Gerald Beyrodt: Was macht kirchliche Sprache aus?
Philipp Gessler: Es ist eine ziemlich gekünstelte Sprache, eine Sprache, die relativ viel verschweigt. Wenn man zum Beispiel hört: "Das kann ich gut hören" - es ist so ein Ausdruck, den man bei Synoden hört -, dann heißt es eigentlich: Naja, ich bin alles andere als zufrieden. Aber ich kann das ertragen. Es wird vieles vertuscht, vor allem an Macht und Hierarchien. Dauernd ist die Rede von Augenhöhe. Alles muss auf Augenhöhe passieren. Aber das passiert nicht wirklich. Es ist eine Sprache der Angst und der Unklarheit, der Vorsicht. Also alles ist "wertvoll", und man "darf" alles. "Ich darf hier bei ihnen sein." Etwas im Grunde Selbstverständliches wird wahnsinnig pathetisch aufgeladen. Dann gibt es so eine Art Pseudonähe. Mit Ausdrücken wird es dann verdeutlicht, wie: "Lassen Sie sich berühren", was eigentlich ein sehr starkes Moment ist. Aber das ist alles nicht so gemeint. Ich glaube schon, dass diese Sprache auch einen Teil der Krise ist. Bei unserer Recherche haben wir gesehen, dass viele Leute, die wir angesprochen haben, also Fachleute, an dieser Kirchensprache einen gewissen Überdruss haben. Wir rannten da mit unserem Thema eindeutig offene Türen ein.
Beyrodt: Wenn die Sprache holpert, dann stimmt häufig etwas in der Sache nicht. Was stimmt denn in der Sache nicht?
Gessler: Es ist schon so, dass die Kirchenkrise, die wir haben, - da ist ja wenig daran zu deuteln, wenn jedes Jahr Zehntausende von Leuten die Volkskirchen verlassen -, dass diese Krise sich auch in der Sprache äußert. Ich glaube, es hat etwas zu tun mit einer gewissen Angst, vielleicht auch Angststarre, dass man nicht mehr richtig weiß: Wie kann ich die Leute, die ich doch erreichen muss - das ist ja der Auftrag des Christentums, das Evangelium zu verkünden -, wie kann ich die erreichen, wenn ich selber soviel Angst habe? Man will eigentlich alle erreichen, aber wählt dann eine Sprache, die niemandem mehr weh tut. Dann erreicht man erst recht keinen mehr.
"Kirche muss sich auch politisch äußern"
Beyrodt: An einer Stelle ist davon die Rede, dass es in der evangelischen Kirche schwierig sei, sich bei politischen Themen eindeutig zu äußern. Müssen sich andere Religionen denn überhaupt zu politischen Themen eindeutig äußern?
Gesser: Ja, ich glaube schon, der Auftrag Jesu und das Leben Jesu geben da schon klare Hinweise. Ich kann mir keine Kirche vorstellen, die zum Beispiel Rassismus fördert. Ich kann mir keine Kirche vorstellen, der es ist völlig egal ist, wie gewirtschaftet wird, wie hart der Kapitalismus ist. Ich kann mir keine Kirche vorstellen, in der die Zerstörung der Schöpfung akzeptiert wird. Ich glaube, das Evangelium gibt schon klare Hinweise darauf, wie sich Kirchen zu verhalten haben. Deswegen gehöre ich zu den Leuten, die sagen: Ja, Kirche muss sich auch politische äußern.
Beyrodt: Evangelium ist ein wichtiges Stichwort. Sie sagen auch, dass erstaunlich wenig, jetzt mal von akademischer Theologie abgesehen, über theologische Fragen geredet wurde. Also über Fragen wie: Gibt es einen Gott? Ist dieser Gott dreifaltig, und wenn ja, was heißt das? Nun gibt es jeden Sonntag Zigtausende Gottesdienste. Wie kommen Sie denn darauf, dass nicht über Theologie geredet wird?
Gessler: Es wird über Theologie gesprochen in der Predigt. Die Kirchensprache ist sehr vielseitig. Es gibt die Predigtsprache, es gibt die Sprache der Synoden, es gibt die Sprache von Pressemitteilungen, es gibt die Sprache in der Seelsorge. In der Predigt kommt natürlich Theologie vor, aber in der Öffentlichkeit sind theologische Fragen relativ selten. Noch in den Fünfzigerjahren wurde zum Beispiel über das Buch von dem evangelischen Theologen Bultmann mit der Entmystifizierung des Neuen Testaments heftig diskutiert. Das hat ganze Säle gefüllt, in den ganz normalen, allgemeinen Medien fand diese Diskussion statt. So etwas findet man heute kaum noch, wirkliche Theologie in der Öffentlichkeit nehme ich als Diskussion so gut wie nicht wahr.
Beyrodt: Woran liegt das?
Gessler: Ich könnte mir vorstellen, dass es zum Teil an fehlender religiöser Bildung liegt. Ich lebe ja in Berlin, da ist Religion noch nicht mal ein ordentliches Lehrfach und auch nicht mehr als Wahlpflichtfach vorgesehen. Da gibt es Ethik. Ich sehe es an meinen Kindern: Im Fach Ethik wird über alles gesprochen, auch ein ganz klein bisschen über Religion. Aber natürlich ist dann das religiöse Wissen sehr gering. Man braucht schon Wissen über Religion. Man muss nicht glauben, aber man braucht Wissen über Religion, damit man überhaupt theologisch sprechen kann. Das eine bedingt das andere.
"Sozialpädagogen haben ihre Sprache mitgebracht"
Beyrodt: Mir ist aufgefallen beim Lesen: Viele der Sätze, die Sie zitieren, kommen mir schon speziell kirchlich vor. "Ich lege meins daneben" - das habe ich anderswo noch nie gehört. Aber viele dieser Sätze tauchen anderswo andauernd auf, beispielsweise der Satz: "Alle werden mitgenommen". Solche Sätze könnte man auch bei sozialdemokratischen Milieus hören, vielleicht sogar im Management. Was sagt das aus über unsere Gesellschaft?
Gessler: Das sagt aus, dass zumindest in der Kirche diese, sagen wir mal, sozialpädagogische, Sprache doch sehr stark geworden ist. Das hat zum Teil mit der Entwicklung der Kirchen zu tun, dass sie seit den siebziger, achtziger Jahren sehr viel in die Diakonie gegangen sind. Da brauchte man eben neues Personal. Das waren eben häufig dann Sozialpädagogen, die ihre Sprache mitgebracht haben, also die Öffnung aus dem Kultus heraus in die Gesellschaft hinein hat auch die Sprache verändert. Ich finde es ein bisschen drollig, dass man ausgerechnet im Management jetzt auch diese Sprache benutzt. Denn man weiß doch, dass es darin im Grunde knallhart um betriebswirtschaftliche Dinge geht, um Geld und nicht darum, dass die Menschen sich irgendwie wohlfühlen. Also, da sieht man diese Camouflage, die da stattfindet.
"Das Schroffe und das Fordernde"
Beyrodt: Für die Kirche stellen Sie fest, dass die Sprache sehr sanft geworden ist. Was ist eigentlich gegen eine sanfte Sprache zu sagen? Heiligen Zorn, Höllenpredigten und Strafandrohungen wünschen Sie sich doch wahrscheinlich auch nicht, oder?
Gessler: Nein, das ist wahr. Die Kirche hat tatsächlich in den letzten Jahrzehnten dieses Strafende, dieses Schroffe des Evangeliums verdrängt. Man redet nicht gern darüber. Wenn man die Psalmen liest, zum Beispiel, dass jeder zweite Vers so ungefähr lautet: Zerschmettere meine Feinde. Es gibt diese schon harten Worte von Jesus, der sagt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das wird oft verdrängt. Ich glaube, es ist auch ein Problem, wenn wir das Evangelium und die Botschaft Jesu nur in in ihrer Weichheit und in ihrem umarmenden Aspekten begreifen und nicht auch das Schroffe und das Fordernde an uns heranlassen.
Beyrodt: Sie beziehen sich auf ein Buch von Erik Flügge, das heißt im Untertitel: "Warum die Kirche an ihrer Sprache verreckt." Wenn dem so ist, dass die Kirche an ihrer Sprache verreckt, warum wollen Sie die Kirchen denn nicht an ihrer Sprache verrecken lassen?
Gessler: Ich glaube nicht, dass die Kirche an ihrer Sprache verreckt. Ich glaube, die Kirche ist dann doch so stark, auch wenn sie kleiner werden wird, und vor allem ist das Evangelium so stark, dass die Kirche nicht an ihrer Sprache verrecken wird. Aber sie muss sich mit dieser Sprache auseinandersetzen. Sie muss überlegen: Welche Sprache finde ich, die die heutigen Leute wieder besser erreicht? Wie komme ich aus einer Binnensprache heraus, die im Grunde nur noch innerhalb der Kirche funktioniert?
Beyrodt: Morgen wird der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gewählt. Der ist dann die Stimme der deutschen Bischöfe in der Gesellschaft. Wenn Sie einen Tipp abgeben könnten für die erste Ansprache, was würden Sie sprachlich raten?
Gessler: Was ich von den neuen Vorsitzenden erwarte, ist eine weitere Öffnung gegenüber dem Volk Gottes, gegenüber den normalen Gläubigen. Ich glaube, die Ansprache muss dem gerecht werden. Sie muss in irgendeiner Weise die Offenheit und die Solidarität der Bischöfe mit dem einfachen Kirchenvolk verdeutlichen.
Beyrodt: Ist Offenheit und Solidarität nicht auch schon wieder Kirchendeutsch?
Gessler: Ja, man könnte auch sagen Nächstenliebe, das stimmt schon: Wir sind alle in dieser Sprache drinnen. Ich möchte noch einmal betonen, wir sind nicht die Besserwisser, die irgendwie genau wissen, wie man es genau formulieren sollte. Offentheit und Solidarität - vielleicht sollten wir besser sagen Nächstenliebe, das ist eigentlich das bessere Wort.
Philipp Gessler, Jan Feddersen: Phrase Unser. Die blutleere Sprache der Kirche. Claudius Verlag 2020. 184 Seiten, 20 Euro.
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