1964 sollte mit dem ersten "Berliner Theaterwettbewerb” das Ende der Westberliner theaterkulturellen Isolation eingeläutet werden. Seitdem hat die Hauptstadt 527 Inszenierungen von fast 200 Regisseuren gesehen - und lange waren das tatsächlich ausschließlich Männer - und mit Ihnen ein gutes Stück deutschsprachiger Theatergeschichte. Und die Statistik enthüllt: Selbst diejenigen, die heute regelmäßig öffentlich die Nase rümpfen wie Alt-Provokateur Claus Peymann waren ständiger Gast in Berlin, Peymann 17 Mal! Als "Spiegel" der unfassbar vielfältigen Stadttheaterlandschaft können die zehn "bemerkenswerten Inszenierungen” eines Jahrgangs zwar meistens nicht dienen. Manchmal, meint die ehemalige und auch künftige tt-Jurorin Barbara Burckhardt, Redakteurin bei "Theater heute” selbstkritisch, kamen neue, provozierende Handschriften sogar viel zu spät nach Berlin:
"Christoph Schlingensief ist ein Fall, wo man unglaublich lange gebraucht hat, die erste Inszenierung war 2005 "Kunst und Gemüse", der hatte aber schon 12 Jahre lang Theater gemacht, das Aufsehen erregt hatte, das man zur Kenntnis genommen hatte. Volker Lösch ist ein ähnlicher Fall, Lösch hätte man 2005 einladen müssen mit den "Webern" aus Dresden, da war der Bürgerchor wirklich eine neue Erfindung, das war eine neue ästhetische Maßnahme. Er wurde dann vier oder fünf Jahre später eingeladen mit einer Hamburger Inszenierung, da war die Methode schon fast zur Masche geworden."
Doch heute ist das Theatertreffen viel mehr als nur ein Schau-Fenster gegenwärtiger Bühnenkunst. Intendant Thomas Oberender:
"Es ist im Grunde die "Klassenfahrt", die aus drei deutschsprachigen Ländern jährlich unternommen wird, und diese Mischung aus Publikumsfestival und Branchentreff, aus Diskurs, Streit, Versöhnung, Party, aus Nachwuchsförderung und politischen Debatten, die macht das Theatertreffen einzigartig."
Die theoretische Vermessung des Terrains findet am Beispiel des "Disabled Theatre” von Jerome Bel mit dem Theater Hora aus Zürich statt. Wenn Menschen mit Downsyndrom oder Lernbehinderung sich selbst vor- und ausstellen, ist das dann Kunst oder eine "Freak-Show", wie es im Stück mal genannt wird? Aufklärung findet hier vor allem beim Zuschauer, über die eigene Selbstwahrnehmung statt.
Ein vielleicht maßgebliches Signum dieses Jahrgangs: Ironie und Zynismus haben ausgespielt, Diskurs, Düsternis und eine Dominanz der Bühnenbilder prägen die ersten in Berlin gezeigten Inszenierungen. Michael Thalheimers Frankfurter "Medea” erdrückt mit haushoher dunkelgrauer Wand und ebenso hohem Ton jeden identifikatorischen Impuls, die große Constanze Becker ist eine ins Zeitlose entrückte geschundene Rächerin.
"Mein Entschluss steht fest: Auf der Stelle töt' ich meine Kinder, eile dann aus diesem Lande fort. Da sie nun einmal sterben müssen, nehme ich das Leben, das ich ihnen gab, auch selbst zurück. Auf, du meine Hand, nimm unverzagt das Schwert. Nimm es! Tritt an die Schranke, hinter der des Lebens bitteres Leid beginnt."
Luk Percevals Falladanacherzählung "Jeder stirbt für sich allein” aus Hamburg lotet die grau-schwarz-braunen Untiefen verkümmerter Seelen aus; der raumhohe Stadtplan von Berlin, gebaut aus Alltagsgegenständen der Vierziger Jahre, atmet schwer Vergänglichkeit. Sebastian Hartmanns "Krieg und Frieden” aus Leipzig ist eine großartig dunkle Tolstoicollage zwischen zwei beweglichen riesigen Bühnenplattformen, die geeignet ist, existenzielle Schwermut auszulösen: 2000 Seiten Original-Text und ein fünfstündiges Theaterereignis beweisen doch nur, dass der Mensch unerlöst und die Welt womöglich ganz ohne Sinn ist? Auf die Spitze treibt diese Einsicht übrigens die knallbunte "Murmel Murmel”-Show von Herbert Fritsch an der Berliner Volksbühne:
"Murmel, murmel, murmel…. Murmel murmel murmel murmel murmel…"
Wenn hier aufgedrehte und Augen verdrehende Knallchargen in Spießer-Kostüme ein ums andere Mal über die Rampe stolpern, uns mit optischen Ticks und Tricks zum Lachen bringen oder als bonbonfarbene ausgewachsene Teletubbies Kinderquatsch fabrizieren, dann steht fest: Höhere Wesen werden sagen, es ist Kunst. Und die wird noch mehr als weitere fünfzig Jahre überdauern.
Mehr zum Thema:
Berliner Theatertreffen - 50 Jahre "bemerkenswertes Theater"
Homepage des Berliner Theatertreffens
"Christoph Schlingensief ist ein Fall, wo man unglaublich lange gebraucht hat, die erste Inszenierung war 2005 "Kunst und Gemüse", der hatte aber schon 12 Jahre lang Theater gemacht, das Aufsehen erregt hatte, das man zur Kenntnis genommen hatte. Volker Lösch ist ein ähnlicher Fall, Lösch hätte man 2005 einladen müssen mit den "Webern" aus Dresden, da war der Bürgerchor wirklich eine neue Erfindung, das war eine neue ästhetische Maßnahme. Er wurde dann vier oder fünf Jahre später eingeladen mit einer Hamburger Inszenierung, da war die Methode schon fast zur Masche geworden."
Doch heute ist das Theatertreffen viel mehr als nur ein Schau-Fenster gegenwärtiger Bühnenkunst. Intendant Thomas Oberender:
"Es ist im Grunde die "Klassenfahrt", die aus drei deutschsprachigen Ländern jährlich unternommen wird, und diese Mischung aus Publikumsfestival und Branchentreff, aus Diskurs, Streit, Versöhnung, Party, aus Nachwuchsförderung und politischen Debatten, die macht das Theatertreffen einzigartig."
Die theoretische Vermessung des Terrains findet am Beispiel des "Disabled Theatre” von Jerome Bel mit dem Theater Hora aus Zürich statt. Wenn Menschen mit Downsyndrom oder Lernbehinderung sich selbst vor- und ausstellen, ist das dann Kunst oder eine "Freak-Show", wie es im Stück mal genannt wird? Aufklärung findet hier vor allem beim Zuschauer, über die eigene Selbstwahrnehmung statt.
Ein vielleicht maßgebliches Signum dieses Jahrgangs: Ironie und Zynismus haben ausgespielt, Diskurs, Düsternis und eine Dominanz der Bühnenbilder prägen die ersten in Berlin gezeigten Inszenierungen. Michael Thalheimers Frankfurter "Medea” erdrückt mit haushoher dunkelgrauer Wand und ebenso hohem Ton jeden identifikatorischen Impuls, die große Constanze Becker ist eine ins Zeitlose entrückte geschundene Rächerin.
"Mein Entschluss steht fest: Auf der Stelle töt' ich meine Kinder, eile dann aus diesem Lande fort. Da sie nun einmal sterben müssen, nehme ich das Leben, das ich ihnen gab, auch selbst zurück. Auf, du meine Hand, nimm unverzagt das Schwert. Nimm es! Tritt an die Schranke, hinter der des Lebens bitteres Leid beginnt."
Luk Percevals Falladanacherzählung "Jeder stirbt für sich allein” aus Hamburg lotet die grau-schwarz-braunen Untiefen verkümmerter Seelen aus; der raumhohe Stadtplan von Berlin, gebaut aus Alltagsgegenständen der Vierziger Jahre, atmet schwer Vergänglichkeit. Sebastian Hartmanns "Krieg und Frieden” aus Leipzig ist eine großartig dunkle Tolstoicollage zwischen zwei beweglichen riesigen Bühnenplattformen, die geeignet ist, existenzielle Schwermut auszulösen: 2000 Seiten Original-Text und ein fünfstündiges Theaterereignis beweisen doch nur, dass der Mensch unerlöst und die Welt womöglich ganz ohne Sinn ist? Auf die Spitze treibt diese Einsicht übrigens die knallbunte "Murmel Murmel”-Show von Herbert Fritsch an der Berliner Volksbühne:
"Murmel, murmel, murmel…. Murmel murmel murmel murmel murmel…"
Wenn hier aufgedrehte und Augen verdrehende Knallchargen in Spießer-Kostüme ein ums andere Mal über die Rampe stolpern, uns mit optischen Ticks und Tricks zum Lachen bringen oder als bonbonfarbene ausgewachsene Teletubbies Kinderquatsch fabrizieren, dann steht fest: Höhere Wesen werden sagen, es ist Kunst. Und die wird noch mehr als weitere fünfzig Jahre überdauern.
Berliner Theatertreffen - 50 Jahre "bemerkenswertes Theater"
Homepage des Berliner Theatertreffens