Aus der Perspektive eines Franzosen, der als deutscher Jude geboren wurde, will Alfred Grosser Klarheit in den Nahostkonflikt bringen – das ist ein anspruchsvolles Ziel. Zumal bereits der Versuch, den Gordischen Knoten des israelisch-palästinensischen Konflikts qua Vernunft anzugehen, zu massiven Problemen führen kann. Deshalb schreibt Großer in der Einleitung ...
In diesem Buch geht es um ein Thema, bei dem man zunächst klarstellen muss, wer schreibt und warum. Denn gegen Kritik an der Politik des Staates Israel werden immer wieder gravierende Vorwürfe erhoben: Sie bediene antisemitische Klischees oder sei sogar selbst Ausdruck von Antisemitismus. Und sollte der Kritiker, wie in meinem Fall, Jude sein, so muss er sich den berühmten jüdischen Selbsthass unterstellen lassen.
Von antisemitischen Klischees oder jüdischem Selbsthass ist Grosser weit entfernt. Er ist mit sich im Reinen. Sein wissenschaftlicher Ansatz fragt in vier Richtungen - nach der persönlichen Identität, nach der Bedingung der Humanität, nach der Erziehung zu einem demokratischen Gemeinwesen und schließlich nach der Bedeutung der Shoah für Gegenwart und Zukunft. Die individuelle Identität: Grosser weigert sich kategorisch, sich selbst und alle Menschen auf eine singuläre Identität reduzieren zu lassen. Die Erkenntnis, dass der Mensch über mehrere Identitäten verfügt und nicht nur über eine einzige, ist für Großer der Beginn von Bildung. Er will sich nicht auf seine jüdische Herkunft reduzieren lassen. Jeder Mensch sollte sich von seinem Inneren heraus selbst definieren und sich nicht von außen definieren lassen. Die Bedingung der Humanität sieht Alfred Grosser in der Anerkennung des anderen Menschen. Dabei bezieht sich der Politologe auf seinen Lieblingsphilosophen Emmanuel Levinas. Dieser baute seine Philosophie auf der Anerkennung des Anderen auf, nicht auf dessen Negierung. Zum Menschen wird der Mensch dadurch, dass er den Anderen wahrnimmt, ihm zuhört und ihm antwortet. Grossers Menschbild ist von dieser "Ich und Du-Beziehung" geprägt. Deshalb geht er in seiner Analyse nicht nur von den Ängsten der Israelis aus, sondern macht auch das Leiden der Palästinenser bewusst.
Grosser ist überzeugt, dass zwischen Israelis und Palästinensern Friede möglich, Fanatismus überwindbar ist, wenn beide Seiten dazu bereit wären, das Gegenüber wahrzunehmen und seine Ängste und Bedürfnisse zu akzeptieren.
Alfred Grosser spricht als Freund Israels und Deutschlands. Aber Freund zu sein heißt für Grosser unmittelbar, die harte Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen, die Finger in Wunden zu legen und Denk-Tabus zu brechen.
"Es gibt einen verbotenen Vergleich. In Deutschland wie in Israel heißt es allzu oft, die Shoah, die 'Endlösung' dürfe man nicht vergleichen. Warum jedoch sollte ein Armenier, ein Indianer, ein Aborigine, ein Ukrainer zu einem solchen Glaubensakt bereit sein? Rein logisch sollte man doch Vergleiche anstellen mit deutschen Verbrechen gegen Andere als Juden, mit Verbrechen Anderer gegen Gemeinschaften oder Völker, um zu begründen, was das Besondere der Shoah ausmacht.
Was ist das Ziel von Alfred Grosser, indem er den tabuisierten Vergleich infrage stellt? In der Verabsolutierung der Shoah sieht der vor den Nazis geflohene Grosser die Gefahr, dass das Leiden und Massensterben von Russen, von Chinesen, von Afrikanern mit einer gewissen Portion Rassismus als weniger wichtig betrachtet wird. Die furchtbare Eigenart der Shoah wird uns zu Recht stets in Erinnerung gebracht. Sie sollte uns aber nie anderes Leiden übersehen lassen.
Das sei aber, so der Kritiker Grosser, unter anderem beim Gazakrieg geschehen. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich haben die offiziellen Spitzenvertreter der jüdischen Organisationen den Standpunkt Israels vehement verteidigt. Auf Gegenargumente wurde kaum eingegangen.
Das Leiden der Palästinenser sei nicht gesehen worden, so Grosser. Einhellig sei die Solidarität mit Israel bekundet worden. Auch von den großen deutschen Parteien. Aber nach dem Ende der Intervention trugen die Bilder des verwüsteten Gazas nicht zu Israels gutem Ruf bei.
Wie ist der Nahostkonflikt zu lösen? Nach Grossers Analyse kann das nur gelingen, wenn sich Israel erstens aus den Palästinensergebieten zurückzieht. Dazu müssten die Siedlungen aufgelöst und eine Zweistaatenlösung angestrebt werden. Denn allein mit militärischer Stärke könne Israel Frieden und Sicherheit nicht gewinnen.
Zweites: Dem islamischen Antisemitismus, der zum Teil an die Nazipropaganda erinnere, könne nur entgegen gewirkt werden, wenn Israel eine andere, eine verständigere Palästinapolitik betreiben würde.
Drittens: Jede Initiative sollte unterstützt werden, die für Frieden und Verständnis eintritt wie zum Beispiel Radio All for peace, das in Jerusalem von einem binationalen Team betrieben wird.
Und was könnte Deutschland zur Lösung des Nah-Ost-Konfliktes beitragen?
Die deutsche Debatte über Israel, Vergangenheitsbewältigung und Antisemitismus sollte nüchterner verlaufen, mit klarer Einsicht in die vergangenen Jahrzehnte.
Was meint Grosser damit? Der französische Politologe mit deutschen Wurzeln zitiert diesbezüglich die Rede von Bundespräsident Horst Köhler vom 2. Februar 2005 vor der Knesset. Der Bundespräsident betonte:
"Die Verantwortung für die Shoah ist Teil der deutschen Identität. Dass Israel in internationalen Grenzen und frei von Angst und Terror leben kann, ist unumstößliche Maxime deutscher Politik."
Das sei völlig richtig, meint Alfred Grosser. Aber er wünscht sich deutlichere Worte, die die gesamte Realität beim Namen nennt. Als Beispiel führt Grosser die Knesset-Rede des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy vom Sommer 2008 an. Unter anderem erklärte Sarkozy:
"Man schuldet seinen Freunden die Wahrheit, sonst ist man kein Freund. Die Wahrheit ist, dass die Sicherheit Israels erst dann wirklich gewährleistet werden kann, wenn neben diesem Land ein unabhängiger, moderner, demokratischer und lebensfähiger palästinensischer Staat zu sehen ist. Der Frieden muss kommen. Es kann (aber) keinen Frieden geben ohne einen totalen und sofortigen Abbruch der Kolonisierung."
Solch klare Worte wünscht sich Alfred Grosser auch von offizieller deutscher Seite gegenüber Israel. Denn die Menschenrechte seien unteilbar.
Wenn wir zu Hause versuchen, die Grundwerte zu verteidigen, so sollten wir es auch überall dort tun, wo man sich auf die gemeinsamen Werte beruft. Gerade Deutsche sollten das tun, auch Israel gegenüber.
Mit seinem neuen Buch verlässt der Politologe sein deutsch-französisches Kernthema. Der Titel des Buches ist plakativ, greift aber zu kurz: Denn Thema ist nicht allein die Shoah, die Schuldfrage und das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland. Thema ist auch das Verhältnis zwischen israelischen und nicht-israelischen Juden, zwischen Israelkritikern und den Israelapologeten. Das Buch besticht durch messerscharfe Analysen. Es ist hervorragend geschrieben. Es wird Widerspruch provozieren – doch das ist bei guten Büchern so.
Willi Reiter besprach das Buch von Alfred Grosser: "Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel". Erschienen im Rowohlt-Verlag. 160 Seiten für Euro 14,90.
In diesem Buch geht es um ein Thema, bei dem man zunächst klarstellen muss, wer schreibt und warum. Denn gegen Kritik an der Politik des Staates Israel werden immer wieder gravierende Vorwürfe erhoben: Sie bediene antisemitische Klischees oder sei sogar selbst Ausdruck von Antisemitismus. Und sollte der Kritiker, wie in meinem Fall, Jude sein, so muss er sich den berühmten jüdischen Selbsthass unterstellen lassen.
Von antisemitischen Klischees oder jüdischem Selbsthass ist Grosser weit entfernt. Er ist mit sich im Reinen. Sein wissenschaftlicher Ansatz fragt in vier Richtungen - nach der persönlichen Identität, nach der Bedingung der Humanität, nach der Erziehung zu einem demokratischen Gemeinwesen und schließlich nach der Bedeutung der Shoah für Gegenwart und Zukunft. Die individuelle Identität: Grosser weigert sich kategorisch, sich selbst und alle Menschen auf eine singuläre Identität reduzieren zu lassen. Die Erkenntnis, dass der Mensch über mehrere Identitäten verfügt und nicht nur über eine einzige, ist für Großer der Beginn von Bildung. Er will sich nicht auf seine jüdische Herkunft reduzieren lassen. Jeder Mensch sollte sich von seinem Inneren heraus selbst definieren und sich nicht von außen definieren lassen. Die Bedingung der Humanität sieht Alfred Grosser in der Anerkennung des anderen Menschen. Dabei bezieht sich der Politologe auf seinen Lieblingsphilosophen Emmanuel Levinas. Dieser baute seine Philosophie auf der Anerkennung des Anderen auf, nicht auf dessen Negierung. Zum Menschen wird der Mensch dadurch, dass er den Anderen wahrnimmt, ihm zuhört und ihm antwortet. Grossers Menschbild ist von dieser "Ich und Du-Beziehung" geprägt. Deshalb geht er in seiner Analyse nicht nur von den Ängsten der Israelis aus, sondern macht auch das Leiden der Palästinenser bewusst.
Grosser ist überzeugt, dass zwischen Israelis und Palästinensern Friede möglich, Fanatismus überwindbar ist, wenn beide Seiten dazu bereit wären, das Gegenüber wahrzunehmen und seine Ängste und Bedürfnisse zu akzeptieren.
Alfred Grosser spricht als Freund Israels und Deutschlands. Aber Freund zu sein heißt für Grosser unmittelbar, die harte Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen, die Finger in Wunden zu legen und Denk-Tabus zu brechen.
"Es gibt einen verbotenen Vergleich. In Deutschland wie in Israel heißt es allzu oft, die Shoah, die 'Endlösung' dürfe man nicht vergleichen. Warum jedoch sollte ein Armenier, ein Indianer, ein Aborigine, ein Ukrainer zu einem solchen Glaubensakt bereit sein? Rein logisch sollte man doch Vergleiche anstellen mit deutschen Verbrechen gegen Andere als Juden, mit Verbrechen Anderer gegen Gemeinschaften oder Völker, um zu begründen, was das Besondere der Shoah ausmacht.
Was ist das Ziel von Alfred Grosser, indem er den tabuisierten Vergleich infrage stellt? In der Verabsolutierung der Shoah sieht der vor den Nazis geflohene Grosser die Gefahr, dass das Leiden und Massensterben von Russen, von Chinesen, von Afrikanern mit einer gewissen Portion Rassismus als weniger wichtig betrachtet wird. Die furchtbare Eigenart der Shoah wird uns zu Recht stets in Erinnerung gebracht. Sie sollte uns aber nie anderes Leiden übersehen lassen.
Das sei aber, so der Kritiker Grosser, unter anderem beim Gazakrieg geschehen. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich haben die offiziellen Spitzenvertreter der jüdischen Organisationen den Standpunkt Israels vehement verteidigt. Auf Gegenargumente wurde kaum eingegangen.
Das Leiden der Palästinenser sei nicht gesehen worden, so Grosser. Einhellig sei die Solidarität mit Israel bekundet worden. Auch von den großen deutschen Parteien. Aber nach dem Ende der Intervention trugen die Bilder des verwüsteten Gazas nicht zu Israels gutem Ruf bei.
Wie ist der Nahostkonflikt zu lösen? Nach Grossers Analyse kann das nur gelingen, wenn sich Israel erstens aus den Palästinensergebieten zurückzieht. Dazu müssten die Siedlungen aufgelöst und eine Zweistaatenlösung angestrebt werden. Denn allein mit militärischer Stärke könne Israel Frieden und Sicherheit nicht gewinnen.
Zweites: Dem islamischen Antisemitismus, der zum Teil an die Nazipropaganda erinnere, könne nur entgegen gewirkt werden, wenn Israel eine andere, eine verständigere Palästinapolitik betreiben würde.
Drittens: Jede Initiative sollte unterstützt werden, die für Frieden und Verständnis eintritt wie zum Beispiel Radio All for peace, das in Jerusalem von einem binationalen Team betrieben wird.
Und was könnte Deutschland zur Lösung des Nah-Ost-Konfliktes beitragen?
Die deutsche Debatte über Israel, Vergangenheitsbewältigung und Antisemitismus sollte nüchterner verlaufen, mit klarer Einsicht in die vergangenen Jahrzehnte.
Was meint Grosser damit? Der französische Politologe mit deutschen Wurzeln zitiert diesbezüglich die Rede von Bundespräsident Horst Köhler vom 2. Februar 2005 vor der Knesset. Der Bundespräsident betonte:
"Die Verantwortung für die Shoah ist Teil der deutschen Identität. Dass Israel in internationalen Grenzen und frei von Angst und Terror leben kann, ist unumstößliche Maxime deutscher Politik."
Das sei völlig richtig, meint Alfred Grosser. Aber er wünscht sich deutlichere Worte, die die gesamte Realität beim Namen nennt. Als Beispiel führt Grosser die Knesset-Rede des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy vom Sommer 2008 an. Unter anderem erklärte Sarkozy:
"Man schuldet seinen Freunden die Wahrheit, sonst ist man kein Freund. Die Wahrheit ist, dass die Sicherheit Israels erst dann wirklich gewährleistet werden kann, wenn neben diesem Land ein unabhängiger, moderner, demokratischer und lebensfähiger palästinensischer Staat zu sehen ist. Der Frieden muss kommen. Es kann (aber) keinen Frieden geben ohne einen totalen und sofortigen Abbruch der Kolonisierung."
Solch klare Worte wünscht sich Alfred Grosser auch von offizieller deutscher Seite gegenüber Israel. Denn die Menschenrechte seien unteilbar.
Wenn wir zu Hause versuchen, die Grundwerte zu verteidigen, so sollten wir es auch überall dort tun, wo man sich auf die gemeinsamen Werte beruft. Gerade Deutsche sollten das tun, auch Israel gegenüber.
Mit seinem neuen Buch verlässt der Politologe sein deutsch-französisches Kernthema. Der Titel des Buches ist plakativ, greift aber zu kurz: Denn Thema ist nicht allein die Shoah, die Schuldfrage und das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland. Thema ist auch das Verhältnis zwischen israelischen und nicht-israelischen Juden, zwischen Israelkritikern und den Israelapologeten. Das Buch besticht durch messerscharfe Analysen. Es ist hervorragend geschrieben. Es wird Widerspruch provozieren – doch das ist bei guten Büchern so.
Willi Reiter besprach das Buch von Alfred Grosser: "Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel". Erschienen im Rowohlt-Verlag. 160 Seiten für Euro 14,90.