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Kirchliche Schulen in England
Leere Kirchen, volle Klassen

Vor 200 Jahren gründete die Anglikanische Kirche in Großbritannien eigene Schulen: für Kinder aus armen Familien. Heute schicken auch wohlhabende Familien ihre Kinder in diese Schulen, denn sie haben einen ausgezeichneten Ruf. Die Plätze sind begehrt, das Zulassungsverfahren ist umstritten.

Von Ada von der Decken |
    links im Bild eine der berühmtesten Bildungsstätten des Landes, die City of London School. Im Hintergrund die St.-Pauls-Kathedrale.
    Schulbildung in Großbritannien: hier staatlich, dort kirchlich - manchmal auch anderweitig privat (imago stock&people)
    Schulleiter Richard Parrish rauscht durch die Pausenhalle. Es ist Donnerstagmorgen in der Archbishop Tenison’s Church of England High School im Londoner Stadtteil Croydon. Er wünscht links seinen Schülern einen schönen Ausflug nach Oxford, wechselt rechts ein Wort mit einem Lehrer. Kurze Absprachen, bevor in wenigen Minuten der Unterricht beginnt. Ein Schuldirektor, der seinen Beruf liebt und lebt.
    Vor vier Jahren feierte die Schule ihr 300-jähriges Bestehen. Richard Parrish ist erst der 16. Direktor seit der Gründung im Jahr 1714. Eine Schule mit Tradition.
    Unterricht und tägliche Andachten
    Heute früh: Begrüßung von vier neuen Kollegen. Sie treten im September ihren Dienst an. Richard Parrish skizziert die Leitlinien und den Tagesablauf der Schule – dieser kirchlichen Schule. Wer mag, kann vor der Mittagspause an einer kurzen Andacht teilnehmen. Jeden Tag fünf Minuten innehalten. Auch in dieser Runde spricht Richard Parrish ein kurzes Gebet.
    Schulleiter Richard Parrish
    Schulleiter Richard Parrish (Deutschlandradio/ Ada von der Decken)
    "Was bei einem Lehrer wichtig ist, ist erstmal Qualifikation und die Fähigkeit im Klassenzimmer und das Interesse am Fach und so weiter und so fort", erklärt Parrish. "Aber jeder weiß, dass wenn man hier in einer christlichen Schule arbeitet, dass man auch in diesem Kontext auch hier zu Hause sein muss."
    Deutsch ist das Unterrichtsfach von Richard Parrish. Viele seiner 650 Schüler sind schwarz. Sie stammen aus Familien, die vor ein oder zwei Generationen aus der Karibik oder Westafrika nach England gekommen sind. Der christliche Glaube: identitätsstiftend.
    "Die Schulen in England im Moment erleben eine Zeit, wo es sehr hohe Erwartungen an sie gibt", sagt der Schulleiter. "Und diese hohen Erwartungen sind vor allem in Noten. Und der Mensch ist ja eben nicht nur von Noten abhängig."
    Lesen lernen mit der Bibel
    Diese Schule ist keine Ausnahme. Allein die Anglikanische Kirche betreibt 4.600 Schulen in England. Es kommen noch einmal gut 2.000 katholische dazu. Ein Drittel aller Grundschüler besucht eine christliche Schule.
    Das kirchliche Engagement für die Schulbildung reicht gut 200 Jahre zurück. Lange bevor sich der Staat darum kümmerte, Heranwachsenden das Lesen und Schreiben beizubringen, bot die anglikanische Kirche auch Kindern aus mittellosen Familien eine Elementar-Bildung an. Die Bibel war die Lesefibel.
    Nigel Genders, bei der Kirche von England zuständig für Bildung, sagt: "Von 1811 an haben wir dann im ganzen Land Schulen errichtet, und schon bald waren es etwa 12.000. Auch arme, benachteiligte Kinder sollten Zugang zu Bildung erhalten, es sollte kein Privileg der Reichen bleiben", so Genders.
    "Nachdem also die Kirche damit begonnen hatte, dachte auch der Staat, dass Schulbildung eine gute Idee wäre. Etwa 50 Jahre später klinkte sich also der Staat ein. Mit der Zeit bildete sich eine Partnerschaft zwischen Kirche und Staat heraus. Diese beiden sind bis heute die beiden großen Schulträger in diesem Land."
    Kirchliche Schulen haben Zulauf
    Aber was unterscheidet die Schulen aus seiner Sicht heute von staatlichen Schulen? Dem landesweiten Lehrplan müssen ohnehin alle folgen. Der Staat zahlt den Betrieb der kirchlichen Schulen fast vollständig.
    Nigel Genders: "Diese Kinder begreifen, dass sie einzigartig sind und nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sich ihre gesamte Schulbildung in einem christlichen Rahmen bewegt. Es hilft ihnen, sich darüber im Klaren zu sein, wer sie sind und wie sie leben sollten."
    Für die Kirche bedeutet der christliche Rahmen eine unerlässliche weltanschauliche Orientierung.
    Nigel Genders ist bei der Kirche von England zuständig für Bildung
    Nigel Genders ist bei der Kirche von England zuständig für Bildung (Deutschlandradio/ Ada von der Decken)
    Allerdings gerät das bestehende System immer wieder in die Kritik: Es sei aus der Zeit gefallen. Während die Kirchenbänke im Land immer leerer werden, werden die Schulbänke der Kirchen immer begehrter. Denn im Vergleich mit normalen Schulen schneiden kirchliche überdurchschnittlich ab.
    Umstrittenes Auswahlverfahren
    Steven Terry ist Gemeindepfarrer im Ruhestand. In seinen 43 Dienstjahren hat er sich im Schulbeirat einer kirchlichen Schule eingebracht. Ungewöhnlich: Auch staatliche Schulen haben ihn mit diesem Amt betraut. Das macht ihn stolz.
    Heute steht er der 'Accord Coalition' vor. Ein Zusammenschluss von Menschen verschiedenen - und keinen Glaubens – die vor allem das Zulassungsverfahren zu kirchlichen Schulen bemängeln. Denn, wenn eine Schule mehr Anmeldungen als Plätze hat, darf sie die Schüler nach eigenen Aufnahmekriterien auswählen.
    Steven Terry erklärt: "Die 'Accord Coalition', deren Vorsitzender ich bin, ist nicht gegen Schulen in der Trägerschaft von Religionsgemeinschaften. Da werden wir oft falsch verstanden. Wir sind dafür, dass alle Schulen dieselben Aufnahmekriterien haben. Der Glaube sollte dabei keine Rolle spielen. Alle jungen Menschen sollten dieselben schulischen Möglichkeiten haben."
    Wie funktioniert das Zulassungsverfahren? Und warum ist es angeblich unfair?
    Englische Eltern können selbst entscheiden, zu welcher Schule sie ihr Kind schicken möchten. Wer am nächsten am Schulgelände wohnt, wird angenommen. Kirchliche Schulen legen für einen bestimmten Anteil der Schüler – meist die Hälfte – ebenfalls das Kriterium an, wie weit der Schulweg ist.
    Die anderen Schüler stammen aus Familien, die Mitglieder einer Kirchengemeinde sind. "Leider tricksen einige Leute das System aus", sagt Steven Terry. "Die wissen, dass die Schule stark nachgefragt ist - und plötzlich werden sie zu Kirchgängern. Sind die Kinder dann angenommen, tauchen die Eltern nicht mehr auf in der Kirche. Dieses System lädt ein zu Manipulation und Unehrlichkeit."
    Nigel Genders von der Church of England dagegen gibt zu bedenken: "Die Leute verlangen ein gerechtes System: Aber was würde geschehen, wenn es nur nach dem Einzugsgebiet der Schule ginge? Dann würden viele Interessenten umziehen, um an unseren Schulen zugelassen zu werden. Und das wäre auch nicht gerecht."
    Tricksen für den Zugang
    Schwierig, ein gerechtes System zu finden. Wenn es nur nach Einzugsgebiet ginge, sähe die Schülerschaft an Richard Parrishs Schule homogener aus. Seine Schule in Croydon liegt in einem Viertel mit vielen Einfamilienhäusern. Eine reiche Gegend. Und doch hat er viele Schüler aus ärmeren Familien.
    Schulleiter Richard Parrish in einem Klassenzimmern mit Schülern
    Schulleiter Richard Parrish unterrichtet Deutsch (Deutschlandradio / Ada von der Decken)
    "Wenn also diese Schule nur für die Familie in der Nachbarschaft wäre, dann ist diese Nachbarschaft eigentlich eine ziemlich wohlhabende Nachbarschaft", sagt der Schulleiter. "Und das wäre eine ganz andere Schule. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir Schüler aus fast jedem Gebiet von Croydon haben."
    Was hier in Croydon dafür sorgt, dass die Schüler bunt durchmischt sind, bietet anderswo ein Einfallstor für Manipulation. Das Thema Zulassung wird die kirchlichen Schulen in England wohl noch länger begleiten.