"Eine ungewöhnliche Tischgesellschaft! Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Männern, die aussehen, als seien sie in Gassen und Schänken aufgelesen worden."
Es sind ungehobelte Gesellen, die sich um einen Tisch herum flegeln, auf dem ein heilloses Durcheinander von Tellern und Speisen herrscht. Dargestellt ist Jesus mit seinen Jüngern beim letzten Abendmahl, das in diesem Fall eher an eine derb-rustikale Bauernhochzeit erinnert. Auch wenn die Jünger zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass ein Verräter unter ihnen ist, hebt der Maler Judas Ischarioth bereits deutlich heraus.
"Dieser Judas ist die Inkarnation aller Laster: In ein gelbes Gewand gehüllt, springt er jäh auf, wirft seinen Stuhl um und rempelt dabei einen Diener an, der prompt den Wein verschüttet. Die dunkelrote Weinlache am Boden ist Vorzeichen für das drohende Blutvergießen Jesu."
Das gelbe Gewand des Judas steht für das Laster des Neids, aber auch für die Farbe des Goldes und damit für die Sünde der Habgier. Hochmütig reckt er den Kopf und öffnet den Mund, in den geradewegs eine fette, eklige Schmeißfliege hineinfliegt – das Sinnbild des Teufels. Das hebräische Wort "Beelzebub" bedeutet "Vater der Fliegen".
Unter dem Tisch lässt Judas die "Gebetbücher des Teufels" fallen: Spielkarten! Deutlich sichtbar: die Schellen- oder Narrenkarte.
"Es heißt im 53. Psalm: 'Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott…' Damit ist Judas der Gottesleugner. Außerdem fallen noch drei Würfel aus seinem Gewand, die alle die Augenzahl 6 zeigen. 6, 6, 6 – das ist die Satanszahl der Apokalypse. Und dann ist da noch etwas ganz Ungeheuerliches zu sehen: Judas zeigt das Merkmal der 'concupiscentia', der unersättlichen Begierde. Der Maler stellt ihn mit erigiertem Penis dar."
Was Wolfgang Urban, Kustos des Diözesanmuseums in Rottenburg am Neckar hier beschreibt, ist eine der ungewöhnlichsten und verstörendsten Darstellungen der christlichen Kunst, die Abendmahlsszene auf dem linken Flügel des Herrenberger Altars von Jörg Ratgeb.
Auf dieser um das Jahr 1519 gemalten Tafel findet sich keine Spur von der Erhabenheit des Geschehens, nichts von der sanften Schönheit der Gesichter eines Leonardo, nichts von der inszenierten Eleganz eines Tizian und schon gar nichts von der ruhigen Würde und Innerlichkeit eines Dirk Bouts. Stattdessen, so scheint es, spiegelt sich hier der Querschnitt eines entfesselten, spätmittelalterlichen "Prekariats":
Derbe Gestalten lümmeln sich auf engstem Raum herum, schwatzen heftig gestikulierend aufeinander ein; einer der Jünger schnäuzt sich ungeniert in die Hand und selbst die zentrale Figur Jesu, die segnend – oder eher beschwichtigend? – die Hände hebt, hat schlichte, beinahe einfältige Gesichtszüge.
"Ich, Jörg Ratgeb Maler, hätte einen hübschen, feinen, gülden Herrgott, den ich gekonnt hätte, nicht gewollt."
Hat der Künstler selbst zu Protokoll gegeben.
Nach dem hitzigen Drama der Reformation verstaubte dieses Altarbild über 400 Jahre lang in der Herrenberger Stiftskirche. Auch sein Schöpfer wird aus dem Gedächtnis der Zeitgenossen getilgt, nachdem er während des Bauernkriegs 1525 Partei für die Aufrührer ergreift und dafür auf grausame Weise sein Leben lässt. Die Kunsthistorikerin und Ratgeb-Expertin Sabine Oth:
"Im Lauf der Jahrhunderte ist nicht nur dem Werk übel mitgespielt worden, auch der Name des Malers geriet in Vergessenheit. Noch im 18. Jahrhundert waren weder die Frankfurter noch die Herrenberger Chronisten in der Lage, Jörg Ratgebs Monogramm aufzulösen."
Vielleicht fand man die Bilder zu "abstoßend" und "hässlich", so jedenfalls urteilte ein Prälat des 19. Jahrhunderts. Vermutlich konnte man auch mit dem Malstil des Künstlers, der sich zwischen spätgotischem Realismus und expressivem Frühhumanismus bewegte, nichts anfangen.
Außerdem galt Jörg Ratgeb als einer der "gottlosen" Künstler, weil er wie Matthias Grünewald und Tilman Riemenschneider mit den aufständischen Bauern sympathisierte.
Über diesen Maler und seine Bilder ist kaum etwas Gesichertes bekannt.
Die Schaffensperiode, die dem württembergischen Meister Jörg Ratgeb vergönnt ist, umfasst nur zwei Jahrzehnte des frühen 16. Jahrhunderts. In dieser Zeit gelingen ihm drei monumentale Werke: der Hochaltar der Stiftskirche im baden-württembergischen Herrenberg, der Barbara-Altar in der Kirche von Schwaigern bei Heilbronn und sein eigentliches Hauptwerk – ohne Beispiel in der deutschen Malerei dieser Zeit – die über 650 Quadratmeter bemalten Wände in den Karmeliterklöstern von Hirschhorn und Frankfurt.
Weil Jörg Ratgeb zu den verschollenen Gestalten einer unruhigen Epoche gehört, ranken sich um sein Werk und Schicksal Mythen und Legenden bis in unsere Zeit. Den einen gilt er Nachzügler des Mittelalters, den anderen als Vorläufer eines religiösen und bäuerlich-bürgerlichen Freiheitsdranges. Und wegen seiner Verstrickung in den Bauernkrieg ist er auch immer wieder zum Sozialrevolutionär erklärt worden.
Doch die Person des Malers ist nicht wirklich fassbar. Vielleicht ist das Schweigen der Quellen ein Hinweis auf Ratgebs selbstverständliche Verankerung in der mittelalterlichen Traditionsgebundenheit. Anders als etwa bei seinem berühmten Zeitgenossen Albrecht Dürer hätte Ratgeb wohl die Selbstreflektion des "modernen" Renaissancekünstlers ferngelegen. Und so mag allenfalls gelten, was der Schweizer Kunsthistoriker Richard Zürcher so formuliert:
"Unter seinen Zeitgenossen ist keiner so sehr in den Strudel jener Epoche gerissen worden wie Jörg Ratgeb, was in seinen Gemälden einen so vehementen Ausdruck erreicht wie sonst nur bei Grünewald."
Und auch der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger, Verfasser der einzigen großen 1964 erschienenen Ratgeb-Biografie, bilanziert:
"Bei keinem Maler jener Zeit lässt sich der Zwiespalt der Epoche so mit Händen greifen wie bei Jörg Ratgeb, der sich im Zusammenprall der alten und der neuen Weltanschauung zu behaupten sucht, bis er als 'Kriegsrat' auf der Seite der Bauern unterging."
Der Herbst des Mittelalters bestimmt Ratgebs Leben:
Die Idee eines abendländischen "Imperium Romanum" verblasst. Überall in Europa entwickeln sich aufstrebende Nationalstaaten. Deutschland besteht nach der Wormser Reichsmatrikel aus rund 300 geistlichen und weltlichen Territorialstaaten, Grafschaften, reichsfreien Städten und reichsritterschaftlichen Gebieten. Die Zustände dort gleichen einem Kampf aller Gewalten gegeneinander: der Kaiser gegen die Fürsten, die Fürsten untereinander, Städte, Ritter und Bauern gegen die Landesherren, Patrizier gegen Bürger.
Besonders beklagenswert ist die Lage der Bauern. Bitterarm und durch hohe Abgaben drangsaliert sind sie allemal; und als Leibeigene sind sie und ihre Familien völlig rechtlos und ihrem Grundherrn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
In dieser von widerstreitenden Kräften zerrissenen Zeit wird um das Jahr 1480 – vermutlich in Schwäbisch-Gmünd – Jörg Ratgeb geboren. Vieles vom "Zeitgeist" dieser spannungsgeladenen Epoche wird sich in seinen Bildern wiederfinden. Seine Lebenszeugnisse sind so spärlich, dass nichts über seine Herkunft, seine Ausbildung, seine Lehrer bekannt ist.
1503 erhält er in Stuttgart das Bürgerrecht, danach finden wir ihn im Rhein-Main-Gebiet, von 1509 bis 1512 in Heilbronn, danach wieder in Frankfurt und Stuttgart. Auf das Jahr 1510 ist sein Barbara-Altar in der Johanniskirche in Schwaigern bei Heilbronn datiert und mit "I. R. M.", "Jörg Ratgeb, Maler" signiert. Es ist der einzige Altar des Meisters, der bis heute an seinem ursprünglichen Platz steht.
Der kleine Flügelaltar erzählt Geschichte und Martyrium der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute und der Sterbenden, Helferin bei Blitz- und Feuergefahr. Der Legende nach war sie so schön, dass ihr heidnischer Vater sie in einen Turm sperrte, damit niemand sie zu Gesicht bekam. Dennoch hielten immer wieder Bewerber um ihre Hand an.
Sabine Oth: "Hier setzt die Geschichte, die Ratgebs Altar erzählt, ein. Auf dem Turm steht Barbara in einem schlichten, hellroten Gewand mit offenem Haar. Ratgeb führt die Geschichte in zwölf Szenen fort. Die Schilderung endet mit den Folterszenen des Martyriums und der Enthauptung der Heiligen durch ihren eigenen Vater. Er steht hinter ihr, hebt ihr langes Haar hoch, damit der Nacken freiliegt, während er schon den Krummsäbel zum tödlichen Schlag gehoben hat."
"Kunsthistoriker bewundern das Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren, dazu den Kontrast des finsteren Vaters und des hellen Gesichts der Barbara. Hier wird der Betrachter mit der Mordbereitschaft des einen und der betenden Hingabe der anderen konfrontiert.","
schreibt der Ratgeb-Experte Reinhard Kuhnert.
In den Einzelszenen der Tafeln, in denen er den Leidensweg der Heiligen Barbara ausbreitet, zeigt Ratgeb die ganze Bandbreite seines Könnens, variiert Stil, Anordnung der Szenen und Farbgebung. Fast könnte man meinen, es mit zwei Künstlern zu tun zu haben:
""Dort ein der Renaissancekunst entlehnter Formbegriff der strengen Komposition und rhythmischen Gruppierung; hier der spätgotische Legendenstil, der aus dem Bildwerk ein Panoptikum zu machen scheint."
Notiert Wilhelm Fraenger und fährt fort:
"Dort eine hochpathetische Tragödie, hier eine bänkelsängerische Moritat, ein in sich geschlossenes Schaubild, ein Lesebild, das man wie Zeilen eines Buches zu durchlaufen hat. Ein anderer und doch derselbe Jörg, der eben beides war: ein 'hoher' Künstler und ein Mann des Volkes."
Der Künstler dieser Zeit steht zwischen den Fronten und Epochen.
Das Mittelalter kannte vor allem die Kirche als Auftraggeber der Kunst und die Kleriker bestimmten Form und Inhalt. Denn die Kunst hatte allein Dienerin zur Ehre Gottes zu sein. Das Individuum war nichts, die göttliche Ordnung alles.
Doch nun, da am Horizont ein neues Zeitalter – das des Humanismus und der Renaissance – heraufdämmert, brechen alte Strukturen auf. Ein auf-strebendes städtisches Bürgertum höhlt langsam die feudale Ordnung aus.
Der handeltreibende Bürger blickt weiter als bis zum nächsten Kirchturm: hin zu fernen Ländern und neuentdeckten Kontinenten. Sein neues Selbstbewusstsein fordert Entfaltungsmöglichkeit für Individualität auch in der Kunst. Die Porträtmalerei kommt auf.
Für Jörg Ratgeb sind die Heilbronner Jahre von Kummer überschattet. Als freier Bürger mit dem Meisterrecht ausgestattet ist er in die Stadt gekommen, doch dann heiratet er eine Frau, die Leibeigene des Landesherrn, Herzog Ulrich von Württemberg, ist. Ratgeb muss versuchen, seine Frau freizukaufen, da sonst auch seine Kinder als Leibeigene des Herzogs aufwachsen werden.
Er richtet mehrere verzweifelte Bittschreiben an den Herzog:
"Ist es meine ganz untertänigste und demütige Bitte, dass Seine Gnaden mir mein Weib und Kind der Leibeigenschaft ledig sagen… Wenn ich mein Arbeit, die ich in der Zeit bei Euer Gnaden zu vollenden angenommen hab, aufgeben und von dannen ziehen müsste, brächte mir das merkliche Beschwer… So ist es meine untertänigste Bitte, mich meinen Pfennig mitsamt meinem Hausgesind bei Euer Ehrsamen Weisheit verzehren zu lassen… und mein Weib und Kind der Leibeigenschaft zu entledigen."
Alle seine Gesuche werden abgelehnt! Und auch die Eingaben des Heilbronner Magistrats können den Herzog nicht umstimmen. Da er mit einer Leibeigenen verheiratet ist, wird Ratgeb schließlich selbst das Bürgerrecht aberkannt. Er erhält nur noch eine befristete Aufenthaltsbewilligung und muss 1512 Heilbronn verlassen. Aus diesen Erlebnissen folgert Wilhelm Fraenger später:
"Es leuchtet ein, dass der in diesen harten Sozialkonflikt verstrickte Maler schon um seiner eigenen Sache willen künftig dem bäuerlichen Freiheitsbanner folgen musste."
Dennoch – der ihm aufgezwungene Weg hinaus aus der provinziellen Enge der Kleinstadt eröffnet ihm den Zugang zu neuen Kunst- und Welterfahrungen. Vielleicht sind sie es gerade, die seine Wahrnehmung für die geistigen Strömungen und die sozialen Widersprüche dieser Jahre schärfen.
Von 1514 bis 1522 stattet er Kreuzgang und Refektorium der Frankfurter Karmeliter mit einem umfangreichen und geschlossenen Bilderzyklus der Wandmalerei aus. Den Kreuzgang schmücken Szenen der Heilsgeschichte, das Refektorium Motive aus der Ordensgeschichte der Karmeliter.
Im März 1944 beschädigt der schwere Bombenangriff auf Frankfurt die Bilder. Erst in den 80er-Jahren werden sie restauriert.
Sein berühmtestes Werk, der Herrenberger Altar, bleibt vergessen, verschollen – bis sich 1890 der Frankfurter Kunsthistoriker Otto Donner von Richter nach einem Hinweis im Frankfurter Stadtarchiv auf die Suche macht. Wilhelm Fraenger schildert die Entdeckung:
"Als Donner von Richter erwartungsvoll das Kirchenschiff in Herrenberg betrat, erkannte er auf den ersten Blick den Meister der Frankfurter Wandgemälde, zumal ihr Monogramm 'R 1514' in dem 'R 1519' wiederkehrte. Der Altar war ganz ungeschützt den gerade in Gang befindlichen Erneuerungsarbeiten am Kirchenschiff preisgegeben, sodass seine Tafeln schon mit einer dicken Schicht ätzenden Kalkstaubs überzogen waren."
Bis heute gilt dieser Altar als das Hauptwerk Jörg Ratgebs. Gemalt hat er ihn zwischen 1518 und 1522 für die "Brüder des Gemeinsamen Lebens", die ab 1481 die Herrenberger Chorherren ersetzen.
Diese neuen "Fraterherren" sind Vertreter der "devotio moderna", einer neuen religiösen Strömung innerhalb der spätmittelalterlichen Kirche. Die eigenständige Frömmigkeitsbewegung sucht ein Mittelweg zwischen weltlichem und klösterlichem Leben. Sie ist in gewisser Weise kirchen- und liturgiegelöst und ermöglicht dem Menschen die Ausübung einer ganz privaten Form von Religiosität. Die "Brüder des Gemeinsamen Lebens" predigen eine "praktische" Frömmigkeit und erklären dem unwissenden Volk die Bibel.
Für diese Bruderschaft stellt Ratgeb einen Christus dar, der dem Volk zugewandt ist. In den anwesenden Häschern und Henkersknechten des Kreuzigungsgeschehens dagegen mag man Karikaturen hochmütiger Fürsten und feister Pfaffen erkennen. Ähnliche Anspielungen hat der Künstler schon in seinen Frankfurter Wandmalereien gewagt, als er den Teufel in Gestalt eines Glücksspielers porträtierte, mit Würfel und prallem Geldbeutel, vielleicht Anspielungen auf Macht und Reichtum der Handelshäuser Fugger und Welser?
Ratgebs Malerei spiegelt auch immer auch etwas von den sozialen Unruhen seiner Zeit wider. Er setzt teilweise die Hoffnungen des Volkes in künstlerische Darstellung um.
In den Apriltagen 1514 erhebt sich in Württemberg die bauerkriegerische Bewegung gegen Herzog Ulrich, als der durch Steuern auf Wein, Fleisch und Mehl seine heruntergewirtschafteten Kassen füllen will.
Die Bewegung der Aufständischen nennt sich "Armer Konrad". Die Bezeichnung steht symbolisch für den armen Mann.
Immer größere Landesteile werden 1525 vom Aufruhr ergriffen. Bürger und Bauern machen gemeinsame Sache im Kampf gegen Patriziat und Fürsten. Und Thomas Müntzer gehört jetzt zu den Theologen der Reformationsbewegung, die die Befreiung des Volkes von feudaler Unterdrückung mit dem Willen Gottes gleichsetzen.
"Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herren Fürsten. Sie nehmen alle Kreatur Gottes als Eigentum: die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden… Und da lassen sie dann zu den Armen sprechen: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Und wenn einer sich dann am geringsten vergreift, muss er hängen."
Viele Bauern sahen sich jetzt als Verteidiger des göttlichen Rechts und wollten mit dem Schwert in der Hand für die gerechte Gottesherrschaft kämpfen. Schließlich hatte ja auch Martin Luther die Freiheit aller Christenmenschen gefordert.
Doch Luther meinte mit der Freiheit eines Christenmenschen allein die Freiheit in Glaubensdingen und nicht in weltlichen Angelegenheiten. Entsprechend entsetzt reagierte er, als er erfuhr, dass die Bauern jetzt mit Berufung auf die Bibel sogar die Aufhebung der Leibeigenschaft forderten. Darin sah er einen offenen Widerspruch zum Evangelium. Denn im weltlichen Reich müsse es nach der göttlichen Ordnung eine Ungleichheit der Personen geben. Ein Leibeigener könne durchaus im geistigen Reich seines christlichen Glaubens ein Freier sein, aber nicht in der Ordnung der Welt. Luther forderte deshalb nun seinerseits die Fürsten und andere Obrigkeiten auf, ihrer christlichen Pflicht nachzukommen und mit allen Mittel gegen die Aufrührer loszuschlagen.
"Darum liebe Herren, steche, schlage, würge, wer nur kann. Ich meine, dass nun keine Teufel mehr in der Hölle sind, denn sie sind alle in die Bauern gefahren."
In diesem Spannungsfeld von Kirche, Adel, Bürgern und Bauern muss auch Jörg Ratgeb Stellung beziehen. Denn er gerät mitten in die Wirren des Bauernkrieges und lässt sich von den Aufständischen, mit denen er sympathisiert, zum Kanzler eines Bauernhaufens wählen.
In Württemberg kann dann Herzog Ulrich mit Hilfe auswärtiger Truppen den Aufstand der Bauern niederwerfen. Auch in den anderen Landesteilen wird der Bauernkrieg von den Fürsten niedergeschlagen. Nach dem Sieg über die Aufständischen in Thüringen kommt es zu gnadenlosen Strafgerichten. Thomas Müntzer schreibt jetzt voller Zorn an Martin Luther, den er das "geistlose, sanft lebende Fleisch zu Wittenberg" nennt :
"Du hast dem deutschen Adel das Maul mit Honig bestrichen. Ich röche dich lieber gebraten in der Röhre. In deinem eigenen Saft gekocht soll dich der Teufel fressen."
Müntzer wird schließlich gefangengenommen und enthauptet. Am 12. Mai 1525 waren auch die Bauern in der Schlacht von Böblingen vernichtend geschlagen worden. Jörg Ratgeb konnte nach Pforzheim fliehen. Doch dort wird er schon bald festgenommen.
Ob ihn das allerdings auch zu Revolutionär und Säulenheiligen der marxistischen Geschichtsdeutung des frühen 16. Jahrhunderts macht, wozu Wilhelm Fraenger neigt, darf eher bezweifelt werden.
Dazu Rainer Koch, ehemaliger Direktor des Historischen Museums in Frankfurt am Main:
"Ratgebs Kunst war eben nicht visionär im Sinne einer sozialen Revolution als Folge einer Veränderung des ökonomischen Unterbaus, sondern ist ganz wesentlich aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, aus eschatologischen Erwartungen und aus heilbezogenen Zielsetzung seiner Auftraggeber und Stifter zu deuten."
Ähnlich sieht das die Kunsthistorikerin Sabine Oth, die darauf hinweist, dass bisher nur der amerikanischen Ratgeb-Forscherin Lisa de la Mare Farber ein "objektiver Blick auf den Maler" gelungen sei:
"Mit dem Hinweis auf die positive Sicht der Deutschen auf den Bauernkrieg erklärt sie die Befangenheit der deutschen Forscher und die damit einhergehende Mystifizierung Ratgebs. Sie zeigt, dass die These von Ratgeb als sozialem Revolutionär nicht haltbar ist. Unentschuldbar erscheint ihr die Interpretation eines Werks auf der fraglichen Annahme eines Sympathisierens Ratgebs mit den Zielen der Bauern während weniger Wochen im Frühjahr 1525."
1526 wird Jörg Ratgeb dann der Prozess gemacht:
"Urteil und Beschluss des Hohen Gerichts der Stadt Pforzheim.
Der Maler Jörg Ratgeb wird wegen Hochverrats, Landesverrats und Landfriedensbruchs, welcher Verbrechen er sich während des Aufruhrs der Bauern im 1525er Jahr hat zuschulden kommen lassen, zum Tod durch die Vierteilung verurteilt, wie es die Kaiserliche Halsgerichtsordnung vorsieht.
Morgen früh, zur achten Stunde soll er auf den Marktplatz geschleift und all dort öffentlich gevierteilt werden. Seine leiblichen Reste werden alsdann an vier Wegstraßen aufgesteckt und dem Volk als Warnung zur Schau gestellt. Alle Bürger und Stadtleute sind aufgefordert, der gerechten Bestrafung des Aufrührers beizuwohnen.
Gegeben zu Pforzheim im Jahre des Herrn 1526."
Es sind ungehobelte Gesellen, die sich um einen Tisch herum flegeln, auf dem ein heilloses Durcheinander von Tellern und Speisen herrscht. Dargestellt ist Jesus mit seinen Jüngern beim letzten Abendmahl, das in diesem Fall eher an eine derb-rustikale Bauernhochzeit erinnert. Auch wenn die Jünger zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass ein Verräter unter ihnen ist, hebt der Maler Judas Ischarioth bereits deutlich heraus.
"Dieser Judas ist die Inkarnation aller Laster: In ein gelbes Gewand gehüllt, springt er jäh auf, wirft seinen Stuhl um und rempelt dabei einen Diener an, der prompt den Wein verschüttet. Die dunkelrote Weinlache am Boden ist Vorzeichen für das drohende Blutvergießen Jesu."
Das gelbe Gewand des Judas steht für das Laster des Neids, aber auch für die Farbe des Goldes und damit für die Sünde der Habgier. Hochmütig reckt er den Kopf und öffnet den Mund, in den geradewegs eine fette, eklige Schmeißfliege hineinfliegt – das Sinnbild des Teufels. Das hebräische Wort "Beelzebub" bedeutet "Vater der Fliegen".
Unter dem Tisch lässt Judas die "Gebetbücher des Teufels" fallen: Spielkarten! Deutlich sichtbar: die Schellen- oder Narrenkarte.
"Es heißt im 53. Psalm: 'Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott…' Damit ist Judas der Gottesleugner. Außerdem fallen noch drei Würfel aus seinem Gewand, die alle die Augenzahl 6 zeigen. 6, 6, 6 – das ist die Satanszahl der Apokalypse. Und dann ist da noch etwas ganz Ungeheuerliches zu sehen: Judas zeigt das Merkmal der 'concupiscentia', der unersättlichen Begierde. Der Maler stellt ihn mit erigiertem Penis dar."
Was Wolfgang Urban, Kustos des Diözesanmuseums in Rottenburg am Neckar hier beschreibt, ist eine der ungewöhnlichsten und verstörendsten Darstellungen der christlichen Kunst, die Abendmahlsszene auf dem linken Flügel des Herrenberger Altars von Jörg Ratgeb.
Auf dieser um das Jahr 1519 gemalten Tafel findet sich keine Spur von der Erhabenheit des Geschehens, nichts von der sanften Schönheit der Gesichter eines Leonardo, nichts von der inszenierten Eleganz eines Tizian und schon gar nichts von der ruhigen Würde und Innerlichkeit eines Dirk Bouts. Stattdessen, so scheint es, spiegelt sich hier der Querschnitt eines entfesselten, spätmittelalterlichen "Prekariats":
Derbe Gestalten lümmeln sich auf engstem Raum herum, schwatzen heftig gestikulierend aufeinander ein; einer der Jünger schnäuzt sich ungeniert in die Hand und selbst die zentrale Figur Jesu, die segnend – oder eher beschwichtigend? – die Hände hebt, hat schlichte, beinahe einfältige Gesichtszüge.
"Ich, Jörg Ratgeb Maler, hätte einen hübschen, feinen, gülden Herrgott, den ich gekonnt hätte, nicht gewollt."
Hat der Künstler selbst zu Protokoll gegeben.
Nach dem hitzigen Drama der Reformation verstaubte dieses Altarbild über 400 Jahre lang in der Herrenberger Stiftskirche. Auch sein Schöpfer wird aus dem Gedächtnis der Zeitgenossen getilgt, nachdem er während des Bauernkriegs 1525 Partei für die Aufrührer ergreift und dafür auf grausame Weise sein Leben lässt. Die Kunsthistorikerin und Ratgeb-Expertin Sabine Oth:
"Im Lauf der Jahrhunderte ist nicht nur dem Werk übel mitgespielt worden, auch der Name des Malers geriet in Vergessenheit. Noch im 18. Jahrhundert waren weder die Frankfurter noch die Herrenberger Chronisten in der Lage, Jörg Ratgebs Monogramm aufzulösen."
Vielleicht fand man die Bilder zu "abstoßend" und "hässlich", so jedenfalls urteilte ein Prälat des 19. Jahrhunderts. Vermutlich konnte man auch mit dem Malstil des Künstlers, der sich zwischen spätgotischem Realismus und expressivem Frühhumanismus bewegte, nichts anfangen.
Außerdem galt Jörg Ratgeb als einer der "gottlosen" Künstler, weil er wie Matthias Grünewald und Tilman Riemenschneider mit den aufständischen Bauern sympathisierte.
Über diesen Maler und seine Bilder ist kaum etwas Gesichertes bekannt.
Die Schaffensperiode, die dem württembergischen Meister Jörg Ratgeb vergönnt ist, umfasst nur zwei Jahrzehnte des frühen 16. Jahrhunderts. In dieser Zeit gelingen ihm drei monumentale Werke: der Hochaltar der Stiftskirche im baden-württembergischen Herrenberg, der Barbara-Altar in der Kirche von Schwaigern bei Heilbronn und sein eigentliches Hauptwerk – ohne Beispiel in der deutschen Malerei dieser Zeit – die über 650 Quadratmeter bemalten Wände in den Karmeliterklöstern von Hirschhorn und Frankfurt.
Weil Jörg Ratgeb zu den verschollenen Gestalten einer unruhigen Epoche gehört, ranken sich um sein Werk und Schicksal Mythen und Legenden bis in unsere Zeit. Den einen gilt er Nachzügler des Mittelalters, den anderen als Vorläufer eines religiösen und bäuerlich-bürgerlichen Freiheitsdranges. Und wegen seiner Verstrickung in den Bauernkrieg ist er auch immer wieder zum Sozialrevolutionär erklärt worden.
Doch die Person des Malers ist nicht wirklich fassbar. Vielleicht ist das Schweigen der Quellen ein Hinweis auf Ratgebs selbstverständliche Verankerung in der mittelalterlichen Traditionsgebundenheit. Anders als etwa bei seinem berühmten Zeitgenossen Albrecht Dürer hätte Ratgeb wohl die Selbstreflektion des "modernen" Renaissancekünstlers ferngelegen. Und so mag allenfalls gelten, was der Schweizer Kunsthistoriker Richard Zürcher so formuliert:
"Unter seinen Zeitgenossen ist keiner so sehr in den Strudel jener Epoche gerissen worden wie Jörg Ratgeb, was in seinen Gemälden einen so vehementen Ausdruck erreicht wie sonst nur bei Grünewald."
Und auch der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger, Verfasser der einzigen großen 1964 erschienenen Ratgeb-Biografie, bilanziert:
"Bei keinem Maler jener Zeit lässt sich der Zwiespalt der Epoche so mit Händen greifen wie bei Jörg Ratgeb, der sich im Zusammenprall der alten und der neuen Weltanschauung zu behaupten sucht, bis er als 'Kriegsrat' auf der Seite der Bauern unterging."
Der Herbst des Mittelalters bestimmt Ratgebs Leben:
Die Idee eines abendländischen "Imperium Romanum" verblasst. Überall in Europa entwickeln sich aufstrebende Nationalstaaten. Deutschland besteht nach der Wormser Reichsmatrikel aus rund 300 geistlichen und weltlichen Territorialstaaten, Grafschaften, reichsfreien Städten und reichsritterschaftlichen Gebieten. Die Zustände dort gleichen einem Kampf aller Gewalten gegeneinander: der Kaiser gegen die Fürsten, die Fürsten untereinander, Städte, Ritter und Bauern gegen die Landesherren, Patrizier gegen Bürger.
Besonders beklagenswert ist die Lage der Bauern. Bitterarm und durch hohe Abgaben drangsaliert sind sie allemal; und als Leibeigene sind sie und ihre Familien völlig rechtlos und ihrem Grundherrn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
In dieser von widerstreitenden Kräften zerrissenen Zeit wird um das Jahr 1480 – vermutlich in Schwäbisch-Gmünd – Jörg Ratgeb geboren. Vieles vom "Zeitgeist" dieser spannungsgeladenen Epoche wird sich in seinen Bildern wiederfinden. Seine Lebenszeugnisse sind so spärlich, dass nichts über seine Herkunft, seine Ausbildung, seine Lehrer bekannt ist.
1503 erhält er in Stuttgart das Bürgerrecht, danach finden wir ihn im Rhein-Main-Gebiet, von 1509 bis 1512 in Heilbronn, danach wieder in Frankfurt und Stuttgart. Auf das Jahr 1510 ist sein Barbara-Altar in der Johanniskirche in Schwaigern bei Heilbronn datiert und mit "I. R. M.", "Jörg Ratgeb, Maler" signiert. Es ist der einzige Altar des Meisters, der bis heute an seinem ursprünglichen Platz steht.
Der kleine Flügelaltar erzählt Geschichte und Martyrium der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute und der Sterbenden, Helferin bei Blitz- und Feuergefahr. Der Legende nach war sie so schön, dass ihr heidnischer Vater sie in einen Turm sperrte, damit niemand sie zu Gesicht bekam. Dennoch hielten immer wieder Bewerber um ihre Hand an.
Sabine Oth: "Hier setzt die Geschichte, die Ratgebs Altar erzählt, ein. Auf dem Turm steht Barbara in einem schlichten, hellroten Gewand mit offenem Haar. Ratgeb führt die Geschichte in zwölf Szenen fort. Die Schilderung endet mit den Folterszenen des Martyriums und der Enthauptung der Heiligen durch ihren eigenen Vater. Er steht hinter ihr, hebt ihr langes Haar hoch, damit der Nacken freiliegt, während er schon den Krummsäbel zum tödlichen Schlag gehoben hat."
"Kunsthistoriker bewundern das Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren, dazu den Kontrast des finsteren Vaters und des hellen Gesichts der Barbara. Hier wird der Betrachter mit der Mordbereitschaft des einen und der betenden Hingabe der anderen konfrontiert.","
schreibt der Ratgeb-Experte Reinhard Kuhnert.
In den Einzelszenen der Tafeln, in denen er den Leidensweg der Heiligen Barbara ausbreitet, zeigt Ratgeb die ganze Bandbreite seines Könnens, variiert Stil, Anordnung der Szenen und Farbgebung. Fast könnte man meinen, es mit zwei Künstlern zu tun zu haben:
""Dort ein der Renaissancekunst entlehnter Formbegriff der strengen Komposition und rhythmischen Gruppierung; hier der spätgotische Legendenstil, der aus dem Bildwerk ein Panoptikum zu machen scheint."
Notiert Wilhelm Fraenger und fährt fort:
"Dort eine hochpathetische Tragödie, hier eine bänkelsängerische Moritat, ein in sich geschlossenes Schaubild, ein Lesebild, das man wie Zeilen eines Buches zu durchlaufen hat. Ein anderer und doch derselbe Jörg, der eben beides war: ein 'hoher' Künstler und ein Mann des Volkes."
Der Künstler dieser Zeit steht zwischen den Fronten und Epochen.
Das Mittelalter kannte vor allem die Kirche als Auftraggeber der Kunst und die Kleriker bestimmten Form und Inhalt. Denn die Kunst hatte allein Dienerin zur Ehre Gottes zu sein. Das Individuum war nichts, die göttliche Ordnung alles.
Doch nun, da am Horizont ein neues Zeitalter – das des Humanismus und der Renaissance – heraufdämmert, brechen alte Strukturen auf. Ein auf-strebendes städtisches Bürgertum höhlt langsam die feudale Ordnung aus.
Der handeltreibende Bürger blickt weiter als bis zum nächsten Kirchturm: hin zu fernen Ländern und neuentdeckten Kontinenten. Sein neues Selbstbewusstsein fordert Entfaltungsmöglichkeit für Individualität auch in der Kunst. Die Porträtmalerei kommt auf.
Für Jörg Ratgeb sind die Heilbronner Jahre von Kummer überschattet. Als freier Bürger mit dem Meisterrecht ausgestattet ist er in die Stadt gekommen, doch dann heiratet er eine Frau, die Leibeigene des Landesherrn, Herzog Ulrich von Württemberg, ist. Ratgeb muss versuchen, seine Frau freizukaufen, da sonst auch seine Kinder als Leibeigene des Herzogs aufwachsen werden.
Er richtet mehrere verzweifelte Bittschreiben an den Herzog:
"Ist es meine ganz untertänigste und demütige Bitte, dass Seine Gnaden mir mein Weib und Kind der Leibeigenschaft ledig sagen… Wenn ich mein Arbeit, die ich in der Zeit bei Euer Gnaden zu vollenden angenommen hab, aufgeben und von dannen ziehen müsste, brächte mir das merkliche Beschwer… So ist es meine untertänigste Bitte, mich meinen Pfennig mitsamt meinem Hausgesind bei Euer Ehrsamen Weisheit verzehren zu lassen… und mein Weib und Kind der Leibeigenschaft zu entledigen."
Alle seine Gesuche werden abgelehnt! Und auch die Eingaben des Heilbronner Magistrats können den Herzog nicht umstimmen. Da er mit einer Leibeigenen verheiratet ist, wird Ratgeb schließlich selbst das Bürgerrecht aberkannt. Er erhält nur noch eine befristete Aufenthaltsbewilligung und muss 1512 Heilbronn verlassen. Aus diesen Erlebnissen folgert Wilhelm Fraenger später:
"Es leuchtet ein, dass der in diesen harten Sozialkonflikt verstrickte Maler schon um seiner eigenen Sache willen künftig dem bäuerlichen Freiheitsbanner folgen musste."
Dennoch – der ihm aufgezwungene Weg hinaus aus der provinziellen Enge der Kleinstadt eröffnet ihm den Zugang zu neuen Kunst- und Welterfahrungen. Vielleicht sind sie es gerade, die seine Wahrnehmung für die geistigen Strömungen und die sozialen Widersprüche dieser Jahre schärfen.
Von 1514 bis 1522 stattet er Kreuzgang und Refektorium der Frankfurter Karmeliter mit einem umfangreichen und geschlossenen Bilderzyklus der Wandmalerei aus. Den Kreuzgang schmücken Szenen der Heilsgeschichte, das Refektorium Motive aus der Ordensgeschichte der Karmeliter.
Im März 1944 beschädigt der schwere Bombenangriff auf Frankfurt die Bilder. Erst in den 80er-Jahren werden sie restauriert.
Sein berühmtestes Werk, der Herrenberger Altar, bleibt vergessen, verschollen – bis sich 1890 der Frankfurter Kunsthistoriker Otto Donner von Richter nach einem Hinweis im Frankfurter Stadtarchiv auf die Suche macht. Wilhelm Fraenger schildert die Entdeckung:
"Als Donner von Richter erwartungsvoll das Kirchenschiff in Herrenberg betrat, erkannte er auf den ersten Blick den Meister der Frankfurter Wandgemälde, zumal ihr Monogramm 'R 1514' in dem 'R 1519' wiederkehrte. Der Altar war ganz ungeschützt den gerade in Gang befindlichen Erneuerungsarbeiten am Kirchenschiff preisgegeben, sodass seine Tafeln schon mit einer dicken Schicht ätzenden Kalkstaubs überzogen waren."
Bis heute gilt dieser Altar als das Hauptwerk Jörg Ratgebs. Gemalt hat er ihn zwischen 1518 und 1522 für die "Brüder des Gemeinsamen Lebens", die ab 1481 die Herrenberger Chorherren ersetzen.
Diese neuen "Fraterherren" sind Vertreter der "devotio moderna", einer neuen religiösen Strömung innerhalb der spätmittelalterlichen Kirche. Die eigenständige Frömmigkeitsbewegung sucht ein Mittelweg zwischen weltlichem und klösterlichem Leben. Sie ist in gewisser Weise kirchen- und liturgiegelöst und ermöglicht dem Menschen die Ausübung einer ganz privaten Form von Religiosität. Die "Brüder des Gemeinsamen Lebens" predigen eine "praktische" Frömmigkeit und erklären dem unwissenden Volk die Bibel.
Für diese Bruderschaft stellt Ratgeb einen Christus dar, der dem Volk zugewandt ist. In den anwesenden Häschern und Henkersknechten des Kreuzigungsgeschehens dagegen mag man Karikaturen hochmütiger Fürsten und feister Pfaffen erkennen. Ähnliche Anspielungen hat der Künstler schon in seinen Frankfurter Wandmalereien gewagt, als er den Teufel in Gestalt eines Glücksspielers porträtierte, mit Würfel und prallem Geldbeutel, vielleicht Anspielungen auf Macht und Reichtum der Handelshäuser Fugger und Welser?
Ratgebs Malerei spiegelt auch immer auch etwas von den sozialen Unruhen seiner Zeit wider. Er setzt teilweise die Hoffnungen des Volkes in künstlerische Darstellung um.
In den Apriltagen 1514 erhebt sich in Württemberg die bauerkriegerische Bewegung gegen Herzog Ulrich, als der durch Steuern auf Wein, Fleisch und Mehl seine heruntergewirtschafteten Kassen füllen will.
Die Bewegung der Aufständischen nennt sich "Armer Konrad". Die Bezeichnung steht symbolisch für den armen Mann.
Immer größere Landesteile werden 1525 vom Aufruhr ergriffen. Bürger und Bauern machen gemeinsame Sache im Kampf gegen Patriziat und Fürsten. Und Thomas Müntzer gehört jetzt zu den Theologen der Reformationsbewegung, die die Befreiung des Volkes von feudaler Unterdrückung mit dem Willen Gottes gleichsetzen.
"Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herren Fürsten. Sie nehmen alle Kreatur Gottes als Eigentum: die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden… Und da lassen sie dann zu den Armen sprechen: Gott hat geboten, du sollst nicht stehlen. Und wenn einer sich dann am geringsten vergreift, muss er hängen."
Viele Bauern sahen sich jetzt als Verteidiger des göttlichen Rechts und wollten mit dem Schwert in der Hand für die gerechte Gottesherrschaft kämpfen. Schließlich hatte ja auch Martin Luther die Freiheit aller Christenmenschen gefordert.
Doch Luther meinte mit der Freiheit eines Christenmenschen allein die Freiheit in Glaubensdingen und nicht in weltlichen Angelegenheiten. Entsprechend entsetzt reagierte er, als er erfuhr, dass die Bauern jetzt mit Berufung auf die Bibel sogar die Aufhebung der Leibeigenschaft forderten. Darin sah er einen offenen Widerspruch zum Evangelium. Denn im weltlichen Reich müsse es nach der göttlichen Ordnung eine Ungleichheit der Personen geben. Ein Leibeigener könne durchaus im geistigen Reich seines christlichen Glaubens ein Freier sein, aber nicht in der Ordnung der Welt. Luther forderte deshalb nun seinerseits die Fürsten und andere Obrigkeiten auf, ihrer christlichen Pflicht nachzukommen und mit allen Mittel gegen die Aufrührer loszuschlagen.
"Darum liebe Herren, steche, schlage, würge, wer nur kann. Ich meine, dass nun keine Teufel mehr in der Hölle sind, denn sie sind alle in die Bauern gefahren."
In diesem Spannungsfeld von Kirche, Adel, Bürgern und Bauern muss auch Jörg Ratgeb Stellung beziehen. Denn er gerät mitten in die Wirren des Bauernkrieges und lässt sich von den Aufständischen, mit denen er sympathisiert, zum Kanzler eines Bauernhaufens wählen.
In Württemberg kann dann Herzog Ulrich mit Hilfe auswärtiger Truppen den Aufstand der Bauern niederwerfen. Auch in den anderen Landesteilen wird der Bauernkrieg von den Fürsten niedergeschlagen. Nach dem Sieg über die Aufständischen in Thüringen kommt es zu gnadenlosen Strafgerichten. Thomas Müntzer schreibt jetzt voller Zorn an Martin Luther, den er das "geistlose, sanft lebende Fleisch zu Wittenberg" nennt :
"Du hast dem deutschen Adel das Maul mit Honig bestrichen. Ich röche dich lieber gebraten in der Röhre. In deinem eigenen Saft gekocht soll dich der Teufel fressen."
Müntzer wird schließlich gefangengenommen und enthauptet. Am 12. Mai 1525 waren auch die Bauern in der Schlacht von Böblingen vernichtend geschlagen worden. Jörg Ratgeb konnte nach Pforzheim fliehen. Doch dort wird er schon bald festgenommen.
Ob ihn das allerdings auch zu Revolutionär und Säulenheiligen der marxistischen Geschichtsdeutung des frühen 16. Jahrhunderts macht, wozu Wilhelm Fraenger neigt, darf eher bezweifelt werden.
Dazu Rainer Koch, ehemaliger Direktor des Historischen Museums in Frankfurt am Main:
"Ratgebs Kunst war eben nicht visionär im Sinne einer sozialen Revolution als Folge einer Veränderung des ökonomischen Unterbaus, sondern ist ganz wesentlich aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, aus eschatologischen Erwartungen und aus heilbezogenen Zielsetzung seiner Auftraggeber und Stifter zu deuten."
Ähnlich sieht das die Kunsthistorikerin Sabine Oth, die darauf hinweist, dass bisher nur der amerikanischen Ratgeb-Forscherin Lisa de la Mare Farber ein "objektiver Blick auf den Maler" gelungen sei:
"Mit dem Hinweis auf die positive Sicht der Deutschen auf den Bauernkrieg erklärt sie die Befangenheit der deutschen Forscher und die damit einhergehende Mystifizierung Ratgebs. Sie zeigt, dass die These von Ratgeb als sozialem Revolutionär nicht haltbar ist. Unentschuldbar erscheint ihr die Interpretation eines Werks auf der fraglichen Annahme eines Sympathisierens Ratgebs mit den Zielen der Bauern während weniger Wochen im Frühjahr 1525."
1526 wird Jörg Ratgeb dann der Prozess gemacht:
"Urteil und Beschluss des Hohen Gerichts der Stadt Pforzheim.
Der Maler Jörg Ratgeb wird wegen Hochverrats, Landesverrats und Landfriedensbruchs, welcher Verbrechen er sich während des Aufruhrs der Bauern im 1525er Jahr hat zuschulden kommen lassen, zum Tod durch die Vierteilung verurteilt, wie es die Kaiserliche Halsgerichtsordnung vorsieht.
Morgen früh, zur achten Stunde soll er auf den Marktplatz geschleift und all dort öffentlich gevierteilt werden. Seine leiblichen Reste werden alsdann an vier Wegstraßen aufgesteckt und dem Volk als Warnung zur Schau gestellt. Alle Bürger und Stadtleute sind aufgefordert, der gerechten Bestrafung des Aufrührers beizuwohnen.
Gegeben zu Pforzheim im Jahre des Herrn 1526."