"Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin."
Reinhard Moeller ist Kirchenjurist – und glühender Monarchist. Mit diesen Worten eröffnet er den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1919.
"Wir können nicht anders als hier feierlich zu bezeugen, welcher reiche Segen von den bisherigen engen Zusammenhängen von Staat und Kirche auf beide ausgegangen ist – auf den Staat und die Kirche – und durch beide auf Volk und Vaterland."
Worte wie auf einer Beerdigung. Moeller trauert um das Deutsche Kaiserreich, und um dessen Pakt zwischen Krone und Kirche – genauer: evangelischer Kirche.
"Man ahnte Schlimmes"
Denn mit diesem Pakt ist es nun vorbei – in der Weimarer Republik, die Staat und Religion stärker trennt. Das zwingt die evangelische Kirche, sich neu zu organisieren. Deshalb trifft sie sich Anfang September 1919 in Dresden.
"Die evangelischen Landeskirchen waren zum ersten Mal selbstständig, genossen diese Situation auch, aber sahen sich auch mit einem Staat konfrontiert, von dem sie nicht wussten, wie weit sie hier weiterhin privilegiert werden oder nicht", sagt der evangelische Theologe Daniel Bormuth.
Er ist Pfarrer in Nordhessen und hat in seiner Doktorarbeit die evangelischen Kirchentage der Weimarer Republik aufgearbeitet:
"Man ahnte Schlimmes, und deswegen war der Impuls stark, ein einheitliches Bollwerk – wie man es nannte – zu bilden."
Ein "protestantisches Bollwerk"
Ein "protestantisches Bollwerk" – oder wie Kirchenjurist Moeller damals auch sagt: eine "evangelische Einheitsfront". Wogegen? Gegen die junge Demokratie.
"Der neue Weimarer Staat war ja religionsneutral. Von evangelischer Seite war man manchmal geneigt zu sagen: religionslos. Und dann war es kein großer Schritt mehr zu sagen: religionsfeindlich. Was aber von der Realität – zumindest der Verfassungsrealität – nicht gedeckt war. Im Gegenteil: Religionsunterricht war ordentliches Lehrfach. Es gab große staatliche Garantien. Allerdings, gerade in der Übergangsphase 1918/19: Gerade unter sozialistisch regierten Landesregierungen hatten die Kirchen einen schweren Stand."
Das ist ein Grund, warum sich der erste Weimarer Kirchentag in Dresden trifft. Sachsen wird damals von Sozialdemokraten regiert, und die Kirchenvertreter wollen ein Zeichen setzen gegen die sächsische Kirchenpolitik.
"Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft"
320 Abgeordnete sind nach Dresden gekommen, darunter auch 29 Frauen. Vor allem aber: Pfarrer, Kirchenbeamte, Oberstudienräte, Professoren, Fabrikbesitzer – also das protestantische Establishment. Von der Kirchenbasis keine Spur. Dabei hatte man extra auch ein paar Arbeiter eingeladen: Schlosser, Monteur, Lokführer. Die kamen aber nicht, hat Daniel Bormuth herausgefunden:
"Bezeichnend vielleicht auch für die Entfremdung zwischen protestantischer Kirche und Arbeiterschaft, dass da niemand anwesend war. Auch vielleicht bezeichnend, dass die Partei, die maßgeblich die Rechte der Arbeiter vertrat – die Sozialdemokratische Partei, 1919 immerhin stärkste Partei in der Weimarer Republik – dass da kein Vertreter dieser Partei eingeladen war oder erschien."
"Herz und Herz vereint zusammen", singt der Dresdener Kirchentag. So einträchtig geht es aber beileibe nicht zu. Zwar ist der Kirchentag geprägt von national-gesinnten Konservativen. Es sind aber auch wenige liberale Theologen dabei, und die kritisieren zum Beispiel das Fehlen der Arbeiterschaft.
"Sekte des Bürgerlichen"
Martin Rade meint, die evangelische Kirche drohe zu einer "Sekte des Bürgerlichen" zu verkommen. Ernst Troeltsch spricht von einer "Burg geistiger Gegenrevolution". Und Arthur Titius hält eine pazifistische Rede:
"Wir, deren Waffen die ganze Welt in Schranken hielten, sollen lernen, waffenlos durch eine waffenstarrende Welt zu gehen. Wir wollen, weil Gott es jetzt will, das Ideal der Militärmacht begraben."
Bormuth: "Allerdings wurde diese Rede niedergezischt. So heißt es jedenfalls im Protokoll. Also es war eher eine Einzelmeinung. Der Mainstream ging in eine andere Richtung."
Der Mainstream wünschte sich zurück ins Kaiserreich.
"Unbehagen an der Republik"
Nach Dresden folgen in der Weimarer Zeit noch vier weitere evangelische Kirchentage. Auf denen nehmen die reaktionären Tendenzen zwar ab, und es zeigt sich eine vorsichtige Annäherung an die Demokratie, aber, sagt der evangelische Theologe Daniel Bormuth:
"Es gab durchgängig für die Mehrheit auch der auf dem Kirchentag vertretenen Protestanten ein Unbehagen an der Republik."
Ein Unbehagen, das schon bald dazu beiträgt, das protestantische Milieu empfänglich zu machen für die Propaganda der Nationalsozialisten.
Hoffen auf Hitler
Bormuth: "Man wollte in Hitler denjenigen sehen, an dessen Seite die Kirche wieder zu neuer Stärke findet."
Aus der Treue zum Kaiser wird die Hoffnung auf den Führer. Tendenzen, die sich schon auf dem ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag erkennen lassen, 1919 in Dresden. Damals haben viele einflussreiche Protestanten also nicht nur das Kaiserreich betrauert, sondern in gewisser Weise auch schon damit begonnen, die junge Demokratie gleich wieder zu beerdigen.