Gerald Beyrodt: Die Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg haben entschieden: Wenn, wie in Düsseldorf ein Chefarzt eines kirchlichen Krankenhauses entlassen wird, weil er nach einer kirchlichen Ehe und nach der Scheidung ein zweites Mal geheiratet hat, dann kann das eine Diskriminierung sein. Und: Wie die Kirchen mit ihren leitenden Angestellten in einer Klinik umgehen, das bleibt nicht einfach ihnen überlassen, sondern das ist Gegenstand von gerichtlichen Überprüfungen. Wir hatten das Thema gestern sofort nach dem Richterspruch live hier in der Sendung, und gönnen uns jetzt einen zweiten Blick. Im Studio begrüße ich Hans Markus Heimann, Professor für öffentliches Recht und Staatstheorie an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Brühl bei Köln. Guten Morgen, Herr Heimann.
Hans Markus Heimann: Guten Morgen.
Beyrodt: Herr Heimann, was sind denn die wesentlichen Inhalte dieses Urteils?
Heimann: Ja, der Europäische Gerichtshof hat die Gleichbehandlungsrichtlinie ausgelegt auf Anrufung des Bundesarbeitsgerichtes und hier eben entschieden, wie es aussieht, - wenn man von dieser Gleichbehandlung, die ja auch in Deutschland im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzt AGG umgesetzt wurde -, ob es hier Ausnahmen gibt für Religionsgemeinschaften. Und ja, der Tenor der Entscheidung ist der, dass zu überprüfen ist, ob eine solche Loyalitätsanforderung eine wesentliche rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts dieses Ethos ist, also das wäre zu überprüfen durch das jeweils entscheidende Gericht. In dieser konkreten Sachlage hat es dann auch noch angedeutet, dass es für einen Chefarzt in einem katholischen Krankenhaus nach seiner Auffassung eher keine Anforderung ist.
"Man wird sehen, wie sich das entwickelt"
Beyrodt: Genau. Der EuGH hat gesagt: Wir sehen das eigentlich nicht so richtig ein, warum dieser Chefarzt das brauchen soll, dass er kein zweites Mal heiraten darf. Ist das normal, dass sich der Europäische Gerichtshof da so weit aus dem Fenster lehnt?
Heimann: Naja, normal. Was ist normal? Es gibt ja gewisse Vorentscheidungen, die in eine ähnliche Richtung gegangen sind beim Europäischen Gerichtshof. An sich hat ja die Europäische Union gar keine Kompetenz für Fragen des Verhältnisses von Staat und Religion. Aber sie hat die Kompetenz, beispielsweise hier jetzt für das Arbeitsrecht, Gleichbehandlung einzufordern. Und es gibt eben diese Gleichbehandlungsrichtlinie und natürlich kann man dann eben auch Arbeitsverhältnisse mit kirchlichen Einrichtungen daran messen. Insofern ist das zunächst einmal ein ganz normaler rechtlicher Fall. Die endgültige Entscheidung wurde nicht getroffen wurde, sondern nur eine Richtung vorgegeben. Dass das jetzt aber so deutlich gesagt wird, wie es funktionieren soll, das ist schon, gerade auch in der Kürze und Prägnanz, um es positiv zu formulieren, beim Europäischen Gerichtshof erstaunlich.
Beyrodt: Bringt denn das Urteil eine spürbare Verbesserung für kirchliche Mitarbeiter?
"Dieser Fall würde heute nicht mehr entstehen können"
Heimann: Also, an sich ist dieser konkrete Fall ja fast Rechtsgeschichte, insofern als dass die Loyalitätspflicht 2015 von den katholischen Bistümern gelockert wurden, verändert wurden. Also dieser Fall würde wahrscheinlich heute so nicht mehr entstehen können. Man wird sehen, wie sich das entwickelt. Also in den Fällen, die jetzt so ein wenig offensichtlich sind und vom Europäischen Gerichtshof, wie dieser, entschieden wurden, da wäre es so ja nicht mehr gekommen. Aber, bei den anderen Fällen weiß ich nicht. Also da, wo eben eine besondere Nähe zum Verkündigungsauftrag oder ähnliches existiert…
Beyrodt: …also, wenn jemand jetzt beispielsweise Priester ist, Gemeindereferent.
Heimann: Ja, auch Gemeindereferent als Beispiel. Da weiß ich nicht, ob hier nicht eben dann doch wieder geguckt werden müsste, ob da diese besondere Loyalitätsverpflichtung doch ihren Raum hat und ob dann nicht auch der Europäische Gerichtshof vor diesem Hintergrund anders entscheiden würde.
Beyrodt: Aber verstehe ich das Urteil richtig, dass die Kirchen stärker gucken müssen und begründen müssen, warum muss Frau Müller dieses erfüllen und Herr Meier jenes? Warum dürfen die nicht geschieden und wiederverheiratet sein oder in einer eingetragenen Partnerschaft oder ähnliches?
Heimann: Ja, sie müssen es begründen. Das mussten sie bisher nach dem deutschen Recht und dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes ja auch schon. Also auch da musste - wie es das Bundesverfassungsgericht immer genannt hat – plausibel dargelegt werden, warum das jetzt eben eine solche Loyalitätsanforderung ist. Das, was neu ist beim Europäischen Gerichtshof, ist, dass die Plausibilität einer strengeren Kontrolle, wenn man so möchte, unterworfen wird. Das heißt, es wird bewertet, ob das nun wirklich überzeugend ist, was sie da sagen, oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Plausibilitätsanforderung eher auf einem unteren Level gefordert, was aber nicht heißt, dass das dann im luftleeren Raum gewesen wäre. Auch da hätte man dann nur auf einem rechtlich anderen Wege schon noch die Frage gestellt, wie das in die Rechtsordnung passt.
Beyrodt: Es gibt viele Punkte, die man zu einer christlichen Lebensweise zählen kann: Da kann man über soziales Engagement reden, über Gerechtigkeit, über eine bestimmte Einstellung zum Reichtum. Nun wird aber über die Themen zweite Ehe, Scheidung und Sexualität so erbittert gestritten. Warum eigentlich?
Heimann: Weil hier offensichtlich Anforderungen der katholischen Kirche mit dem gesellschaftlichen Mainstream in einen gewissen Konflikt geraten. Wie gesagt: Ich denke, vom Grundsatz her muss es eine Religionsgemeinschaft selbst bestimmen, nach welchen Kriterien sie eigentlich Mitarbeiter beschäftigen möchte. Das ist der Ausdruck von Religionsfreiheit. Das Problem existiert eher dadurch, dass es in Teilen Deutschlands recht viele kirchliche Einrichtungen in der Wohlfahrtspflege gibt, die zwar kirchlich sind, aber dennoch weitgehend staatlich finanziert eine große, reale Dominanz haben, sodass es kaum andere Arbeitsplätze auch gibt. Und da liegt eigentlich das Problem, also dass die Kirche da so einen großen Raum hat und damit eben in weiten Bereichen dieser Wohlfahrtspflege ihre Maßstäbe verbindlich macht, obwohl gar nicht so viele Leute einer Religionsgemeinschaft wie der katholischen Kirche in dem Fall noch angehören.
Kritik am theologischem Gespür der Gerichte
Beyrodt: Das sind ja auch Arbeitsplätze, wo man nicht so richtig einsehen kann, warum ist das jetzt hier die große Verkündigung, wenn einer Chefarzt ist.
Heimann: Ja, aber das ist eine religiöse Bewertung, eine theologische Bewertung. Das kann ich nicht beurteilen. Wenn die Kirche das für sich so sieht, dann soll sie das so sehen. Für mich wäre eigentlich der Weg des Bundesverfassungsgerichtes der überzeugendere. Dass man das in einem ersten Schritt auch mal so hinnimmt, und dann in einem zweiten Schritt diesen Ausdruck von Religionsfreiheit mit den Grundrechten des Arbeitsnehmers in Abwägung bringt.
Beyrodt: Also man muss dazu sagen: Es hat vorher ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben...
Heimann: Genau. Und wir haben eben so eine langjährige, Rechtsprechung in Deutschland gehabt, wie man mit diesen Fällen umgeht. Und das ist oftmals im Ergebnis eben recht kirchenfreundlich ausgegangen, aber vom System her hätte es das nicht müssen. Und das hätte durchaus gesellschaftliche Veränderungen in dieser Abwägung ja auch aufnehmen können.
Beyrodt: Ihr Kollege Hans Michael Heinig schreibt: "Dem Gericht mangelt es an Sinn dafür, dass im kirchlichen Arbeitsrecht implizit theologische Fragen verhandelt werden. Und diese theologischen Fragen dürften weltliche Gerichte nicht entscheiden." Teilen Sie diese Kritik?
Heimann: Ja, da hat er vollkommen recht. Es ist einfach nicht gut, wenn der Staat darüber entscheidet, ob eine religiöse, theologische Anforderung sinnvoll ist oder nicht. Das ist nicht die Aufgabe des Staates. Es ist die Aufgabe des Staates, einer Religion zu sagen, ihr könnt glauben und fordern, was ihr möchtet. Aber es gibt vielleicht ein staatliches Recht, das dem ganzen gegenübersteht und das wir für wichtiger erachten. So würde man es ja bei anderen Entscheidungen ja auch machen. Also, nehmen Sie die Kopftuchentscheidung. Da sagt ja auch nicht das Bundesverfassungsreicht, also du musst gar nicht dein Kopftuch tragen, weil das so nicht vorgesehen ist im Islam.
Es sagt, wenn du subjektiv denkst, aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen zu müssen, tu das. Aber, es gibt vielleicht Situationen, in denen das staatliche Recht überwiegt und deshalb dein Kopftuch hier nicht funktioniert. Also, das heißt, genau dasselbe haben wir hier auch. Und deshalb ist eben die Kritik am Europäischen Gerichtshof die, dass er auch die ja auch in der europäischen Grundrechtecharta - an die der Europäische Gerichtshof ja auch gebunden ist - verankerten Grundrechte zur Auslegung dieser Richtlinie gar nicht herangezogen hat. Denn auch hier hätte man ja die Richtlinie im Lichte der Religionsfreiheit, der kollektiven Religionsfreiheit, und auf der anderen Seite auch das Recht des auf Ehe und Familie aus der europäischen Grundrechtecharta auslegen können. Dazu verliert aber der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung gar kein Wort.
"Die Art und Weise der Entscheidung wirkt durchaus befremdlich"
Beyrodt: Also Sie klingen mit dem Urteil unzufrieden.
Heimann: Also mir erscheint dieses Urteil in der Art, wie es da sehr apodiktisch daherkommt, ein bisschen undifferenziert, und es nimmt durchaus nicht alle Aspekte, die man hier eigentlich mal hätte besprechen können. Ob es im Ergebnis falsch ist, will ich gar nicht sagen. Ich glaube nicht, dass vielleicht das Bundesarbeitsgericht nur anhand dessen, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hatte, nicht auch schon so auf dieses Ergebnis hätte kommen können. Denn in der Abwägung zwischen dem Recht auf Ehe und Familie könne man ja hier mit guten Gründen auch dazu kommen, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Ausdruck der Religionsfreiheit zurücktreten muss. Insofern ist das Ergebnis nicht falsch oder nicht unbedingt nicht vertretbar. Aber die Art und Weise, wie das hier in dieser Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof kommt, wirkt aus meiner – vielleicht ja auch eben deutsch geprägten Sicht – durchaus befremdlich.
Beyrodt: Das Urteil sagt auch, Gerichte können darüber urteilen, ob der Arbeitgeber seine Mitarbeiter unterschiedlicher Religionen unterschiedlich behandeln darf. Das ist ja bislang durchaus der Fall, dass sich katholische Mitarbeiter da an mehr Pflichten halten müssen. Heißt das eigentlich in der Konsequenz, die Kirchen wären auf der sicheren Seite, wenn sie sozusagen den Level absenken und von allen Mitarbeitern relativ verlangen?
Heimann: Ja, dann wären sie natürlich auf der sicheren Seite, klar. Ob das mit der theologischen Auffassung zu diesen Themen übereinstimmt, wie gesagt, kann ich nicht richtig beurteilen. Ich persönlich würde aber sagen, man sollte sich darüber klar werden, was man aus theologischer Sicht wirklich an Anforderungen braucht und dann gegebenenfalls auch darauf beharren und nicht im Voraus eilenden Gehorsam Dinge absenken, wo man sie vielleicht selbst nicht vor sich vertreten könnte.
Beyrodt: Wo hört kirchliche Selbstbestimmung auf und wo fängt Diskriminierung an? Darüber habe ich mich mit dem Jura-Professor Hans Markus Heimann unterhalten – anlässlich eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes von gestern. Herr Heimann, vielen herzlichen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.