Vor den Ruinen von Charkiw, unter strahlend blauem Himmel, sitzt ein Cellist und spielt Bachs Cello-Suite Nr. 5 in c-Moll. Das Video, das letzte Woche auf YouTube gepostet wurde, verbreitet sich viral. Der Musiker heißt Denys Karachevtsev und ist 30 Jahre alt. Zu Friedenszeiten spielte er im Opernorchester und unterrichtete an der Charkiwer Musikhochschule als Jungdozent.
Am 24. Februar änderte sich alles schlagartig. Aber Denis blieb in der Stadt wie andere seiner Kolleginnen und Kollegen: "Wir wollten hierblieben, um unser Land, unsere Mitbürger zu unterstützen, vor allem als Helfer und Volontäre in den Krankenhäusern und bei Aufräumarbeiten. Aber dann bekamen wir plötzlich alle eine große Sehnsucht nach unserem eigentlichen Beruf, der Musik. Dieser Wunsch entstand irgendwie bei allen gleichzeitig, ungefähr zwei Wochen nach Kriegsausbruch: Wir wollten Musik spielen, trotz allem."
Das Musikfestival nicht aufgegeben
Eigentlich hätte am 26. März das Charkiw Musikfest eröffnet werden müssen. Im Kriegszustand undenkbar. Eigentlich. Der aus Belarus stammende Dirigent Vitali Alekseenok ist künstlerischer Leiter des Festivals. Er reagierte auf die Wünsche der Musikerinnen und Musiker in der Stadt und so fanden zwei Konzerte statt.
Und zwar dort, wo Hunderte von Menschen schon seit Wochen ausharren, in einer U-Bahn-Station und in einem Bunker, den Sponsoren des Festivals zur Verfügung stellten. Fünf Musikerinnen und Musiker gestalteten Programme mit populären Werken europäischer und ukrainischer Klassik, aber auch mit ukrainischen Volksliedern. So wollten die Musiker alle ansprechen, von Menschen der Hochkultur bis zum Arbeiter, so der Dirigent.
Alltag nach dem Schock
Denys Kraachevtsev sagt dazu: Wir sind an dem Punkt angekommen, wo das Leben in der Stadt, auch das Kulturleben, wieder aufblüht. Soweit natürlich, wie es die aktuellen Bedingungen zulassen. Ich glaube, unser Konzert war das erste in der Stadt seit Kriegsausbruch. Mit diesem Konzert wollten wir der Stadt und den Menschen zeigen, dass auch das Kulturleben wieder da ist." Das Leben hätte sich nach dem Schock neu organisiert.
"Die Feuerwehrleute löschten Brände, kommunale Dienste reparierten blitzschnell abgeschossene Strommaste oder durch Raketen beschädigte Wasserleitungen. Was mich am meisten beeindruckt hat, das sind die Taxifahrer. Eines Tages kamen Hunderte Taxifahrer auf einmal auf die Straßen im Zentrum und räumten auf, damit man wieder fahren kann. Das hat mich tief beeindruckt." Nach diesem Vorbild wollen die Musiker ebenso anpacken: Aufräumarbeiten im Konservatorium an, wo durch Bombardements die Fenster beschädigt wurden. Opernhaus wie Philharmonie waren bis zu diesem Zeipunkt einigermaßen unversehrt.
Blick in die Zukunft
Musikerinnen und Dirigent sehen sich als typische Vertreter der Ukraine. Ihr Blick Richtung Zukunft ist dabei auf Europa gerichtet. Und auf den Frieden.
Im März nächsten Jahres soll das Festival wieder stattfinden, hoffentlich ohne Kriegslärm, in einem ukrainischen und europäischen Charkiv.