Should I stay or should I go, soll ich bleiben oder gehen? Unter dieser Überschrift lädt das Bistum Essen zu einer Tagung ein, auf der es um Kirchenaustritte, Kirchenverbleib und die Frage geht, was Kirche in Zukunft anders machen muss, um ihre Mitglieder besser halten zu können. Vorgestellt werden die Ergebnisse einer umfassenden wissenschaftlichen Studie, die gleichzeitig als Buch erschienen ist.
Waren zu Beginn des Jahrtausends noch über 53 Millionen Menschen Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen, so gibt es aktuell nur noch insgesamt rund 45einhalb Millionen Kirchenmitglieder bundesweit. Für das Bistum Essen sieht die Entwicklung ähnlich aus. Auch wenn die Anzahl der Kirchenaustritte dort zuletzt leicht zurückgegangen ist, haben seit Beginn des Jahrtausends etwa 80.000 von ehemals über einer Million Menschen die katholische Kirche verlassen. Doch warum?
Große Bandbreite an Gründen für den Austritt
Um das zu erfahren, hat man in Essen bereits 2013 das Zukunftsbild-Projekt ins Leben gerufen: ein Leitbild für wesentliche strategische Entscheidungen in einem Bistum, das bis dato vor allem mit Kirchenschließungen Schlagzeilen machte.
"Um dieses Zukunftsbild konkreter zu machen, gibt es seit 2015 verschiedene Projekte, die unsere Kirche hier mitgestaltet und umgestaltet. Eines unserer Projekte ist auch das Projekt 'Initiative für den Verbleib in der Kirche', wo wir uns mit Kirchenaustritten und der Frage von Kirchenmitgliedschaften beschäftigen", erklärt Thomas Rünker von der Stabsabteilung Kommunikation des Bistums Essen. Er leitet die Projektgruppe, welche die Ergebnisse der Kirchenaustrittsstudie publiziert hat.
"Was unsere Studie zeigt, ist, dass es eine sehr große Vielschichtigkeit von Kirchenmitgliedschaft gibt und eben auch deshalb eine große Vielschichtigkeit von Gründen, warum Menschen die Kirche verlassen."
Um die Gründe herauszufinden, warum manche austreten, aber auch, warum manche bleiben, obwohl sie in der Gemeinde gar nicht aktiv sind, wurden die Antworten von mehr als 3 000 Teilnehmern einer Online-Umfrage ausgewertet. Mit 41 von ihnen führten die Universität Siegen und das Forschungsinstitut empirica für Jugendkultur und Religion anschließend Tiefeninterviews.
Sieben Dimensionen
Eben weil das Ergebnis eine so große Bandbreit an Gründen aufzeigt, wurden für die Publikation sieben unterschiedliche, sogenannte "Dimensionen der Kirchenbindung" herausgearbeitet und vorgestellt. Markus Etscheid-Stams ist persönlicher Referent des Generalvikars im Bistum Essen und Mitherausgeber der Studie. Er erklärt, was sich hinter den sieben Dimensionen verbirgt:
"Eine ist die individuelle, da geht es um die Kirche als Heimat, als Sinn, Halt und Orientierung gebende Instanz. Dann gibt es eine zweite Dimension, die interaktive, wo es um das Gemeinschaftsleben geht, um Gemeinde, um Sozialisation, Zusammenhalt. Dann gibt es eine dritte Dimension, die Gesellschaftliche. Da geht es um politisches Engagement, sozialkaritatives Engagement. In einer vierten Dimension, der liturgischen, geht es um Sonntagsgottesdienste, um Hochzeiten, Beerdigungen und so weiter. In der strukturellen Dimension, der fünften, geht es darum, dass Menschen wichtig ist, dass die Kirche an sich da ist und als Orientierung gebende Instanz in der Gesellschaft zur Verfügung ist und dass sie dafür genug Struktur, Personal und Gebäude unterhält. In der sechsten Dimension geht's um die Kirchensteuer und dann kommt noch die kommunikative Dimension, wo es um Modernität, sowas wie Image oder Reputation geht."
Kirchensteuer wird oft diskutiert
"Schafft bitte die Kirchensteuer ab!"
Bei aller Vielschichtigkeit der Gründe, warum Menschen die Kirche verlassen, gibt es doch einige Aussagen, die in der Befragung häufig genannt wurden. Diese Forderung nach Abschaffung der Kirchensteuer ist eine davon. Das wichtige Thema Geld ist dabei für beide Seiten von großer Bedeutung, wie Markus Etscheid-Stams einräumt.
"Für uns haben die Kirchenaustritte natürlich auch eine finanzielle Bedeutung. Wir verlieren mit jedem, der Austritt auch Geld. Geld, das wir für die Angebote einsetzen wollen, die den Menschen wichtig sind: für Kitas oder für Schulen, für gute Gottesdienste in Gemeinden mit guter Musik, für Kirchengebäude oder eben für eine Beerdigung am Ende, und natürlich ist das schmerzhaft, auch finanziell schmerzhaft, wenn Menschen die Kirche verlassen, weil die Angebote daran eben am Ende hängen."
"Ich bin Mitglied, weil ich später kirchlich heiraten will."
"Die Kirche muss moderner und offener werden. Gott möchte, dass wir alle lieben und leben, so wie wir möchten."
"Deshalb schreiben wir das Thema 'Qualität der Seelsorge' eben relativ groß in dieser Studie, weil das für uns ein sehr zentrales Thema ist, wo die Menschen in allen möglichen Kontakten zur Kirche ja mit Kirche Erfahrung machen. Also das gilt sowohl für die Menschen, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, als auch für die, die alle paar Jahre mal im Pfarrbüro anrufen, um einen Termin für Taufe oder Trauung oder Beerdigung auszumachen. Da müssen wir einfach gut sein als Kirche, da müssen wir den Menschen so begegnen, wie unser christliches Menschenbild denn aussieht: also den Menschen als Ganzes wahrnehmen mit all seinen Problemen und Bedürfnissen, die er grad hat, und dürfen uns da nicht auf Gesetze, Paragrafen und irgendwelche Verordnungen zurückziehen."
So Thomas Rünker. Neben diesen erwartbaren Äußerungen gibt es jedoch auch Kritik an zu wenig Glauben in der Kirche.
"Ich brauch kein Pfarrfest mit Würstchen. Ich will was über Glauben wissen, aber da hat keiner Zeit für."
Dazu Thomas Rünker:
"Das sind Einzelfälle, aber auch die zeigen, dass natürlich etwas fehlt in unserer Kirche, und dass es da Menschen gibt, die auch sagen, 'Bei dem, was ihr anbietet, das ist mir zu wenig tief gehend und das ist mir zu wenig spirituell oder zu wenig inhaltlich', dann ist die Kritik genauso berechtigt."
Entfremdung zwischen Kirche und ihren Mitgliedern
Neben den bereits angesprochenen Punkten zeigt die Studie ganz deutlich, dass es vor allem Entfremdung und mangelnde Bindung sind, die dazu führen, dass Menschen aus der Kirche austreten. Wer noch an seine Ortsgemeinde gebunden ist, dem fällt dieser Schritt – trotz aller eventuellen Kritikpunkte – deutlich schwerer. Wobei die Entfremdung zwischen Kirche und ihren Mitgliedern durchaus wechselseitig ist, wie Markus Etscheid-Stams zugeben muss:
"Menschen haben sich nicht nur selbst entfremdet, sondern Kirche hat sich auch von Menschen entfremdet und von deren Lebenswelten und Lebensrealitäten und von deren Bedürfnissen, und das ist etwas, was wir auch selbstkritisch zur Kenntnis nehmen müssen, dass es eben auch an uns selber liegt, und nicht nur Menschen gegangen sind, sondern wir uns eben auch entfernt haben von den Dingen, die Menschen wichtig sind."
Genug Raum für die Präsentation der verschieden Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Studie, Gelegenheit für Selbstkritik, Diskussionen und fachlichen Austausch bietet eine Tagung, die heute und morgen in Essen stattfindet. Kirchenentwickler, Finanzstrategen, Kommunikationsexperten und andere Fachleute wollen aufgrund der Studienergebnisse neue Wege finden, um mehr Menschen künftig in der Kirche halten zu können.
"Das Bistum Essen steht in radikalen Veränderungsprozessen, so wie sie andere Bereiche der Kirche in Deutschland auch schon erreicht haben oder noch erreichen werden, und ich glaube, so ist diese Studie auch für viele hilfreich, sich zu orientieren, wo es denn hingeht, und was den Menschen wichtig ist", sagt Markus Etscheid-Stams.
Thomas Rünker ergänzt: "Gleichtzeitig bietet unsere Studie eben auch strategische Empfehlungen, die nicht nur für unser Bistum gelten, sondern für die ganze katholische Kirche in Deutschland. Wir betonen immer, dass das eine Studie ist, die vielleicht als eine der ersten Studien dieser Art endlich auch mal die Impulse von Menschen, die die Kirche schon verlassen haben, in diese strategischen Planungen integriert."
Genau dafür gibt es jedoch auch Kritik. Ausgerechnet die Meinung derer, die ausgetreten sind, soll Anstöße geben für einen Erneuerungsprozess von Innen? Vielen Hochengagierten gefällt das gar nicht. Und es gibt auch grundsätzliche Kritik, wenn sich ein Bistum aufs Kleinerwerden einstellt: Im Januar veröffentlichten Katholiken - darunter auch die Bischöfe von Passau und Köln - ein Missionsmanifest. Ihnen reicht keine Austrittsanalyse, sie wollen neue Gläubige gewinnen und so der der Kirche zu einem "Comeback" verhelfen. Ihre Streitschrift "MissionManifest" ist übrigens im selben Verlag erschienen wie die Essener Austritts-Studie .