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Kirchenmusik aus Versailles
Eine Messe für den Sonnenkönig

Die Zahl der französischen Formationen, die sich dem barocken Hofmusikrepertoire aus Versailles widmen, scheint kontinuierlich zu wachsen. Der Organist Gaétan Jarry und sein junges Ensemble Marguerite Louise müssen den Vergleich mit der renommierteren Konkurrenz aber keineswegs scheuen.

Am Mikrofon: Bernd Heyder |
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    Das Ensemble Marguerite Louise. Die Namensgeberin des Ensembles war um 1700 eine bekannte Sängerin und Cembalistin und Cousine des berühmten Komponisten François Couperin. (Franz Griers)
    Heute feiern unsere französischen Nachbarn ihren Nationalfeiertag: vor 230 Jahren begann mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die Französische Revolution. Mit dem Ancien Régime, der absolutistischen Monarchie, fand auch die verschwenderisch-prachtvolle Hofmusik in Versailles ihr Ende, die sich im Wesentlichen unter der Regentschaft des Sonnenkönigs Ludwig XIV. etabliert hatte.
    Längst weiß man in Frankreich den Glanz von Versailles und nicht zuletzt sein barockes Musikerbe wieder zu schätzen. Seit 1987 schon erkundet das "Centre de Musique Baroque à Versailles" als musikwissenschaftliches Forschungszentrum und Konzertveranstalter vor Ort die französische Hofmusik aus dem 17. und 18. Jahrhundert in ihrer ganzen Bandbreite. Inzwischen hat das "Centre" gewissermaßen interne Konkurrenz bekommen: ein Filialunternehmen der Staatlichen Betreibergesellschaft des Schlosses veröffentlicht seit einigen Monaten unter dem eigenen Label "Château de Versailles Spectacles" Aufnahmen seiner Veranstaltungen aus den Bereichen Oper, Ballett und Konzert. Gerade ist unter dem Titel "Messe du Roi Soleil" die achte Produktion dieser Reihe erschienen. Dabei handelt es sich offenbar um die Live-Aufnahme eines Konzertes vom Juli 2018 aus der Schlosskapelle von Versailles.
    Musik: André Danican Philidor, "Marche pour fifres et tambours"
    Erst Querpfeifen, dann Orgelpfeifen
    Eine kurze Militärmusik aus Flöten und Trommeln gibt zum Glockenschlag das Signal: Der König betritt die Kirche. So vollzog sich das höfische Ritual in Versailles, und so beginnt auch die CD des Ensembles Marguerite Louise. Fündig geworden ist es da unter den vielen höfischen Zeremonialstücken des königlichen Instrumentalisten und Musikbibliothekars André Danican Philidor.
    Den eigentlichen Beginn der Messe markiert dann ein Präludium im vollen Orgelklang. Komponiert hat es Jean-Adam Guilain alias Johann Adam Wilhelm Freinsberg, der Ende des 17. Jahrhunderts aus Deutschland nach Paris gekommen war.
    Musik: Jean-Adam Guilain, "Plein jeu", aus "Suite du troisième ton"
    Seit 1687 baute man an der neuen Kapelle im Schloss von Versailles. Vollendet war sie erst 1710 – inklusive der viermanualigen Orgel von Robert Clicquot auf der Empore über dem Altar. Sie wird auf der CD von Gaétan Jarry gespielt. Als Leiter seines Vokal- und Instrumentalensembles Marguerite Louise hat sich der Schüler von Olivier Latry und Michel Bouvard erstmals 2015 auf CD präsentiert, damals mit geistlichen Kompositionen von Marc-Antoine Charpentier. Mit der "Messe du Roi Soleil" gilt die vierte Veröffentlichung jetzt kirchenmusikalischen Werken, die Ludwig der Vierzehnte bei seinen täglichen Gottesdienstbesuchen besonders schätzte. Es geht Jarry nicht darum, eine religiöse Zeremonie zu rekonstruieren. Vielmehr hat er hier repräsentative Werke zusammengestellt, die in Versailles zu zwei unterschiedlichen Formen der Messliturgie gehörten. Musikalisch aufwändiger war da interessanterweise die werktägliche "Messe basse en musique". Da erklangen mal größer, mal kleiner dimensionierte konzertante Psalmkantaten, die man als "Grand Motet" bzw. "Petit Motet" bezeichnete.
    Der königliche Kapellmeister Michel-Richard Delalande hat die prächtige Vertonung des 24. Psalms "Exaltabo te Domine" komponiert. Kein Zweifel: wenn die Psalmverse da die "Größe des Herrn" besangen, sonnte sich auch der nach eigenem Verständnis "allerchristlichste" Sonnenkönig im göttlichen Glanz.
    Musik: Michel-Richard Delalande, Chor "Psallite Domino" aus "Exaltabo te Domine"
    Frauen erwünscht
    Um 1700 war es in Versailles schon selbstverständlich, dass Frauenstimmen anstelle der sonst üblichen Knabensänger, Falsettisten oder Kastraten den Sopran sangen. Im Ensemble Marguerite Louise sind die beiden oberen Partien des sechsstimmigen Vokalsatzes mit sieben Sängerinnen besetzt; ihre 14 männlichen Kollegen teilen sich nach altfranzösischer Tradition in hohe Tenöre für die "Haute contre"-Lage sowie weitere Tenöre, Baritone und Bässe für die tieferen Partien. Aus dem Chorensemble treten in den ariosen Sätzen vorzügliche Solostimmen hervor; besonders schön fügt sich der Tenor Safir Behloul in das Streicherlamento des Verses "Avertisti faciem tuam …" (dt.: Du hast dein Angesicht verborgen). In der Antwort des Chores, einem flehentlichen Gebetsversprechen, kostet das Ensemble die herben Dissonanzreibungen genüsslich aus.
    Musik: Michel-Richard Delalande, Arioso "Avertisti faciem tuam"/ Chor "Ad te Domine clamabo" aus "Exaltabo te Domine"
    Nach historischem Vorbild spricht das Ensemble Marguerite Louise die lateinischen Texte hier mit französischer Vokalfärbung aus. Die vornehm-zurückhaltende Tongebung setzt stärker auf Eleganz und klanglichen Charme als auf Expressivität; das gilt heute als Markenzeichen der französischen Barockmusik.
    Besonders subtil klingt die kleinbesetzte Psalmvertonung "Venite, exultemus Domino" des Versailler Hoforganisten François Couperin. Zwei Sopranstimmen werden da nur von den Generalbass-Akkorden der Orgel begleitet. Die obere Sopranstimme solcher "Petits Motets" hat Couperin manchmal explizit jener Sängerin zugewiesen, nach der Gaétan Jarry jetzt sein Ensemble benannt hat: Die Sopranistin Marguerite Louise Couperin war eine Cousine des Hoforganisten und wie manche anderen Mitglieder der Familie in der Hofmusik von Versailles engagiert. Auf der CD schlüpft Virginie Thomas in die Rolle der ersten Hofsopranistin, bevor alle Frauenstimmen des Ensembles Marguerite Louise mit der gleichen Intensität den chorischen Refrain anstimmen.
    Musik: François Couperin, "Venite exultemus Domino"
    Orgelmessen
    Eine ganz andere musikalische Gestalt als die werktäglichen Gottesdienste mit ihren konzertanten Psalmkantaten hatten im Versailles des Sonnenkönigs die Messen an Sonntagen und hohen Feiertagen. Da wechselten sich nach althergebrachter Praxis einstimmige gregorianische Choralgesänge mit Orgelversen in der dazu passenden Kirchentonart ab. François Couperin komponierte entsprechende "Orgelmessen" aus vielen einzelnen, ganz unterschiedlich zu registrierenden kurzen Stücken. Gaétan Jarry hat zwei solche Versetten aus Couperins "Messe pour les Couvents" ausgewählt, um die Motette "Venite, exultemus Domino" einzurahmen. Von den Tonarten her will das aber nicht so richtig zueinander passen. Da empfiehlt es sich, die Tracks 13 und 14 auf der CD in umgekehrter Reihenfolge hören: denn so erklingt das zweite Orgelstück mit seinem meditativen Duktus und der reizvollen Terz-Registrierung nach dem gregorianischen Kommunionvers "Introibo in domum tuam". Den Gesang der Männerstimmen unterstützt hier ein Serpent: ein altertümliches Holzblasinstrument in Basslage mit Blechbläser-Mundstück.
    Musik: Anonymus, Communio "Introibo in Domum tuam" / François Couperin, "Tierce en taille, Grand Orgue" aus "Messe des couvents"
    Nichts geht ohne Jean-Baptiste Lully
    Es ist eine reizvolle Mischung aus kraftvoll archaischen und manieristisch schillernden Klangfarben und Harmonien, die das Ensemble Marguerite Louise auf der CD entfaltet.
    Ein Werk des wichtigsten musikalischen Ratgebers von Ludwig dem Vierzehnten darf da natürlich nicht fehlen: Jean-Baptiste Lully war der "Oberintendant" der in viele Fachabteilungen und Zuständigkeiten verästelten Hofmusik, bis eine Sepsis seinem Leben 1687 ein plötzliches Ende setzte. Seine pathetische Tonsprache blieb aber ein Markenzeichen für die Musik des Sonnenkönigs.
    Mit der Psalmkomposition "Exaudiat te Dominus" – "Der Herr erhöre dich" – hat Gaétan Jarry eines der kirchenmusikalisch richtungweisenden Werke Lullys an das Ende des Programms gesetzt. Auch hier lässt sich der Psalmtext wieder als Gebet für den Sonnenkönig interpretieren. Am deutlichsten wird das in der devoten Haltung des letzten Psalmverses, "Domine salvum fac regem" (dt.: Herr, hilf dem König).
    Musik: Jean-Baptiste Lully, "Domine salvum fac regem" aus "Exaudiat te Dominus"
    Nach dem verhaltenen Gebet für den König bringt im abschließenden Lobpreis "Gloria Patri" der Einsatz von fünf Trompeten und Pauken wieder gebührend Glanz ins Spiel. Der Klangentfaltung gewährt die Aufnahmetechnik hier weiten Raum, ohne den Einzelstimmen etwas von ihrer Präsenz zu nehmen.
    Am Ende liefert die CD noch den Applaus des Auditoriums in Versailles mit. Vielleicht soll damit verdeutlicht werden, dass es sich um eine Konzertaufnahme handelt. Angesichts der geradezu perfekten Interpretation des Ensembles Marguerite Louise konnte man bis dahin den Eindruck gewinnen, einer Studioproduktion zu lauschen. Wie auch immer: diese letzten 30 Sekunden der CD brechen abrupt mit der sinnlichen Atmosphäre der vorangegangenen gut 52 Minuten Musik. Zu begrüßen wäre es, wenn die nächste Produktion aus Versailles ohne die Wiedergabe des Schlussbeifalls auskäme – so sehr man ihn den Ausführenden auch gönnen mag.
    Musik: Jean-Baptiste Lully, "Gloria Patri et Filio" aus "Exaudiat te Dominus"
    Messe du Roi Soleil
    Geistliche Musik für Ludwig XIV. von Jean-Baptiste Lully, François Couperin, Michel-Richard Delalande u. a.
    Ensemble Marguerite Louise
    Leitung: Gaétan Jarry (Orgel)
    Château de Versailles Spectacles EAN 3770011431137