"Gestatten!", sagte unlängst eine Frau, die hinter mir gestanden war, gab mir einen leichten Stoß, stieg in die Straßenbahn, und die Tür schloß sich. Das war kein Unglück, ich hatte keine Eile. Aber das Wort "gestatten" fiel mir am gleichen Abend wieder ein, und ich bedenke es seither auch immer wieder, wenn ich die Stadt und das Land bedenke, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, in extremen Zeiten und unter zum Teil extremen Umständen. Das macht das Land hier unverwechselbar. Aber ich kenne diese Art von Unverwechselbarkeit, sie ist mir nicht fremd. Nicht nur deshalb möchte ich nicht in die Fremde, sondern will in der Fremde bleiben, die mörderisch, aber vertraut ist. In Wien."
Ilse Aichinger verdeutlicht die Worte des Alltages und reiht sie mit ihren Erinnerungen zu einer Perlenkette poetisch erzählter Essays. Ihr anarchistischer Ton ist genau und unbarmherzig. Sie sucht nach wie vor das Vertrauen zwischen Wort und Mensch. Betrachtung ist ihr wichtig, genau hinschauen und lange hinschauen. Das prägt dieses Journal. Ilse
Aichinger, die nie aufhörte, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen, und doch nie so arrogant war, auf diese Frage eine Antwort zu finden, hat neue Texte geschaffen, in dem sich auf absurde, groteske und oft komische Weise das Beängstigende, Furchteinflößende und die Angst vereint. Diese Texte sind klare und eindringliche Prosa.
Es ist der Krieg, der sie als Schriftstellerin geprägt hat, der Verlust der nahen Verwandten in den Gaskammern von Auschwitz. Und das Überleben in der wachsenden Gleichgültigkeit der Friedenszeit.
""In einer Welt ohne Melancholie würden Nachtigallen anfangen zu rülpsen", meint E.M. Ciron. Inzwischen scheinen Nachtigallen in Auschwitz wieder möglich zu werden. Grazyna, die montags in meine Wohnung kommt und aufräumt, fährt an allen hohen Feiertagen heim. Nirgends sei das Gras so grün, der Himmel so unverstellt und heiter, und nirgends würden Bäume besser gedeihen als "in Ausch ... - eben da, wo ich herkomme." Einmal nur sagte sie: "Auschwitz ist scheen, Frau Aichinger."
""Der Wind weht, das ist sein Geschäft." schrieb Aichingers Mann, Günther Eich. Und die Existenz ist die unsere."
Das Aufspüren der alltäglichen Täuschungen, der die Existenz uns aussetzt und der Mut, das Leben mit einem gewissen Frohsinn auszuhalten, das sind die Wortspuren, die Ilse Aichinger legt. Sie steht mitten im Leben. Das Porträt der Türkin Ayten (Mondschein), die zehn Jahre lang Gäste im fremden Land bediente und dann nach Anatolien zurückkehrt, zeigt wie gekonnt Ilse Aichinger das Zwiegespräch zwischen Alltag und Erkenntnis führt.
"Die Abgründe schlossen sich. "Die Erfahrung des Abgrunds geht auf ferne Ursprünge zurück." Ayten erfuhr sie: Die Ursprünge, die der Abgründe und ihre eigenen, lagen in Anatolien, wo sie - seit langem schon - begraben ist, vielleicht doch ein Ort, wo Mondstrahlen zu Ruhe kommen und zugleich ihren Glanz behalten. Es hat sie nicht gestört, ins Abseits zu geraten, unauffindbar zu werden, unhörbar und spurlos. Das "große Glück" hatte sie nicht: Sie ließ es denen, die weit hinter ihr zurückgeblieben sind, und ermöglicht ihnen eine Gleichmut, die sie nie für möglich gehalten hätten."
Ilse Aichinger schweift aber auch ab, um wieder auf den Punkt zu kommen. Sie verwandelt Distanz in Beziehung. Sei es die Erinnerung an ihre Zwillingsschwester oder das Verhältnis der Kellner in ihrem Café, die sich durch den Schichtdienst kaum wahrnehmen. Ihre Schreibhaltung ist gegenwärtig, ihre Kurzprosa erhebt sich über den Zeitgeist. Ihr poetischen Miniaturen sind Einsprüche gegen die Oberflächlichkeit der Zeit.
Ilse Aichinger
Subtexte
Journal
erschienen in der Edition Korrespondenzen, Wien, 2006
80 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen
Euro 16,00
Ilse Aichinger verdeutlicht die Worte des Alltages und reiht sie mit ihren Erinnerungen zu einer Perlenkette poetisch erzählter Essays. Ihr anarchistischer Ton ist genau und unbarmherzig. Sie sucht nach wie vor das Vertrauen zwischen Wort und Mensch. Betrachtung ist ihr wichtig, genau hinschauen und lange hinschauen. Das prägt dieses Journal. Ilse
Aichinger, die nie aufhörte, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen, und doch nie so arrogant war, auf diese Frage eine Antwort zu finden, hat neue Texte geschaffen, in dem sich auf absurde, groteske und oft komische Weise das Beängstigende, Furchteinflößende und die Angst vereint. Diese Texte sind klare und eindringliche Prosa.
Es ist der Krieg, der sie als Schriftstellerin geprägt hat, der Verlust der nahen Verwandten in den Gaskammern von Auschwitz. Und das Überleben in der wachsenden Gleichgültigkeit der Friedenszeit.
""In einer Welt ohne Melancholie würden Nachtigallen anfangen zu rülpsen", meint E.M. Ciron. Inzwischen scheinen Nachtigallen in Auschwitz wieder möglich zu werden. Grazyna, die montags in meine Wohnung kommt und aufräumt, fährt an allen hohen Feiertagen heim. Nirgends sei das Gras so grün, der Himmel so unverstellt und heiter, und nirgends würden Bäume besser gedeihen als "in Ausch ... - eben da, wo ich herkomme." Einmal nur sagte sie: "Auschwitz ist scheen, Frau Aichinger."
""Der Wind weht, das ist sein Geschäft." schrieb Aichingers Mann, Günther Eich. Und die Existenz ist die unsere."
Das Aufspüren der alltäglichen Täuschungen, der die Existenz uns aussetzt und der Mut, das Leben mit einem gewissen Frohsinn auszuhalten, das sind die Wortspuren, die Ilse Aichinger legt. Sie steht mitten im Leben. Das Porträt der Türkin Ayten (Mondschein), die zehn Jahre lang Gäste im fremden Land bediente und dann nach Anatolien zurückkehrt, zeigt wie gekonnt Ilse Aichinger das Zwiegespräch zwischen Alltag und Erkenntnis führt.
"Die Abgründe schlossen sich. "Die Erfahrung des Abgrunds geht auf ferne Ursprünge zurück." Ayten erfuhr sie: Die Ursprünge, die der Abgründe und ihre eigenen, lagen in Anatolien, wo sie - seit langem schon - begraben ist, vielleicht doch ein Ort, wo Mondstrahlen zu Ruhe kommen und zugleich ihren Glanz behalten. Es hat sie nicht gestört, ins Abseits zu geraten, unauffindbar zu werden, unhörbar und spurlos. Das "große Glück" hatte sie nicht: Sie ließ es denen, die weit hinter ihr zurückgeblieben sind, und ermöglicht ihnen eine Gleichmut, die sie nie für möglich gehalten hätten."
Ilse Aichinger schweift aber auch ab, um wieder auf den Punkt zu kommen. Sie verwandelt Distanz in Beziehung. Sei es die Erinnerung an ihre Zwillingsschwester oder das Verhältnis der Kellner in ihrem Café, die sich durch den Schichtdienst kaum wahrnehmen. Ihre Schreibhaltung ist gegenwärtig, ihre Kurzprosa erhebt sich über den Zeitgeist. Ihr poetischen Miniaturen sind Einsprüche gegen die Oberflächlichkeit der Zeit.
Ilse Aichinger
Subtexte
Journal
erschienen in der Edition Korrespondenzen, Wien, 2006
80 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen
Euro 16,00