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Kita-Qualitätsgesetz
"Wer bestellt, bezahlt auch"

Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell hält die Umsetzung eines Kita-Qualitätsgesetzes derzeit für unrealistisch. Dafür müsste der Bund die Kommunen finanziell entlasten. Doch der zeige keine Bereitschaft, denn die laufende Legislaturperiode stehe "unter der Oberhoheit der schwarzen Null im Bundeshaushalt".

Stefan Sell im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Stefan Sell
    Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell. (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Manfred Götzke: Kita-Plätze gibt es sicher immer noch nicht genug, aber in den meisten Bundesländern müssen Paare nicht mehr in der Kita vorstellig werden, bevor das Kind überhaupt gezeugt wurde. Weil es seit 2013 einen Rechtsanspruch auf Kita-Platz gibt, wurden Zehntausende neue Plätze geschaffen. Die Frage ist nur, was für welche? Mittlerweile hat die Bundesregierung erkannt, in vielen Kitas ist die Betreuungsqualität eher geht so. Familienministerin Manuela Schwesig will deshalb ein Kita-Qualitätsgesetz auf den Weg bringen. Heute berät sie erstmals mit den Landesministern darüber. Einfach sind die Verhandlungen nicht, berichtet Frank Capellan.
    In der Tat - es dürfte also noch ein Weilchen, vielleicht sogar noch eine ganze Legislaturperiode dauern, bis sich Bund und Länder auf einheitliche Standards einigen. Können wir so lange warten? Stefan Sell ist Sozialwissenschaftler und Kita-Experte an der Hochschule Koblenz. Herr Sell, Sie haben uns vor einem Jahr gesagt, der Kita-Ausbau mit der Brechstange, der sei kindeswohlgefährdend. Wie sehen Sie das denn heute? Würden Sie Eltern davon abraten, ihr Kind in die Kita zu geben?
    Stefan Sell: Also so weit würde ich natürlich nicht gehen können, weil wir eine unglaubliche Heterogenität, was die Qualität der Kinderbetreuung angeht, nicht nur zwischen Bundesländern oder Regionen, sondern auch innerhalb einer Stadt, zwischen den Einrichtungen haben. Es gibt natürlich weiterhin super-gute Kitas, wo man sein Kind bedenkenlos auch hinbringen kann. Aber man muss natürlich schon sehen, dass sozusagen dieser gewaltige Ausbau, den wir in den letzten Monaten erlebt haben, vor allem damals, im vergangenen Jahr, vor dem Rechtsanspruch. Der hat dazu geführt, dass also auf Teufel komm raus Plätze geschaffen wurden, vor allem irgendwelche Plätze in der Not, aus Angst zum Beispiel vor einer Klagewelle, die ja dann ausgeblieben ist.
    "Viele Kommunen sind finanziell am Ende"
    Götzke: Woran mangelte es denn bisher? Städte hatten keine Standards, Länder nicht, der Bund sowieso nicht?
    Sell: Ja. Es gab sozusagen historisch nie richtig inhaltliche Standards, also zum Beispiel, wie viel Personal braucht man wirklich für eine gute Arbeit? Und diese Situation, dass man mit keinen Standards reingegangen ist in einen gewaltigen quantitativen Ausbau, das prallt jetzt sozusagen auf diesen standardlosen Zustand in vielen Kitas. Und auch wenn vor Ort gesehen wird, man müsste es eigentlich besser machen, müssen wir natürlich sehen, am Gelde hängt's, zum Gelde drängt's - die Kommunen sind die Hauptkostenträger der Kita-Betreuung, und viele Kommunen sind also finanziell am Ende und müssen dann sozusagen auch ein Sparprogramm durchziehen.
    Götzke: Und ausbaden, was der Bund beschlossen hat mit dem Gesetz.
    Sell: Richtig.
    Götzke: Nun lädt Familienministerin Schwesig heute zum Kita-Gipfel und will mit den Ländern über Qualitätskriterien sprechen. Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten?
    Sell: Es gibt mittlerweile eine gute Forschung, welche Rahmenbedingungen sind nachgewiesenermaßen, können die Qualität in den Kitas erhöhen. Dazu gehört die Erzieher-Kind-Relation, die Zeit, die eine Fachkraft mit dem Kind, am Kind verbringen kann. Dann die Leitungsfreistellung, ein ganz wichtiger Punkt. Die Leitungskräfte müssen das ja auch organisieren und managen. Und der dritte Punkt ist die Gruppengröße, und dann Fachberatung für die Erzieherinnen, für die Erzieher - ganz, ganz wichtig. Das sind so die vier allerwichtigsten, würde ich mal sagen, die aber alle in Summe natürlich eine Menge Geld kosten würden.
    "Personalschlüssel ist unverantwortlich"
    Götzke: Diese Punkte, die sind ja auch tatsächlich Gegenstand des heutigen Gipfels. Sprechen wir vielleicht mal über den ersten Punkt. Ein guter Fachkraft-Kind-Schlüssel. Was wäre denn aus Ihrer Sicht ein solcher?
    Sell: Wenn wir die unter dreijährigen Kinder nehmen, die ja jetzt in den letzten Jahren im Mittelpunkt des Ausbauinteresses standen, dann sagt die Forschung, die Kinder unter drei, da müssten wir eigentlich eins zu drei haben, also einen Schlüssel von eins zu drei, eine Fachkraft auf drei Kinder. Die Realität derzeit sieht so aus, dass zum Beispiel das beste westdeutsche Bundesland, der Stadtstaat Bremen, die kommen auf eins zu 3,5 - es gibt in Ostdeutschland Bundesländer, wo wir bei diesen ganz Kleinen, die ja sehr verletzlich sind, haben wir Personalschlüssel von eins zu sieben. Und das ist unverantwortlich, nach allem, was wir aus der Forschung wissen.
    Götzke: Nun sagt die Familienministerin, wenn man jetzt den Schlüssel auf eins zu vier, was ja immer noch schlechter wäre, als Sie empfehlen, senken würde, dann würde das bundesweit pro Jahr 1,6 Milliarden Euro kosten. Sehen Sie die Bereitschaft von Bund und Ländern, diese Kosten zu übernehmen?
    Sell: Nein. Da sind wir jetzt genau am auch heutigen Kernproblem. Deswegen wird, wenn ich das jetzt mal so prognostisch wagen darf, wird außer viel warmen Worten nicht viel herauskommen können. Der Bund müsste 40 bis 50 Prozent der laufenden Kosten übernehmen, weil wir auch nachweisen können, dass zum Beispiel der Nutzen, der übrigens gerne vergessen wird, durch die Kita-Betreuung, nämlich die Mütter können arbeiten gehen, zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge - das haben wir alles berechnet - der Nutzen fällt überwiegend auf der Bundesebene an. Nur da hat die Familienministerin auf der Bundesebene kein grünes Licht vom Bundesfinanzminister bekommen. Das heißt, sie muss über Standards verhandeln, wo sie aber kein Geld mitbringen kann. Und wenn sie jetzt fordern würde, eins zu vier, dann sage ich Ihnen, dann würden die Bundesländer aus ihrer Sicht völlig zu Recht sagen, wer bestellt, der bezahlt auch. So beißt sich an dieser Geldfrage die Katze in den Schwanz.
    17 Milliarden Euro für frühkindliche Bildung
    Götzke: Aber nicht nur da. Manche Bundesländer sehen auch ihre Kompetenzen gefährdet und sagen, wir haben unsere eigenen Standards. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es in den nächsten, sagen wir mal, drei bis vier Jahren ein Kita-Qualitätsgesetz geben wird?
    Sell: Wenn Sie mich fragen, ob es ein richtiges Kita-Qualitätsgesetz gibt, dann muss ich leider - ich bin nur Überbringer der schlechten Nachricht - sagen, zumindest für die laufende Legislatur, die unter der Oberhoheit der schwarzen Null im Bundeshaushalt steht, sehe ich diese Chance realistisch nicht. Nein, es liegt einfach daran, diese Mittel fehlen. Sie können sich das an einer Zahl deutlich machen: Wir geben zurzeit etwas mehr als 0,5 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für die gesamte frühkindliche Bildung aus. Das sind 17 Milliarden Euro pro Jahr in ganz Deutschland. Wir müssten eigentlich, wenn wir zum Beispiel wie Frankreich oder Dänemark oder Schweden, ein Prozent ausgeben. Wir müssten schlichtweg die doppelte Summe ausgeben. Solange der Bund nicht bereit ist, einen erheblichen auch materiellen Beitrag zu leisten, solange werden die Kommunen vor Ort sozusagen aus Eigeninteresse versuchen müssen, die Kosten zu deckeln, zu begrenzen. Und das kann in diesem Bereich immer nur, leider, auf Kosten der Qualität gehen.
    Götzke: Warme Worte, wenig Substanz. Zum Kita-Gipfel war das Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der FH Koblenz. Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.