"Der war schon über 30 und damit zum Kämpfen zu alt. Einen Führerschein hatten die wenigsten. Und deshalb ist er als Kraftfahrer dieser Truppe zugeteilt worden, die im Heeresbereich Mitte unterwegs gewesen ist, also im Mittleren Teil der Sowjetunion. Also wieder die Anfrage ans Bundesarchiv Ludwigsburg. Haben Sie was zur Geheimen Feldpolizei Nr. 1."
Rechercheseminar in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, im Osten von Hamburg. Zwei Mal im Jahr organisiert das hiesige Studienzentrum Veranstaltungen dieser Art für Nachkommen von Tätern und Mitläufern im Nationalsozialismus. Im Moment sind sie wegen der Coronakrise ausgesetzt. Die für den 3. Mai geplante Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung der dortigen Häftlinge auf nächstes Jahr verschoben.
Rechercheseminar in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, im Osten von Hamburg. Zwei Mal im Jahr organisiert das hiesige Studienzentrum Veranstaltungen dieser Art für Nachkommen von Tätern und Mitläufern im Nationalsozialismus. Im Moment sind sie wegen der Coronakrise ausgesetzt. Die für den 3. Mai geplante Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung der dortigen Häftlinge auf nächstes Jahr verschoben.
Vor dem Diaprojektor steht Archivar Reimer Möller und erklärt am Beispiel seines eigenen Verwandten, wie man am besten vorgeht bei der Familienrecherche. Möllers Verwandter war bei der geheimen Feldpolizei - und bei dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion dabei, der am 22. Juni 1941 begann.
"Das ist die Gestapo der Wehrmacht und die ist belastet durch die Erschießung von Zivilpersonen"
Rund 20 Teilnehmer hören zu - sie wollen auch herausfinden, wie sich ihre Großeltern in der nationalsozialistischen Diktatur verhalten haben, wo die Großväter im zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Viele sind aufgewachsen mit einem diffusen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass es in der Familie Geheimnisse gibt. Archivar Reimer Möller zeigt, welche Informationen in welchen Archiven zu finden sind. Er deutet Fotos, kennt Kragenspiegel, Abzeichen, Orden.
Teilnehmerin: "Die Geheime Feldpolizei ist aber nicht der SD, der Sicherheitsdienst?"
Reimer Möller: "Ne, das sind Wehrmachtseinrichtung, in der Regel sind das Kriminalpolizisten oder Gestapo-Beamte, die zum Militär eingezogen wurden."
Familiengeschichten voller Tabus
"In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte", hat der Historiker Raul Hilberg einmal geschrieben. Doch auch 75 Jahre nach Kriegsende ist das Wissen darüber oft verschüttet. Oliver von Wrochem leitet das Studienzentrum der Gedenkstätte Neuengamme:
"Es gibt eine großen Unterschied zwischen dem öffentlichen Gedächtnis in der Gesellschaft, das relativ aufgeklärt ist, auch differenziert, auch in der Forschung, auch in den Ritualen der öffentlichen Erinnerungskultur, aber es gibt in der Familiengeschichte ganz viele Tabus und auch relativ wenig Wissen, was die Verwandten im Nationalsozialismus getan haben."
Nur wer die eigene Familiengeschichte kennt, könne die Wirkkraft des NS-Systems nachvollziehen, erklärt Oliver von Wrochem – und auch den derzeit erstarkenden Rechtsextremismus. Nur: Täterschaft und Verantwortung sind nach Ansicht von Wissenschaftlern in den meisten deutschen Familien bis heute kein Thema.
"Diese ganzen Familiendynamiken und Familientradierungen sind sehr stabil. Also es ist auch Nichtgesagtes, Nichtausgesprochenes trotzdem präsent. 30, 40, 50 Jahre ist nicht viel, wenn man darüber nachdenkt, was sind eigentlich Bearbeitungen, Verletzungen, was machen Gefühle aus und wie werden die in den Generationen weitertradiert."
"Es gibt eine großen Unterschied zwischen dem öffentlichen Gedächtnis in der Gesellschaft, das relativ aufgeklärt ist, auch differenziert, auch in der Forschung, auch in den Ritualen der öffentlichen Erinnerungskultur, aber es gibt in der Familiengeschichte ganz viele Tabus und auch relativ wenig Wissen, was die Verwandten im Nationalsozialismus getan haben."
Nur wer die eigene Familiengeschichte kennt, könne die Wirkkraft des NS-Systems nachvollziehen, erklärt Oliver von Wrochem – und auch den derzeit erstarkenden Rechtsextremismus. Nur: Täterschaft und Verantwortung sind nach Ansicht von Wissenschaftlern in den meisten deutschen Familien bis heute kein Thema.
"Diese ganzen Familiendynamiken und Familientradierungen sind sehr stabil. Also es ist auch Nichtgesagtes, Nichtausgesprochenes trotzdem präsent. 30, 40, 50 Jahre ist nicht viel, wenn man darüber nachdenkt, was sind eigentlich Bearbeitungen, Verletzungen, was machen Gefühle aus und wie werden die in den Generationen weitertradiert."
Die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth forscht zur Tradierung von NS-Vergangenheit in Ost und West. Vor einigen Jahren befragte sie für ihre Doktorarbeit Familien in beiden Landesteilen – jeweils von der Erlebnisgeneration bis zu den Enkeln. Sie wollte wissen, wie das tatsächliche oder vermeintliche Verhalten während der NS-Zeit, weitererzählt wird:
"Es ist auch schwierig und unbequem, sich Verantwortlichkeiten und Täterschaften und Mittäterschaften offen zu erzählen. Das ist schwieriges Terrain."
Mehr Frauen und Westler besuchen Rechercheseminare
Rechercheseminare wie das in Neuengamme sind selten in Deutschland. Obwohl die stets ausgebucht sind, seien es gesamtgesellschaftlich gesehen nur wenige, die sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen, beobachtet Oliver von Wrochem. In die Seminare kommen mehr Frauen als Männer und mehr Westdeutsche als Ostdeutsche. Das liege möglicherweise daran,
"dass die DDR-Geschichte das überlagert hat, und sozusagen die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur oder der Fragestellung, wie man sich in der DDR verhalten hat und wie das bewertet wird, ein bisschen stärker in Ostdeutschland im Fokus steht, weil damit auch immer eine Art Schuldzuweisung verbunden ist der Ostdeutschen. Weil man immer sagt, 'Ihr habt eure DDR-Geschichte nicht richtig aufgearbeitet'."
Zwar gab es nach dem Krieg beiderseits personelle Kontinuitäten - und die wenigsten Täter wurden zur Verantwortung gezogen. Doch andere Erfahrungen waren grundverschieden: Die Ostdeutschen erlebten nach dem Ende des NS-Regimes die zweite Diktatur. Die DDR generierte sich als antifaschistischer Staat. Täterinnen und Täter? Waren offiziell alle im Westen. Da sei es doppelt schwer gewesen, offen über Verantwortung und Täterschaft zu sprechen.
"Die Entwicklung, die in Westdeutschland ja schon sehr prägend war mit der 68-er Generation und der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit, die davon angestoßen worden ist, und das gesellschaftliche Klima ja auch deutlich verändert hat, also in den 1970/80er Jahren, das kann man einfach nicht vergleichen. Während in der DDR war die Zeit ja ein bisschen stillgestellt auf einer Art und weil viele ja auch Opfer von Repressalien des Apparates waren und andererseits sich auch mit dem DDR-Regime arrangiert haben, ist da auch nochmals diese doppelte Geschichte in den Blick zu nehmen. Deswegen ist die Ausgangslage doch deutlich komplexer."
Doch egal ob Ost oder West: Familienrecherche zur NS-Zeit ist längst kein Hobby mehr von Rentnern. Immer mehr Angehörige der Enkelgeneration, geboren zwischen 1960 und 1975, sind heute auf der Suche nach Informationen über ihre Familien, beobachtet Archivar Reimer Möller. Und in Neuengamme sitzt mittlerweile auch die Urenkel-Generation, Anfang/Mitte 20:
"Das hat vielleicht mit dem historischen Abstand zu tun, der inzwischen eben größer ist. Und das bedeutet, dass die Erlebnisgeneration, also diejenigen, die das miterlebt haben als Verfolgte, aber eben auch als Mitläufer, Zuschauer, Täter oder Widerstandskämpfer, dass die nicht mehr die Geschichtserzählung so stark bestimmen."
"Das hat vielleicht mit dem historischen Abstand zu tun, der inzwischen eben größer ist. Und das bedeutet, dass die Erlebnisgeneration, also diejenigen, die das miterlebt haben als Verfolgte, aber eben auch als Mitläufer, Zuschauer, Täter oder Widerstandskämpfer, dass die nicht mehr die Geschichtserzählung so stark bestimmen."
Enkel wollen endlich Klarheit
Das Sterben der Zeitzeugen stellt Pädagogen vor große Herausforderungen - weil langfristig niemand mehr aus eigener Anschauung wird berichten können. Eine andere Beobachtung machen Historiker bei der Aufarbeitung von Täterbiografien. Dieser Prozess scheint in vielen Familien erst jetzt richtig in Gang zu kommen:
"Das ist fast die Voraussetzung dafür, dass in den Familien gesprochen wird. Bei den Nachkommen der Verfolgten ist das ganz anders, weil diese Familien immer damit leben mussten, immer damit gelebt haben mit ihrer Familiengeschichte und die war auch immer relativ transparent."
Doch wer Klarheit will, findet in der eigenen Familie selten Unterstützung.
"Weil es oft nur eine Person in der Familie ist, die Fragen stellt, die anderen nehmen es in der Regel hin oder blockieren oder leisten auch aktiven Widerstand."
Kinder reagieren empfindlich auf das Schweigen der Eltern, so dass zwei, inzwischen auch drei Generationen durch eine "doppelte Wand" getrennt werden, so hat das der israelische Psychologe Dan Bar-On genannt. Die Eltern schweigen, und die Kinder und Kindeskinder stellen keine Fragen. Die Sozialpsychologin Angela Moré von der Leibniz-Universität in Hannover spricht von Loyalitätskonflikten:
"Die Eltern sind zwar Täter, aber es sind auch die eigenen Eltern. Kinder sind auf ihre Eltern ja erst einmal auch angewiesen. Und es ist ja wie ein Loyalitätsbruch oder wie ein Verrat wird das empfunden, plötzlich aufzudecken, der Vater hat das und das getan."
Auch lang zurückliegendes Leid kann über Generationen hinweg wirken. Dieses emotionale Erbe wird nicht nur über Erziehungsstile und Bindungsmuster weitergegeben, sondern möglicherweise auch über die Gene. Seit einiger Zeit untersuchen Wissenschaftler, ob traumatische Erlebnisse die Gene verändern können. Diese sogenannte Epigenetik ist noch ein sehr junges Fachgebiet.
"Das ist fast die Voraussetzung dafür, dass in den Familien gesprochen wird. Bei den Nachkommen der Verfolgten ist das ganz anders, weil diese Familien immer damit leben mussten, immer damit gelebt haben mit ihrer Familiengeschichte und die war auch immer relativ transparent."
Doch wer Klarheit will, findet in der eigenen Familie selten Unterstützung.
"Weil es oft nur eine Person in der Familie ist, die Fragen stellt, die anderen nehmen es in der Regel hin oder blockieren oder leisten auch aktiven Widerstand."
Kinder reagieren empfindlich auf das Schweigen der Eltern, so dass zwei, inzwischen auch drei Generationen durch eine "doppelte Wand" getrennt werden, so hat das der israelische Psychologe Dan Bar-On genannt. Die Eltern schweigen, und die Kinder und Kindeskinder stellen keine Fragen. Die Sozialpsychologin Angela Moré von der Leibniz-Universität in Hannover spricht von Loyalitätskonflikten:
"Die Eltern sind zwar Täter, aber es sind auch die eigenen Eltern. Kinder sind auf ihre Eltern ja erst einmal auch angewiesen. Und es ist ja wie ein Loyalitätsbruch oder wie ein Verrat wird das empfunden, plötzlich aufzudecken, der Vater hat das und das getan."
Auch lang zurückliegendes Leid kann über Generationen hinweg wirken. Dieses emotionale Erbe wird nicht nur über Erziehungsstile und Bindungsmuster weitergegeben, sondern möglicherweise auch über die Gene. Seit einiger Zeit untersuchen Wissenschaftler, ob traumatische Erlebnisse die Gene verändern können. Diese sogenannte Epigenetik ist noch ein sehr junges Fachgebiet.
"Auch wenn es stimmt, dass es genetische Veränderungen gibt, wird es nichts ändern an dem Thema Aufarbeitung von Familiengeschichte, sich da einen ehrlichen Zugang zu schaffen", sagt die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth. Doch überhaupt erst einmal herauszufinden, was wirklich war, ist für Angehörige der Enkelgeneration oft nicht leicht. In den Erzählungen der Familien wurden aus Tätern häufig Opfer. Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung hat im Auftrag der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" eine Studie erstellt, die zeigt, wie sehr Erinnerung von Familiengeschichte geprägt ist. Fast 70 Prozent der Befragten verneinten, überhaupt NS-Täter in der eigenen Familie zu haben:
"Der Mensch erfindet gerne Geschichten, die für ihn erträglicher sind als die Wahrheit. Dann hat man keine Verantwortung mehr – und es geht um sehr tiefsitzende – ich denke Mal, die Schuldgefühle sind noch an der Oberfläche, es geht um sehr tiefsitzende Schamgefühle, die abgewehrt werden. Kinder schämen sich auch ihrer Eltern, wenn die etwas Verbrecherisches getan haben."
Schweigen als Selbstschutz. Angela Moré: "Wir alle brauchen, um ein Weltvertrauen zu haben, ein Gefühl, die Menschen, die wir lieben, sind zuverlässige Menschen, sind gute Menschen. Deshalb sind ja auch Kinder von Tätern, wenn sie das anerkennen, entwickeln häufig schwere psychische Störungen, also Depressionen, ein Gefühl von Sinnlosigkeit des Lebens usw."
Gesellschaftliche Reaktionen überraschten
"Ich hab diese Diskrepanz nicht, die viele immer beschreiben, dass sie den mordenden Familienvater und den liebenden Familienvater nicht zusammenbringen können oder den mordenden Soldaten in Osteuropa und den liebenden Familienvater, weil ich das immer eher als was betrachte, was auch zusammengehört. Wenn man von dieser Ideologie der Volksgemeinschaft tatsächlich auch überzeugt ist, dann passt das irgendwie."
Johannes Spohr verbrachte als Kind seine Ferien oft bei den Großeltern in der niedersächsischen Kleinstadt Nordenham. Der 37-jährige Historiker erinnert sich an "Mein Kampf" im Bücherregal und an die Wehrmachtsuniform im Schrank. Nach dem Tod seines Großvaters Rudolph Spohr, 2006, beschäftigte er sich intensiv mit dessen Vergangenheit. Das Besondere: Seine Mutter unterstützte ihn. Das Schweigen der Täter hält er für einen Mythos:
"Die haben ganz viel gesprochen, in der Nachkriegszeit schon, die haben sich, wie mein Großvater, sich zum Beispiel in Verbänden der Kriegseinheiten getroffen, haben darüber geredet."
Das Bild, dass Spohrs Großvater von sich zeichnete, war das eines Kriegsgegners, der sich lange geweigert, aber schlussendlich keine andere Wahl gehabt habe, als Soldat zu werden. Heute weiß sein Enkelsohn, dass der Großvater 1940 zunächst auf den Überfall auf Frankreich beteiligt war und dann zum Oberkommando des Heeres kam, wo er Karriere machte. Ab 1942 war er als Ordonnanzoffizier in verschiedenen Teilen Ostereuropas unterwegs – unter anderem in der Ukraine:
"Er war an sehr vielen Orten, an denen Verbrechen passiert sind, also er war zum Beispiel in dem Ort Winnycja, zu dieser Zeit wurden dort 10.000 Juden und 5.000 Kinder erschossen, ich weiß aber nicht, ob er zur Tatzeit am Tatort war."
Johannes Spohr verbrachte als Kind seine Ferien oft bei den Großeltern in der niedersächsischen Kleinstadt Nordenham. Der 37-jährige Historiker erinnert sich an "Mein Kampf" im Bücherregal und an die Wehrmachtsuniform im Schrank. Nach dem Tod seines Großvaters Rudolph Spohr, 2006, beschäftigte er sich intensiv mit dessen Vergangenheit. Das Besondere: Seine Mutter unterstützte ihn. Das Schweigen der Täter hält er für einen Mythos:
"Die haben ganz viel gesprochen, in der Nachkriegszeit schon, die haben sich, wie mein Großvater, sich zum Beispiel in Verbänden der Kriegseinheiten getroffen, haben darüber geredet."
Das Bild, dass Spohrs Großvater von sich zeichnete, war das eines Kriegsgegners, der sich lange geweigert, aber schlussendlich keine andere Wahl gehabt habe, als Soldat zu werden. Heute weiß sein Enkelsohn, dass der Großvater 1940 zunächst auf den Überfall auf Frankreich beteiligt war und dann zum Oberkommando des Heeres kam, wo er Karriere machte. Ab 1942 war er als Ordonnanzoffizier in verschiedenen Teilen Ostereuropas unterwegs – unter anderem in der Ukraine:
"Er war an sehr vielen Orten, an denen Verbrechen passiert sind, also er war zum Beispiel in dem Ort Winnycja, zu dieser Zeit wurden dort 10.000 Juden und 5.000 Kinder erschossen, ich weiß aber nicht, ob er zur Tatzeit am Tatort war."
Doch Johannes Spohr geht es heute gar nicht mehr so sehr um den eigenen Großvater. Ihm geht es um die gesellschaftlichen Reaktionen. So habe es in der Heimatstadt seines Großvaters in Nordenham, eine heftige Diskussion gegeben, nachdem die Lokalzeitungen über die Suchergebnisse des Enkels berichtet hatten. Der Großvater Rudolph Spohr hatte nach dem Krieg in Nordenham die Goethe-Gesellschaft gegründet, genoss hohes Ansehen in der Stadt. Nun warfen viele dem Enkel vor, er wolle sich auf Kosten des toten Großvaters profilieren:
"Ich glaube tatsächlich, dass es eigentlich um die Bilder ging, die aufgetaucht sind, also in einer der großen Zeitungen der Stadt war das Bild meines Großvaters als stolzer Soldat in seiner Uniform. Und ich glaube, schon dieser Anblick hat vielen nicht gepasst, weil der automatisch eine gewisse Anklage beinhaltet und das beunruhigt."
Der östliche Kriegsschauplatz: Auf einmal war er mitten in Nordenham. Dabei haben vermutlich viele Familien ähnliche Bilder in den Schubladen. Eine Normalität in Deutschland, die noch immer oft verdrängt werde:
"Das ist die Gefahr an der Debatte, dass man aufhört, öffentlich darüber zu reden und egal, was andere machen oder nicht machen, ist - glaub ich - das, was gar nicht geht, dass man schweigt und das fortführt, und das eben auch vermeintlich in dem Sinne, dass man über Toten nicht schlecht sprechen soll."
Erlösung gibt es nicht
Derzeit macht Johannes Spohr Pause von seinem Großvater. Er schreibt seine Doktorarbeit. Irgendwann wird er weitersuchen. Denn so eine Recherche entfalte durchaus Sogwirkung, erzählt er. Man müsse aufpassen, dass eine solche Suche nicht zum Selbstzweck werde. Der Opa ein Nazi - der Enkel der Gutmensch, der alles ans Licht bringt. So einfach aber sei das nicht. Es gibt keine Erlösung:
"Und das ist eine Tendenz, die ich in den letzten 15 Jahren ausmache im erinnerungspolitischen Diskurs in Deutschland. Dass Leute eben sehr gerne immer Opfer sein möchten vom Bombenkrieg oder von Flucht und Vertreibung usw. Und das kann sich eben auch fortführen in dem man sagt: ‚Ich bin eben auch Opfer, weil mein Großvater ein Nazi war, weil ich darunter leide.' Und das ist eine Gefahr. Wenn man unter etwas leidet, hat das immer eine Berechtigung, aber es ist dann die Frage, tritt man damit in die Öffentlichkeit oder sagt man: ‚Ja, ich weiß, dass ich Täter-Nachfahre bin und ich möchte, dass das so stehen bleibt‘."
"Was jetzt noch wichtig ist, und was so schwierig ist für die meisten Kriegsenkel, ist dass die Kriegsenkel sich häufig nicht verstanden fühlen von den Kriegskindern."
"Und das ist eine Tendenz, die ich in den letzten 15 Jahren ausmache im erinnerungspolitischen Diskurs in Deutschland. Dass Leute eben sehr gerne immer Opfer sein möchten vom Bombenkrieg oder von Flucht und Vertreibung usw. Und das kann sich eben auch fortführen in dem man sagt: ‚Ich bin eben auch Opfer, weil mein Großvater ein Nazi war, weil ich darunter leide.' Und das ist eine Gefahr. Wenn man unter etwas leidet, hat das immer eine Berechtigung, aber es ist dann die Frage, tritt man damit in die Öffentlichkeit oder sagt man: ‚Ja, ich weiß, dass ich Täter-Nachfahre bin und ich möchte, dass das so stehen bleibt‘."
"Was jetzt noch wichtig ist, und was so schwierig ist für die meisten Kriegsenkel, ist dass die Kriegsenkel sich häufig nicht verstanden fühlen von den Kriegskindern."
Ein Einsteigerseminar von Kriesgenkel e.V. in Köln. Regelmäßig bietet der Verein deutschlandweit Seminare an – sie sind stets ausgebucht. Es geht um die Vererbung von Traumata, um psychologische Hilfsangebote, ums Vernetzen. Die meisten Teilnehmer sind aufgewachsen in einer Zeit von Frieden und Überfluss - und sind dennoch geprägt von Flucht und Vertreibung, von Bombennächten, die ihre Eltern erlebt haben. Kursleiterin Iris Wangermann erzählt von einenden Erfahrungen:
"Existentielle Brüche, ganz viel, also dass man immer wieder Dinge abbricht oder Beziehungen abbricht oder Wohnorte abbricht, das aber nicht versteht, aber man kommt aus dem Kreislauf nicht raus, viele fühlen sich entwurzelt, rastlos getrieben, viele stehen auf der Bremse, viele fühlen große Leere, fühlen keine Zufriedenheit."
Die Teilnehmer nicken bestätigend. Es tut gut, nicht mehr allein zu sein. Doch woher kann man wissen, dass die persönlichen Probleme wirklich mit den Kriegserlebnissen der Eltern und Großeltern zusammenhängen?
"Existentielle Brüche, ganz viel, also dass man immer wieder Dinge abbricht oder Beziehungen abbricht oder Wohnorte abbricht, das aber nicht versteht, aber man kommt aus dem Kreislauf nicht raus, viele fühlen sich entwurzelt, rastlos getrieben, viele stehen auf der Bremse, viele fühlen große Leere, fühlen keine Zufriedenheit."
Die Teilnehmer nicken bestätigend. Es tut gut, nicht mehr allein zu sein. Doch woher kann man wissen, dass die persönlichen Probleme wirklich mit den Kriegserlebnissen der Eltern und Großeltern zusammenhängen?
"Da muss jeder selber gucken. Für mich ist es nur wichtig, wenn ich sage: ‚Ich hab da ein Problem, da gibt es so einen Teufelskreislauf, aus dem ich nicht aussteigen kann und ich möchte aussteigen‘, dann finde ich es wichtig, sich da auf die Suche zu machen und Lösungen zu finden."
So sieht das auch Kursteilnehmerin Edeltrud Hansen. Die 58-Jährige engagiert sich in der ehrenamtlichen Hospizarbeit. Dort begleitet sie Sterbende, die den Krieg als Kind noch miterlebt haben. Vieles aus der Zeit kommt am Lebensende noch einmal hoch. Ein Grund, sich mit ihrer eigenen Kindheit zu beschäftigen:
So sieht das auch Kursteilnehmerin Edeltrud Hansen. Die 58-Jährige engagiert sich in der ehrenamtlichen Hospizarbeit. Dort begleitet sie Sterbende, die den Krieg als Kind noch miterlebt haben. Vieles aus der Zeit kommt am Lebensende noch einmal hoch. Ein Grund, sich mit ihrer eigenen Kindheit zu beschäftigen:
"Ich sehe mich durchaus nicht als Opfer. Sondern es geht mir darum, meine Biographie in einen sinnhaften Kontext zu stellen und die Geschichte zu verstehen, weil mir meine Familie keinen Zugang zu einer Geschichte ermöglicht hat. So, also es gab den Krieg und nach dem Krieg war das große Nichts. Und wenn man über Geheimnisse nicht sprechen darf, kann man überhaupt nichts Wesentliches thematisieren."
Mystifizierung statt Verantwortung
Edeltrud Hansen ist in einem Dorf in der Eifel groß geworden. Die Stimmung in ihrer Familie sei kalt gewesen: bindungslos, lieblos, freudlos. Im Haus wohnten Eltern, Geschwister, die Großmutter, und die Brüder des Vaters. Die waren im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gewesen. Immer wieder sei erzählt worden, dass eine Ärztin einem von ihnen in russischer Kriegsgefangenschaft die Blutgruppen-Tätowierung am Oberarm entfernt und ihm so das Leben gerettet habe. Denn die Tätowierung hätte seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS offenbart.
"Diese Mystifizierung meines Onkels auch, es war eine Ärztin im Gefangenenlager, die ihn vor den bösen Russen bewahrt hat. Die Deutschen, auch die im Krieg gedient haben, im Nachhinein waren auch sie die Opfer. So einfach ist die Geschichte nicht."
"Diese Mystifizierung meines Onkels auch, es war eine Ärztin im Gefangenenlager, die ihn vor den bösen Russen bewahrt hat. Die Deutschen, auch die im Krieg gedient haben, im Nachhinein waren auch sie die Opfer. So einfach ist die Geschichte nicht."
Der Begriff "Kriegsenkel" aber scheint genau diese Opferhaltung zu bedienen. Weil er eben die Zeit von 1939 bis 1945 ins Zentrum stellt. Oliver von Wrochem von der Gedenkstätte Neuengamme:
"Ich denke, wenn man auf die historische Epoche zurückschaut, muss man mit dem Jahr 1933 anfangen und auch der Zustimmung zum NS-Regime, der Volksgemeinschaft und den Fragen der Beteiligung auch an Verbrechen, die vor dem Zweiten Weltkrieg begangen worden sind."
Seminarleiterin Iris Wangermann vom Verein Kriegsenkel e.V. hält dagegen:
"Wenn es dazu beiträgt, dass sich Menschen verbinden und Menschen sagen: ‚Ich interessiere mich für das Thema, ich gucke mir da was an und möchte das für mich auflösen‘, dann ist mir das egal. Natürlich sind wir Täterenkel, ja genau. Aber was mache ich denn jetzt damit?"
"Wenn man jetzt auf die aktuellen Entwicklungen schaut, kann man schon auch sagen, dass das Erstarken von Geschichtsrevisionismus, Antiziganismus, Antisemitismus und überhaupt Kontinuitäten der Ausgrenzung eben auch die Ursache haben, dass man den Nationalsozialismus in seiner Tiefendimension und seiner Einwirkung auf die Familien und Verankerung auf die Einzelpersonen eben gar nicht durchdrungen und aufgearbeitet hat."
Für Oliver von Wrochem ist klar: Wenn sich Menschen mit der Geschichte ihrer Familien auseinandersetzen, dann beschäftigen sie sich auch mit der Bedeutung des Nationalsozialismus. Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein - und wird relevant für die Demokratie heute:
"Natürlich ist das kein Allheilmittel, sondern nur eine von vielen Dimensionen."
"Wenn man jetzt auf die aktuellen Entwicklungen schaut, kann man schon auch sagen, dass das Erstarken von Geschichtsrevisionismus, Antiziganismus, Antisemitismus und überhaupt Kontinuitäten der Ausgrenzung eben auch die Ursache haben, dass man den Nationalsozialismus in seiner Tiefendimension und seiner Einwirkung auf die Familien und Verankerung auf die Einzelpersonen eben gar nicht durchdrungen und aufgearbeitet hat."
Für Oliver von Wrochem ist klar: Wenn sich Menschen mit der Geschichte ihrer Familien auseinandersetzen, dann beschäftigen sie sich auch mit der Bedeutung des Nationalsozialismus. Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein - und wird relevant für die Demokratie heute:
"Natürlich ist das kein Allheilmittel, sondern nur eine von vielen Dimensionen."
Dieser Meinung ist auch die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth. Allerdings sind in Deutschland längst neue Familiengeschichten hinzugekommen, die das Thema aktuell halten.
"Die auch als Nichtdeutsche auf die Geschichte gucken, sich dazu verhalten. Das ist glaube ich auch gerade in der Gesellschaft gerade ziemlich virulent, dass Menschen mit ihren Fluchterfahrungen, dass da auch etwas triggert in den zweiten und dritten Generationen, wenn sie sich mit diesen Menschen auseinandersetzen, da gibt es viel Bewegung gerade."
Familiengeschichten in Deutschland werden vielfältiger, und ständig kommen neue hinzu. Sie prägen alle auf ihre Weise die deutsche Gesellschaft, und - da sind sich die Wissenschaftler einig – ihnen nachzuforschen schärft das Bewusstsein für historische und politische Zusammenhänge.
Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte Wiederholung des Hintergrunds vom 20. Juni 2019.