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Kita-Streiks
"Desaster für die Führungsspitze der Gewerkschaft Verdi"

Die Mehrheit der Verdi Mitglieder hat sich gegen die Schlichtung ausgesprochen. Damit geht der Streik an den Kitas weiter. Es sei relativ plausibel, dass die kommunale Arbeitgeberseite sich nicht bewegen werden, sagte Stefan Sell, Professor für Sozialwissenschaften in Koblenz im DLF.

Birgid Becker im Gespräch mit Stefan Sell |
    Vor einer Häuserzeile stehen Dutzende Menschen in roten Westen mit Plakaten und Spruchbändern.
    Streikende Mitarbeiter von Kindertagesstätten und Sozialeinrichtungen für Kinder in München. (imago / Lindenthaler)
    Birgid Becker: In den kommunalen Kitas drohen neue Streiks. Mit großer Mehrheit haben die Mitglieder von Verdi aus dem Bereich des Sozial- und des Erziehungsdienstes sich gegen einen Schlichterspruch gewandt, der Ende Juni zu Gehaltserhöhungen zwischen zwei und 4,5 Prozent aufgefordert hatte. Damit ist die Schlichtung nun gescheitert, der Konflikt geht weiter, auch mit Streiks. Das hat der Verdi-Chef Frank Bsirske für den September und den Oktober schon angekündigt. Streiks, Schlichtung, wieder Streiks - so soll das in der Tarifpolitik eigentlich nicht laufen. Guten Tag an den Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell.
    Stefan Sell: Guten Tag, Frau Becker!
    Becker: Am Donnerstag wird nun wieder verhandelt. Streik, Schlichtung, Streik - wie kann das weitergehen? Was kann man anders verhandeln, was nicht schon verhandelt wurde?
    Sell: Ja. Wir können natürlich an dieser Stelle jetzt nur spekulieren. Aber relativ plausibel ist, dass die kommunale Arbeitgeberseite sich nicht bewegen wird. Warum auch. Sie kann sich auf dem Schlichterspruch ausruhen und sagen, das ist das maximal Mögliche. Sie steht auch intern unter Druck. Die ostdeutschen Kommunen würden ein Entgegenkommen derzeit nicht mittragen. Das heißt, die werden sich tot stellen, die werden die Gewerkschaften am langen Arm verhungern lassen, und dann wird es eine Reaktion geben müssen.
    "Die kommunale Arbeitgeberseite wird sich nicht bewegen."
    Becker: Ich habe es eben unterschlagen. Als Juniorpartner mit an Bord in diesen Verhandlungen ist ja die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die GEW. Auch deren Mitglieder haben das Schlichtungsergebnis abgelehnt. Aber da gibt es noch eine Besonderheit?
    Sell: Ja! Das ist eine ganz skurrile Sache, denn in beiden Gewerkschaften haben etwa 70 Prozent der Mitglieder das abgelehnt. Aber eine Fortsetzung der unbefristeten Streikaktion ist bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft nicht möglich, denn dort gibt es ein 75-Prozent-Quorum. So heißt das. Das heißt, 75 Prozent mindestens müssen den Streikaktionen zustimmen, und das ist natürlich mit 70 Prozent nicht erreicht. So könnten wir die Situation erleben, dass Verdi-Erzieherinnen streiken werden, aber GEW-Erzieherinnen nicht.
    Becker: Nun sind Streiks ja grundsätzlich auch nicht beliebig wiederauflegbar. Aus diesem Grund mündet solch ein Konflikt ja auch in der Regel in eine Schlichtung. Wenn das nun nicht funktioniert, was heißt das für die Verdi-Strategie?
    Sell: Insgesamt in der Gesamtbewertung muss man schon zu dem Ergebnis kommen, dass das ein Desaster ist für die Führungsspitze der Gewerkschaft Verdi. Wir müssen das ja im Zusammenhang sehen, dass nicht nur die Streikaktionen bei den Erzieherinnen - übrigens nicht nur bei den Erzieherinnen; es sind ja Sozial- und Erziehungsdienste, das heißt, die Sozialarbeiter in der Jugend- und Behindertenhilfe werden immer gerne vergessen, die da auch streiken -, sondern auch die Niederlage bei der Post, so muss man es doch deutlich sagen, wo man sich gegen Billiggesellschaften wehren wollte, was nicht gelungen ist. In der Gesamtschau stellt sich schon die Frage, wer hier eigentlich die politische Verantwortung übernimmt oder übernehmen sollte. Ende September will Bsirske sich zum fünften Mal wiederwählen lassen als Verdi-Vorsitzender, und da kann man schon die Frage stellen, ob man nicht auch eine grundsätzliche Diskussion über diesen doch schweren Schaden, den die großen Arbeitskämpfe jetzt für die Gewerkschaft angerichtet haben, führen müsste.
    "Das ist ein Desaster für die Führungsspitze der Gewerkschaft Verdi."
    Becker: Nun stellen Sie die Frage. Ist es nach Ihrer Beobachtung so, dass die Frage auch bei Verdi gestellt wird?
    Sell: Verdi ist eine sehr, sehr große Gewerkschaft, sehr bunt, und ich glaube schon, dass an der Gewerkschaftsbasis darüber intensiv diskutiert wird. Die Pressekonferenz, die der Verdi-Chef Bsirske heute gegeben hat, war im Wesentlichen gekennzeichnet dadurch, dass er sich versuchte, ständig sozusagen zu erklären, dass das alles keine Niederlagen waren. Insofern muss man das abwarten. Die Gewerkschaft wird natürlich versuchen, jetzt die Reihen zu schließen und genau so eine Diskussion zu verhindern, aber grundsätzlich muss man einfach den strategischen Fehler doch hier reklamieren, dass man die Erzieherinnen vor allem in den Kitas in einen Arbeitskampf geführt hat, ohne die alte militärstrategische Weisheit zu berücksichtigen, wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Und ich habe den Eindruck, sowohl bei der Post wie auch bei den Sozial- und Erziehungsdiensten hat man diese Strategie nur unvollkommen bedacht.
    Becker: Wobei ja zugleich aber gesagt wurde, organisationspolitisch gedacht - das ist jetzt die vornehme Umschreibung für Mitgliederwerbung - haben die Streiks ihre Wirkung gehabt.
    Sell: Ja! 20.000 Mitglieder etwa mehr bei Verdi. Aber seien wir mal ehrlich: Man kann nicht nur in eine Gewerkschaft eintreten. Was glauben Sie, wie viele dann auch wieder möglicherweise austreten werden, wenn das ganze Ding vor die Wand gefahren wird, weil eine Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen, das wird aufgrund der Rahmenbedingungen mit wenig Erfolgswahrscheinlichkeit versehen sein. Das bringt die Lage jetzt wirklich in die Bedrückung. Mitglieder kann man auch ganz schnell verlieren und auch eine große Enttäuschung produzieren an der Basis über diese Strategie.
    Becker: Danke fürs Gespräch. Stefan Sell war das, er lehrt Sozialwissenschaften in Koblenz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.