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Kirchlicher Widerstand 1989
Mahnwache mit Gesangbuch

An Ost-Berliner Kirchen wurde so lange demonstriert, bis politische Gefangene freigelassen wurden. So schrieben Oppositionelle vor 30 Jahren Geschichte. Mit Mahnwachen und Kerzen und Gesangbüchern in der Hand gegen den SED-Staat - etwa an der evangelischen Zionskirche.

Von Anna Marie Goretzki |
Die Berliner Zionskirche
Die Berliner Zionskirche war eng mit der DDR-Opposition verknüpft (Deutschlandradio / Anna Marie Goretzki)
Christian Halbrock geht vor dem Haus in der Griebenowstraße 16 in die Knie, berührt die Metallsprosse vor einem Kellerfenster.
"Die Fenster waren wirklich wesentlich kleiner. Die waren de facto fast geschlossen. Da war nur so eine Kelleröffnung drin und da drinnen war eine Metallplatte. Also, das war sozusagen die Öffnung zur Umweltbibliothek. Eigentlich musste man das Licht ständig anmachen."
"Die Gefängnisse sind voll mit politischen Inhaftierten"
Halbrock, Mitte 50, mit dunkelblauem kurzärmeligen Hemd und Cargohose weist auf die Räume, in denen er und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen in den 1980er-Jahren für ein großes Ziel kämpften: das Informationsmonopol der Deutschen Demokratischen Republik zu brechen.
"Da gab es ganz praktische Erfahrungen. Ich war seit 1983 aktiv in Berlin in verschiedenen politischen Gruppen. Und wir hatten die Erfahrung, dass verschiedene Leute von uns inhaftiert wurden. Und bis dahin dachten wir, das Problem in der DDR ist, dass kaum jemand bereit ist, was gegen das System zu tun. Und die kamen dann eben aus den Gefängnissen und erzählten uns: Ja, die Gefängnisse sind voll mit politischen Inhaftierten. Das einzige Problem ist, dass keiner vom anderen etwas weiß. Dadurch ist die Idee gereift, man muss einfach diesen verhinderten Informationsfluss in der Gesellschaft in Gang bringen. Ja, und da war die Umweltbibliothek das Mittel dazu."
Von Homosexualität bis Waldsterben
Christian Halbrock läuft durch den Hauseingang in den Hinterhof, wo heute Kinder einer Kita spielen.
"Und hier war der eigentliche Eingang durch die Hintertür. Hier war die Umweltbibliothek drin. Und oben im Obergeschoss die Umweltbibliotheksgalerie, wo wir Veranstaltungen gemacht haben. Ja, so eine Art Café-Betrieb noch."
1986 gegründet, wurde die Umweltbibliothek in unmittelbarer Nachbarschaft der Zionskirche zu mehr als nur einer Bibliothek: Sie war auch Druckerei für verschiedene Zeitungen, Treffpunkt Oppositioneller, Veranstaltungsort. Eine Art "Informationsstelle" zu allen Themen rund um "Umwelt". Gemeint war mit diesem weit gefassten Begriff alles, was mit den "Lebensumständen der Menschen" zu tun hatte.
Kerstin Halbrock (geb. Gierke)
Kerstin Halbrock zog die Neugier zur Zionskirche (Deutschlandradio / Anna Marie Goretzki)
Wegen Themen, die in der DDR tabuisiert waren, trat auch Halbrocks heutige Frau, Kerstin Halbrock, der Umweltbibliothek bei. Damals, 1987, war sie 17 und hieß mit Nachnamen Gierke.
"Ich komme aus einer Stadt, Bernau, bei Berlin hier, wo viel Armee war und auch Staatssicherheit. Wir waren sehr geprägt von dem System, ich war richtig überzeugt vom Sozialismus bis zum 14. Lebensjahr. Über Freunde aus den Nachbarklassen habe ich dann erfahren, ja, da gibt es eine Junge Gemeinde und da werden echt andere Themen als die in den offiziellen Jugendverbänden behandelt. Genau das hat uns als Jugendliche auch interessiert. Von Homosexualität bis Waldsterben. Von daher war das richtig befreiend. Und das waren auch ganz andere Leute. Und das hat mich total fasziniert."
"Mein Vater hatte mal gegen die Mauer gepredigt"
Christian Halbrock begründet sein Engagement in der DDR-Opposition mit seiner Sozialisierung. Er wuchs auf in einer evangelischen Familie im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern, südlich von Rostock. Einem Landstrich, dem Halbrock für die Zeit seiner Kindheit und Jugend eine generell systemkritische Grundhaltung attestiert. Die prägte ihn - und wohl auch seine Eltern:
"Beide Eltern hatten auch in der Frühzeit der DDR Ärger aus politischen Gründen. Mein Vater hatte mal gegen die Mauer von der Kanzel gepredigt, und das stand dann gleich in einer Regionalzeitung drin."
Politische Kirchenarbeit
Der Druck auf seine Pastoreneltern, die staatlichen Repressalien, die er als Kind und Heranwachsender durchaus wahrnahm, taten das Übrige: Halbrock schloss sich der oppositionellen Szene an. Er lernte Wolfgang Rüddenklau und Carlo Jordan kennen. Sie gründeten so etwas wie einen Vorläufer der Umweltbibliothek im Berliner Stadtteil Lichtenberg. Christian Halbrock sagt:
"Und weil es nun partout keine so gute Idee war, gegenüber vom Sitz des Ministers für Staatssicherheit eine Umweltbibliothek zu betreiben, das ganze Karree war ja faktisch dort eingemauert, deswegen fiel dann die Entscheidung: Ja, wir versuchen es an der Zionskirche. Und wir hatten uns gedacht, wenn wir dort alle eintreten, dann haben wir auch ein starkes Mitspracherecht, können uns in den Gemeindekirchenrat wählen lassen - was wir auch gemacht haben. Wenn wir hier sozusagen festes Glied sind in der Kirchgemeinde, können wir als eine eigene Arbeitsgruppe Räume beanspruchen."
Christian Halbrock vor dem Eingang der Zionskirche in Berlin
Christian Halbrock engagierte sich in der Zionskirche gegen das DDR-Regime (Deutschlandradio / Anna Marie Goretzki)
Der damalige Pfarrer Hans Simon unterstützte die Initiative von Anfang an. Christian Halbrock sagt:
"Er ist damals, 1953, von der Oberschule runter geflogen, weil er Mitglied der Jungen Gemeinde war und wusste, was Repression ist, wenn man jung ist und auf der Straße steht. Und dann standen wir vor ihm und dann hat ihn das irgendwie so ein bisschen erinnert anscheinend an seine Geschichte. Und hat sofort geguckt, wo haben wir Räume und hat uns dann die Kellerräume zur Verfügung gestellt."
Raum für das Undenkbare
Von nun an fanden mehrmals wöchentlich Gesprächsgruppen statt, überregionale Treffen mit anderen Aktivisten, oder Bibliotheksbetrieb - auch mit zensierter Literatur. Die Kirchenräume waren mehr als Kellerräume. Sie boten Raum für das Undenkbare:
"Und somit entwickelte sich der kirchliche Raum zu so einem 'safe haven', zu einem Schutzhafen für Leute, die erst mal diesen Sammlungsprozess bewerkstelligen mussten. Ein Sammlungsprozess, sich mit Gleichgesinnten treffen zu können. Und man hatte eben diese günstige Situation, dass ein Teil der Leute, die zu diesem Protestpotenzial gehörten, selber aus kirchlichen Häusern kamen, wussten wie Kirche auch funktionierte. Auf der anderen Seite waren in kirchlichen Ämtern auch viele Pfarrer und Diakone, die eben in der Frühzeit der DDR Repressionserfahrungen gemacht haben."
"Dürfen unsere Kinder noch Milch trinken?"
Pfarrer Hans Simon sah das, was er für christliche Werte hielt, Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, in der Arbeit der Umweltbibliothek verwirklicht, erinnert sich Kerstin Halbrock. Auch sie, die vorher wenig mit Kirchen zu tun hatte, war geprägt von diesen Werten. Überhaupt: Umweltbibliothek und Gemeinde belebten sich gegenseitig und profitierten voneinander, meint Christian Halbrock:
"Wir haben 1986 unsere Umweltgruppe hier aufgemacht und schon kurz vorher gab es diesen Reaktor-, Atomunfall in Tschernobyl, in der Ukraine. Ja, und dann hat Pfarrer Simon natürlich seinen kirchlichen Kindergarten - und dann standen die Mütter bei ihm auf der Schwelle: Ja, können wir unseren Kindern jetzt das und das noch geben, dürfen die Milch trinken? Und da war er eigentlich ganz froh, dass er hier so paar 'Ökospinner' hat und hat gesagt, ja, dann machen die eben eine Veranstaltung zur Atomsicherheit. Das war eine unserer ersten Veranstaltungen, die wir hier gemacht haben.
Stasi-Verhaftungen in kirchlichen Räumen
Neben solchen Veranstaltungen diente die Umweltbibliothek auch als Druckerei. Die Informationsschrift "Umweltblätter" wurde hier gedruckt, aber unter anderem auch die politische Untergrundzeitschrift "grenzfall". Christian Halbrock:
"Der ‚grenzfall‘ war eine relativ spektakuläre Geschichte, weil es eine Zeitschrift war, nach der ständig gefahndet wurde und zum anderen, weil diese Aktion dann dazu geführt hat, dass es zu dieser Durchsuchung kam, der Überfall auf die Kellerräume in der Umweltbibliothek."
Ein am 27.11.1987 am Turm der Zions-Kirche angebrachtes Protest-Plakat.
Die Razzia in der Umweltbibliothek führte 1987 zu Protesten (Picture Alliance / ZDF)
Am 24. November 1987 fand unter dem Decknamen "Falle" eine Razzia des Ministeriums für Staatssicherheit statt. Die Drucker sollten dabei überrascht werden, wie sie den illegalen "grenzfall" erstellten. Stattdessen wurden gerade die legalen "Umweltblätter" gedruckt. Christian Halbrock war zu dem Zeitpunkt schon zu Hause.
"Die sind dann in den Keller, haben die Leute dann festgenommen, die hier mit Druckerei beschäftigt waren und haben aber auch Leute mitgenommen, die von der Umweltgalerie herunterkamen. Ich habe dann frühmorgens davon gehört. Bin dann sofort hierhin. Und dann haben wir eben überlegt: Was machen, ne?"
"Wir haben uns dann Gesangbücher geschnappt"
Der Staat dringt in kirchliche Räume ein - ein Politikum. Mahnwachen wurden organisiert, um gegen die Verhaftungen zu protestieren.
"Wir wussten, das ist jetzt eine konfrontative Situation, das wird nicht so einfach werden, und haben dann gesagt: Okay, wir teilen verschiedene Gruppen ein, wir teilen 20er-Gruppen ein, schicken die erste 20er-Gruppe los vom Pfarrhaus zur Kirche, um sich da hinzustellen mit Kerzen. Es war tatsächlich so. Die wurden sofort festgenommen. Und dann haben wir gesagt, okay, dann müssen wir noch stärker auf kirchlich machen. Haben uns dann Gesangbücher geschnappt. Ich bin dann mit vorne weg. War ja gleichzeitig Kirchgemeinderatsmitglied. Und dann auf einmal hat man die zweite Staffel durchgehen lassen, zur Kirche gehen lassen und seitdem stand dort die Mahnwache."
Solidarität kam aus dem In- und Ausland. Ein Stein war ins Rollen gekommen. Wegen des wachsenden Drucks auf den Staat kamen die Verhafteten schließlich frei. Eine Niederlage für die SED-Diktatur.
"Eine Übergangszeit wäre schön gewesen"
Trotz der Bedrohung: Für die Halbrocks - wie für die meisten von der Umweltbibliothek - waren Ausreise oder Flucht keine Option. Der Mauerfall 1989 war für sie erst einmal eine Enttäuschung, erinnert sich Kerstin Halbrock. Die DDR, die sie aus dem Inneren heraus verändern wollten, gab es plötzlich nicht mehr.
"Wir waren ein Stück weit auch schockiert, wie das dann kam, der Lauf der Dinge. Am 4. November '89 bei der Großdemonstration, da hatten wir echt noch geglaubt, ja, Mensch, jetzt können wir mal hier, jetzt fangen wir hier an, dieses Land auch für uns zu gestalten. Auch naiv, im Nachhinein. Schön wäre gewesen eine Übergangszeit, so dass wir uns erst mal sortieren können, vielleicht auch selber gucken können, Bestandsaufnahme, was ist jetzt übrig von diesem maroden Land."
Der Schock ist längst überwunden. Beide Halbrocks sind dankbar über den Mauerfall, den Zusammenbruch der DDR und der damit verbundenen Befreiung. Vor allem für Christian Halbrock bedeutete die Umweltbibliothek immer auch ein "gesellschaftliches Experiment". Das Ergebnis war ein positives: Organisation von Protest aus dem Inneren der DDR heraus und gesellschaftliche Solidarität in diesem System der Unterdrückung waren möglich. Grenzgänger, Oppositionelle und Evangelische agierten Hand in Hand - nicht nur hier rund um die Zionskirche.