hat, da war er dagegen. Er war überhaupt gegen jede Form von Klerikalismus. Aber es gab bestimmte Formen von christlicher Frömmigkeit, der er sehr offen gegenüberstand und dafür steht für ihn ja das Bild des alten Dorfpastors in der Mark Brandenburg."
Begeistert von den Pfarrern
Fontane fand in den Brandenburger Dorfpfarrern ein intellektuell ebenbürtiges Gegenüber. Sie waren wichtige Informanten für seine Romane, erklärt Johann Hinrich Claussen. "Die Pfarrer waren ja bis ins Ende des 17. Jahrhunderts Bauern, die gelegentlich einen Gottesdienst gehalten haben. Anderes war das ja gar nicht möglich in der armen Zeit. Die Akademisierung beginnt dann mit dem 18. Jahrhundert. Erst im 18. Jahrhundert wird das Pfarrhaus zur Brutstätte des Protestantismus als einer Bildungsbewegung. Zugleich liegt darin auch die Gefahr der Intellektualisierung, dass man sich entfernt vom gemeinen Volk, den normalen Leuten", so Claussen.
"Fontane geht es nicht nur um Bildung, sondern es geht ihm darum, dass da einer ist im Dorf, der für alle da ist. Der nicht nur auf der Seite der Armen oder der Herren steht, sondern der alle Schichten miteinander verbindet und zum gesellschaftlichen Ausgleich ganz wesentlich mit beiträgt. Und wenn der lesen und schreiben kann, und die Geschichte pflegt und die Chroniken führt, dann ist es ihm umso lieber. Er zitiert ja zum Teil aus wunderbar alten Pastorentagebüchern, weil die Pastoren eben diejenigen sind, die lesen und schreiben konnten und eben die Historie aufbewahrt haben."
Das bestätigt auch die Germanistin Christiane Barz, die die aktuellen Geburtstagsausstellungen "Fontane200" mit aufgebaut hat. Die sind in vielen Städten im Land Brandenburg zu sehen. "Von den Pfarrern war er ganz besonders begeistert, weil die mit dem Bedeutungsverlust des lokalen Adels eigentlich die Rolle übernommen haben, die lokale Überlieferung lebendig zu halten und fortzusetzen und zu vermitteln. Und eben auch noch die Form ihm mit zu liefern, also eine Gewandtheit im Formulieren und Strukturierung von Erzählung haben die schon mitgebracht."
Fontane war kein nüchterner Historiker, sondern ein Schriftsteller, der die vielen geschichtlichen Details rund um die Pfarrhäuser als Fundgrube benutzte. Er fand diese Details auch in alten Büchern, die nicht auf Papier, sondern noch auf Hanf geschrieben waren.
"Ein ganz grandioses Beispiel ist das Kirchenbuch von Gröben und Siethen", erklärt die Germanistin. "Da ist das älteste Kirchenbuch, was es überhaupt in Brandenburg gibt. Und da interessiert sich Fontane für die Aufzeichnungen von drei Pfarrern, die sich in ihren Aufzeichnungen den ganzen Frust über die moralische Verderbtheit in Gröben und Siethen von der Seele schreiben, als ganz rigide Moralapostel. Und das entbehrt nicht einer unfreiwilligen Komik, wenn wir das heute lesen, wer wieder ein uneheliches Kind mit welchem Schandsack gekriegt hat. Fontane fragt sich dann, ist das überhaupt zulässig, wenn Pfarrer sich so in diesem vermeintlich objektiven Registrierungsmedium Kirchbuch äußern. Und er findet: ja. Er findet, das sei durchaus ein legitimes kirchliches Zuchtmittel. Und als solches zitiert er es."
Der reformierte Protestant
Fontane sog alle Informationen auf, aus Dorfkirchen und ihrem Inventar, aus Grüften, Grabinschriften, Bildern und Heiligenschreinen. Eine riesige Materialsammlung. Aus Notizen wurden erste Manuskriptentwürfe mit Einklebungen, Artikel in Zeitungen - bis hin zu seinen Romanen, den fünfbändigen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg".
Fontane, dem reformierten Protestanten, war gerade die katholische Zeit vor der Reformation wichtig. Zum Beispiel Totenkronen, die etwa für verstorbene Säuglinge oder Kinder in die Kirche gehängt wurden. "Er bedauert es sehr, dass zum Beispiel Totenkronen als Staubfänger verbannt worden sind", sagt Christiane Barz. "Er ist überhaupt kein Anhänger der radikalen Restaurationen, das Gebäude außen und innen lässt sich nicht mehr lesen. Da sieht Fontane vor allen Dingen den Verlust. Er hat es sehr bedauert, dass diese alten katholischen Schnitzaltäre entweder grässlich überstrichen waren oder in einer Rumpelkammer landeten. Und da ist Fontane so ein bisschen als früher Pionier der Denkmalpflege zu Werke gegangen."
Vom Bilderverbot der Reformierten und ihren kargen Kirchen hielt Fontane nicht viel. Und mit weißen Wänden, wie sie zu seiner Zeit typisch waren, konnte der Schriftsteller so gar nichts anfangen, sagt Christiane Barz: "Er wollte die Spuren des Vorhergehenden im Neuen sehen. Seine Idealvorstellung war - und das ist auch der Romancier Fontane und seine Dynamik von alt und neu - er möchte einfach, wenn eine Kirche auch umgebaut wird, möchte er, dass ein Fresko oder ein Bildwerk noch erhalten bleibt, um bei allem antikatholischen und reformatorischen Furor einfach noch die Spuren der eigenen Historie sichtbar zu halten. Das empfindet er ja auch als seine Aufgabe und deswegen tritt er überhaupt an in Brandenburg, um dieses Land mit seiner poetischen Wünschelrute, wie er das nennt, zum Leben zu erwecken, dass man da auf den ersten Blick vielleicht nichts sieht, auf den zweiten Blick aber schon. Dass man sich seiner Herkunft vergewissert."
Feinsinn für Historie und Pluralismus
Fontane entwickelte geradezu eine Abscheu gegen Architekten, die alles einfach nur noch übertünchen wollten. Das hat auch der Kulturbeauftragte der EKD Johann Hinrich Claussen beobachtet.
"Da ist natürlich das 19. Jahrhundert, wo man keinen Sinn hatte dafür, dass man unterschiedliche Zeitschichten in einem Raum bewahren und miteinander in Beziehung setzen muss. Dann kam das Neue und dann wurde der Kirchraum dem angepasst und es wurde keine Rücksicht genommen auf Älteres. Und da hat Fontane einfach einen feinen Sinn für Historie und für Pluralismus, für Vielfalt."
Und so entwarf Fontane auch seine Idee einer guten Gesellschaft. Das Miteinander zwischen einfachen Leuten und dem Herren, dem Patron im Dorfe. Der Pfarrer mittendrin. Die meisten Dorfkirchen waren Patronatskirchen, die einst vom örtlichen Adel gestiftet wurden.
"Bei den Patronen unterscheidet er auch diejenigen, die als ein Junkergeschlecht, dass von gesellschaftlicher Abdankung bedroht ist und deshalb umso schärfer an den eigenen Privilegien festhält. Davon hat er nichts gehalten und hat schöne scharfe Sprüche gegen den Brandenburger Dorfadel und Landadel losgelassen'", sagt Claussen.
"Aber im 'Stechlin' zum Beispiel schildert er ja das Ideal eines Patrons, eines alten Mannes, der weiß, dass seine Zeit und seine Herrschaft vorübergeht und der in dieser weichen Resignation eine große Weitherzigkeit bewahrt und sich eben doch von den Tugenden der alten Patrone einiges gerettet hat, nämlich für alle da zu sein und nicht nur die eigenen Privilegien zu verteidigen."
Und so erschrieb Fontane sich das Ideal des sozial engagierten Pfarrers Lorenzen in seinem Alterswerk "Der Stechlin": "Das ist eigentlich ein linker Pastor, der für die junge Sozialdemokratie auch einsteht, für ein gutes Verhältnis zur Arbeiterschaft", sagt Claussen. "Der ist links, ist aber zugleich der sehr geschätzte Seelsorger des alten Patrons. Also auch diese Möglichkeit, über den Gräben Brücken zu bauen."
Judenfeindliche Klischees
In Fontanes Idealgesellschaft hatte eine gesellschaftliche Gruppe allerdings keinen guten Stand – wie es auch bei vielen seiner Zeitgenossen war: Jüdinnen und Juden.
"Ich hatte gelernt, dass es bei Fontane zunehmend im Alter in Tagebuchaufzeichnungen, in persönlichen Briefen, scharfe antijüdische Aussagen gibt. Judenfeindliche Sprüche hat er gedroschen im Privaten. Dass er in seinen Romanen nicht eindeutig judenfeindliche Klischees verbreitet hat. Und stoße dann in seiner Gesamtausgabe der Gedichte und Balladen auf das Gedicht 'die Jüdin' im Gewande einer Schauerballade von einem Ritualmord erzählt. Eine Jüdin tötet ein Christenkind."
Und die Germanistin Christiane Barz sagt: "Fontane sieht schon die kulturelle Potenz der gebildeten Juden um ihn herum. Sein Verleger Wilhelm Hertz war Jude. Und auch ein wichtiger Briefpartner, Georg Friedländer, war auch Jude. Auf dieser persönlichen Ebene, das war wahrscheinlich ganz typisch, da ist Fontane auch Kind seiner Zeit, dass man da Ressentiment hat, wenn es die Juden, den Juden angeht. Aber im persönlichen Verhältnis sah das dann ganz anders aus."
"Fontane baut Brücken"
Trotz seiner antisemitischen Züge kann Fontane auch heute noch als Versöhner wirken – etwa zwischen West- und Ostdeutschland. Johann Hinrich Claussen findet, "dass Fontane ein toller Wegweiser und Verführer ist, der Menschen in die neuen Bundesländer führt. Ich finde, das ist von neuem nötig, denn immer noch sind viel zu wenige Westdeutsche mal in Ostdeutschland gewesen und Fontane baut Brücken und macht Türen auf und macht einfach Lust, sich das mal anzuschauen."
Nicht die großen Dome und Kathedralen sind das Wichtige, sondern die kleinen Dorfkirchen aus Fachwerk oder Feldsteinen, meint zusammen mit Theodor Fontane auch die Germanistin Christiane Barz: "Wenn man sich vom Pfarrer aufschließen lässt und der einem was dazu erzählt, dann tun sich auf einmal so ganz interessante Schlüssellochblicke in eine Lokalgeschichte auf."
Nämlich im Brandenburgischen den Pfarrern und den Kirchen ihre Geheimnisse entlocken – so wie es einst auch Theodor Fontane gemacht hat.