Dieses Buch ist ein tief bewegendes Dokument über den Kampf zwischen Geist und Macht im 20. Jahrhundert, dem "Jahrhundert der Wölfe", wie Nadeschda Mandelstam, die Witwe des genialen, im Gulag umgekommenen russischen Dichters Osip Mandelstam, ihre in den 70er-Jahren erschienene autobiografische Erinnerungsprosa genannt hat.
Hier nun als Nachtrag die Erinnerungen an ihre lebenslange Freundin Anna Achmatowa, die bedeutendste Lyrikerin des "silbernen Zeitalters" der russischen Literatur und Dichterfreundin ihres Mannes. Es ist ein Buch über das Schicksal von zwei starken Frauen und die überragende Bedeutung von Kunst in einer Zeit des Schreckens.
Die 40 Jahre dauernde, unerschütterliche Freundschaft der beiden Frauen - in ihrer Jugend leichtsinnig, lebenslustig, exzentrisch, zu Seitensprüngen aufgelegt - basiert auf ihrem rückhaltlosen Einsatz für wahre Dichtung als Gegengewicht gegen die Krankheit des Jahrhunderts, die Zerstörung des Sittengesetzes durch die anmaßende Macht von "selbsternannten Wohltätern der Menschheit" im Namen einer verlogenen Ideologie.
Beide haben, wie Nadeschda Mandelstam es ausdrückt, die "biografischen Konsequenzen" dafür auf sich genommen: ein schweres Leben in Armut, Verbannung, Elend und Unbehaustheit. Anna Achmatowa, deren erster Mann Nikolaj Gumiljow schon 1921 als Konterrevolutionär erschossen worden war, immer in Sorge um ihren Sohn Lew, der - "als Geisel, damit sie nichts Falsches schrieb" – mehrfach verhaftet wurde und viele Jahre im Lager verbrachte, und gegen die dann 1946 auf ZK-Beschluss eine beschämende Hetzjagd eröffnet wurde.
Nadeschda Mandelstam, die jahrelang das Grauen und die Angst der Verfolgung mit ihrem Mann Osip Mandelstam teilte, bis sie von seinem Tod 1938 in einem Durchgangslager bei Wladiwostok erfuhr.
Jahrzehntelang lebten die beiden als Geächtete, als Außenseiter. Anna Achmatowa hat es 1956 so ausgedrückt:
"Nicht mit der Leier des Verliebten gehe ich das Volk verlocken – die Klapper des Aussätzigen singt in meiner Hand. Wartet, ihr staunt Euch noch satt, heulend und fluchend! Ich bring allen Mutigen bei, vor mir zurückzuschrecken. Ich habe keinen Gewinn gesucht und keinen Ruhm erwartet, ich habe die ganzen 30 Jahre unter dem Flügel des Unheils gelebt."
Nadeschda Mandelstam hatte es sich zur Aufgabe ihres Lebens gemacht, das literarische Erbe ihres Mannes zu bewahren, indem sie all seine Texte auswendig lernte, aufzeichnete und bei den wenigen zuverlässigen Freunden deponierte.
"Also habe ich die Angst überwunden. Das passierte nicht früh und nicht spät, sondern als die Zeit gekommen war, als Osip Mandelstams Gedichte in Abschriften verbreitet waren und ich aufhörte, um sie zu zittern: Jetzt können sie nicht mehr zerstört und vom Angesicht der Erde getilgt werden wie ein Mensch. Meine Aufgabe ist erfüllt."
Und Anna Achmatowa konnte zu ihrer Freundin sagen:
"Nadenka, mit Ossja ist alles in Ordnung. Er braucht Gutenberg nicht. Wer vergisst Gedichte, die er sich unter großen Schwierigkeiten beschafft, um sie dann heimlich auf der Schreibmaschine abzutippen."
Denn in all diesen Jahren des stalinschen Terrors gab es Menschen, für die die befreiende Kraft von Dichtung lebensnotwendig war. In der Tauwetterzeit der aufkeimenden Hoffnung bildete sich dann um die verehrte Dichterin ein Kreis von Leningrader Poeten mit dem "blutjungen rothaarigen Brodsky", dem späteren Literaturnobelpreisträger.
Erschütternd die Beschreibung der Totenmesse und Totenfeier für Anna Achmatowa 1966, als ein ununterbrochener Menschenstrom in der Kirche und auf dem Friedhof am Sarg der Dichterin vorbeidefilierte, darunter viele, die es verlernt hatten, wie man sich richtig bekreuzigt.
Ihr außergewöhnliches Gewicht gewinnen diese sehr frei assoziierten Lebenserinnerungen Nadeschda Mandelstams und ihre Gedanken zum Jahrhundert der "von der Machtkrankheit befallenen Massenbewegung" des Totalitarismus durch das Pathos ihrer moralischen Grundhaltung.
"Auf der einen Seite Herolde des Neuen, Voluntaristen, die alle Werte ablehnten, Theoretiker der Macht und Anhänger der Diktatur, auf der anderen Seite diejenigen, die der Macht ihr auf Wertvorstellungen gegründetes Bewusstsein, "im Recht zu sein", entgegenhielten."
Mandelstam und Achmatowa wurden zu bewunderten Repräsentanten der anderen Seite, die mit ihrer Tapferkeit und Standhaftigkeit und ihrem absoluten Verzicht auf irdische Güter Widerstand leisteten und ihre innere Freiheit bewahrten.
Aber ihr Schicksal in diesem "Zeitalter der tierischen Angst" hat sie auch schroff, hart, rechthaberisch und oft unduldsam in ihren Urteilen über andere Menschen gemacht.
"Niemand auf der Welt ist tränenloser, hochmütiger und einfacher als wir."
Das schön gestaltete Buch mit seinen vielen eindrucksvollen Fotos, das auch eine sehr persönliche, kluge literaturwissenschaftliche Analyse der literarischen Strömungen im Russland des 20. Jahrhunderts bietet, hat der Herausgeber, der Mandelstam-Forscher Pawel Nerler, detailliert und kenntnisreich kommentiert. Es richtet sich natürlich vor allem an den kleinen Kreis der Kenner und leidenschaftlichen Bewunderer dieser versunkenen russischen Dichterwelt. Aber auch für die heutige Generation der Literaturfreunde in einer Welt des Konsums und der Beliebigkeit, die totalitäre Gewalt und Unfreiheit nicht mehr erlebt haben, sollte dieses bewundernswerte Buch über die existenzielle Widerstandskraft von Dichtung eine Ermutigung sein.
Buchinfos:
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa.
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Pawel Nerler, Suhrkamp Verlag, 2011, 206 Seiten, Preis: 18,90 Euro
Hier nun als Nachtrag die Erinnerungen an ihre lebenslange Freundin Anna Achmatowa, die bedeutendste Lyrikerin des "silbernen Zeitalters" der russischen Literatur und Dichterfreundin ihres Mannes. Es ist ein Buch über das Schicksal von zwei starken Frauen und die überragende Bedeutung von Kunst in einer Zeit des Schreckens.
Die 40 Jahre dauernde, unerschütterliche Freundschaft der beiden Frauen - in ihrer Jugend leichtsinnig, lebenslustig, exzentrisch, zu Seitensprüngen aufgelegt - basiert auf ihrem rückhaltlosen Einsatz für wahre Dichtung als Gegengewicht gegen die Krankheit des Jahrhunderts, die Zerstörung des Sittengesetzes durch die anmaßende Macht von "selbsternannten Wohltätern der Menschheit" im Namen einer verlogenen Ideologie.
Beide haben, wie Nadeschda Mandelstam es ausdrückt, die "biografischen Konsequenzen" dafür auf sich genommen: ein schweres Leben in Armut, Verbannung, Elend und Unbehaustheit. Anna Achmatowa, deren erster Mann Nikolaj Gumiljow schon 1921 als Konterrevolutionär erschossen worden war, immer in Sorge um ihren Sohn Lew, der - "als Geisel, damit sie nichts Falsches schrieb" – mehrfach verhaftet wurde und viele Jahre im Lager verbrachte, und gegen die dann 1946 auf ZK-Beschluss eine beschämende Hetzjagd eröffnet wurde.
Nadeschda Mandelstam, die jahrelang das Grauen und die Angst der Verfolgung mit ihrem Mann Osip Mandelstam teilte, bis sie von seinem Tod 1938 in einem Durchgangslager bei Wladiwostok erfuhr.
Jahrzehntelang lebten die beiden als Geächtete, als Außenseiter. Anna Achmatowa hat es 1956 so ausgedrückt:
"Nicht mit der Leier des Verliebten gehe ich das Volk verlocken – die Klapper des Aussätzigen singt in meiner Hand. Wartet, ihr staunt Euch noch satt, heulend und fluchend! Ich bring allen Mutigen bei, vor mir zurückzuschrecken. Ich habe keinen Gewinn gesucht und keinen Ruhm erwartet, ich habe die ganzen 30 Jahre unter dem Flügel des Unheils gelebt."
Nadeschda Mandelstam hatte es sich zur Aufgabe ihres Lebens gemacht, das literarische Erbe ihres Mannes zu bewahren, indem sie all seine Texte auswendig lernte, aufzeichnete und bei den wenigen zuverlässigen Freunden deponierte.
"Also habe ich die Angst überwunden. Das passierte nicht früh und nicht spät, sondern als die Zeit gekommen war, als Osip Mandelstams Gedichte in Abschriften verbreitet waren und ich aufhörte, um sie zu zittern: Jetzt können sie nicht mehr zerstört und vom Angesicht der Erde getilgt werden wie ein Mensch. Meine Aufgabe ist erfüllt."
Und Anna Achmatowa konnte zu ihrer Freundin sagen:
"Nadenka, mit Ossja ist alles in Ordnung. Er braucht Gutenberg nicht. Wer vergisst Gedichte, die er sich unter großen Schwierigkeiten beschafft, um sie dann heimlich auf der Schreibmaschine abzutippen."
Denn in all diesen Jahren des stalinschen Terrors gab es Menschen, für die die befreiende Kraft von Dichtung lebensnotwendig war. In der Tauwetterzeit der aufkeimenden Hoffnung bildete sich dann um die verehrte Dichterin ein Kreis von Leningrader Poeten mit dem "blutjungen rothaarigen Brodsky", dem späteren Literaturnobelpreisträger.
Erschütternd die Beschreibung der Totenmesse und Totenfeier für Anna Achmatowa 1966, als ein ununterbrochener Menschenstrom in der Kirche und auf dem Friedhof am Sarg der Dichterin vorbeidefilierte, darunter viele, die es verlernt hatten, wie man sich richtig bekreuzigt.
Ihr außergewöhnliches Gewicht gewinnen diese sehr frei assoziierten Lebenserinnerungen Nadeschda Mandelstams und ihre Gedanken zum Jahrhundert der "von der Machtkrankheit befallenen Massenbewegung" des Totalitarismus durch das Pathos ihrer moralischen Grundhaltung.
"Auf der einen Seite Herolde des Neuen, Voluntaristen, die alle Werte ablehnten, Theoretiker der Macht und Anhänger der Diktatur, auf der anderen Seite diejenigen, die der Macht ihr auf Wertvorstellungen gegründetes Bewusstsein, "im Recht zu sein", entgegenhielten."
Mandelstam und Achmatowa wurden zu bewunderten Repräsentanten der anderen Seite, die mit ihrer Tapferkeit und Standhaftigkeit und ihrem absoluten Verzicht auf irdische Güter Widerstand leisteten und ihre innere Freiheit bewahrten.
Aber ihr Schicksal in diesem "Zeitalter der tierischen Angst" hat sie auch schroff, hart, rechthaberisch und oft unduldsam in ihren Urteilen über andere Menschen gemacht.
"Niemand auf der Welt ist tränenloser, hochmütiger und einfacher als wir."
Das schön gestaltete Buch mit seinen vielen eindrucksvollen Fotos, das auch eine sehr persönliche, kluge literaturwissenschaftliche Analyse der literarischen Strömungen im Russland des 20. Jahrhunderts bietet, hat der Herausgeber, der Mandelstam-Forscher Pawel Nerler, detailliert und kenntnisreich kommentiert. Es richtet sich natürlich vor allem an den kleinen Kreis der Kenner und leidenschaftlichen Bewunderer dieser versunkenen russischen Dichterwelt. Aber auch für die heutige Generation der Literaturfreunde in einer Welt des Konsums und der Beliebigkeit, die totalitäre Gewalt und Unfreiheit nicht mehr erlebt haben, sollte dieses bewundernswerte Buch über die existenzielle Widerstandskraft von Dichtung eine Ermutigung sein.
Buchinfos:
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa.
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Pawel Nerler, Suhrkamp Verlag, 2011, 206 Seiten, Preis: 18,90 Euro