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Klassiker der amerikanischen Nachkriegsliteratur

Als der Roman 1955 erschien, avancierte er sogleich zum Bestseller. Sein Held Thomas Rath strebt nach Zufriedenheit und Erfolg im Beruf, verliert bei all seinen Bemühungen aber aus den Augen, dass das Leben mehr ist als Arbeit. Jetzt liegt "Der Mann im grauen Flanell" in einer Neuübersetzung vor.

Von Martin Becker |
    Die Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt sechs Rolltreppen. Männer und Frauen drängeln sich darauf. Der Anfang eines Arbeitstags, möglicherweise. Lauter Menschen im grauen Flanell. Eigentlich sollte man der Umschlaggestaltung eines Buches nicht zu viel Bedeutung beimessen. Im Fall von Sloan Wilsons "Der Mann im grauen Flanell" aber korrespondiert das Titelfoto in erstaunlicher Weise mit dem Roman. Man sucht in den Menschenmassen nach der Hauptfigur, selbst Besitzer eines ordentlichen Anzugs aus Flanell.

    Am Anfang der Geschichte steht die Leere, steht die Unzufriedenheit: Thomas Rath und seine Frau Betsy leben in einem kleinen, bedrückenden Haus; eingegliedert in eine kleine, bedrückende Siedlung vor den Toren von New York City. Sie haben ihre Kinder, sie haben ihre Cocktailpartys, sie haben ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Aber mit ihrer Gegenwart stimmt was nicht. Selbst ihr enges Einfamilienhaus lässt ihnen keine Ruhe mehr:

    "Dafür gab es viele Gründe, keiner davon logisch, aber allesamt zwingend. Zum einen hatte das Haus irgendwie das bösartige Talent, Beweise für ihre Schwächen vorzulegen und alle Spuren ihrer Stärke zu verwischen."

    Da ist es nur allzu folgerichtig, dass im Wohnzimmer ein Riss im Putz die Form eines Fragezeichens hat. Aus diesem Unbehagen heraus, aus der Sehnsucht nach Veränderung, die das große Glück verspricht, entwickelt der Roman die klassische Geschichte eines jungen Amerikaners in den Fünfzigern. Thomas Rath, 33 Jahre alt, Kriegsveteran, Assistent des Direktors einer gemeinnützigen Stiftung, weder gut noch schlecht bezahlt. "Ich weiß wirklich nicht, was ich gesucht habe, als ich aus dem Krieg kam", bemerkt Rath, "aber offenbar habe ich immer nur einen Haufen schlauer junger Männer in grauen Flanellanzügen in New York in großer Hektik Richtung Nirgendwo rennen sehen."

    Der Protagonist tut es ihnen gleich und bewirbt sich auf eine Stelle in einem gigantischen Medienkonzern. Als er die Arbeit bekommt, ist er plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen, ist er mit Erinnerungen konfrontiert, die nicht mehr verschwinden wollen: Da ist der Gedanke an die Menschen, die er als Fallschirmjäger getötet hat. Da ist der Gedanke an dieses italienische Mädchen, mit dem er in den Wirren des Krieges fernab der Heimat eine Liebesbeziehung hatte, aus der sogar ein Kind hervorging – ein kurzes, intensives Glück vor der nächsten Einberufung:

    "Während dieser neunundvierzig Tage waren sie zusammen alt geworden, mit den Schwächen des anderen geduldig gewesen, und sogar alte Familienfreunde hatten sie gefunden, Männer in Bars, die ihnen zunickten und sie als Paar akzeptierten, das zusammengehörte, alte Frauen an Straßenecken, die Maria als verheiratete Frau ansprachen, ebenso ehrbar wie sie selbst."

    Von der ersten Zeile an dräut in diesem Buch die Katastrophe am Horizont, hat man das Gefühl, dass die Eskalation jeden Augenblick eintreten könnte – aber sie tritt nicht ein. Man folgt dem einigermaßen normale Leben eines amerikanischen Veteranen in der Zeit nach dem Krieg. Die Art und Weise, in der Sloan Wilson erzählt, weist jedoch weit über den engen Radius einer amerikanischen Fifties-Story hinaus: Literarisch kunstvoll und zutiefst berührend konstruiert Wilson das Leben des Thomas Rath – und schafft dabei mit einfachen Mitteln originelle Situationen und Szenen, wie man sie selten gelesen hat. Da gibt es zum Beispiel das absurde Bewerbungsverfahren, dem Rath bei seinem potentiellen Arbeitgeber ausgesetzt ist: Eine Stunde lang muss er mit leeren Blättern in einem Raum ausharren und die Geschichte seines Lebens aufschreiben – einzige Bedingung: Der letzte Satz seiner Autobiografie soll mit "Das Wesentlichste an mir ist ..." eingeleitet werden.

    Und so sitzt man daneben, schaut ihm beim Grübeln zu und leidet mit angesichts der Hilflosigkeit, die jeden überfällt, der auch nur einen wahren Satz über sich selbst schreiben soll: Mal kommt Rath die "wahrscheinlich irrelevante, aber vollkommen korrekte Tatsache" in den Sinn, "dass er siebzehn Männer getötet hatte." Mal stellt er fest, dass das Wesentlichste an ihm sei, ein billiger Zyniker geworden zu sein, oder, dass er als Student ständig Mandoline spielte. Schließlich landet er bei der Wahrheit.

    "Vom Standpunkt der United Broadcasting Corporation aus gesehen ist das Wesentlichste an mir, dass ich mich für eine Stelle in ihrer Public-Relations-Abteilung bewerbe und dass ich nach einer ersten Lernzeit wahrscheinlich gute Arbeit leisten würde. Ich werde gern alle Fragen beantworten, habe mich aber nach eingehender Überlegung entschieden, keine Autobiografie als Teil einer Stellenbewerbung schreiben zu wollen."

    Immer wieder sind es der leise Humor, das verschrobene Detail, die alle Klischees vermeidende Sprache, die den "Mann im grauen Flanell" so zeitgemäß machen. Bis in die Nebenfiguren hinein ist man von der Lektüre des amerikanischen Klassikers gleichermaßen gefesselt wie überrascht: Da gibt es den jovialen Richter, der bei schweren Auseinandersetzungen und Konflikten schon weit im Voraus ein Ziehen in der Magengegend spürt; da gibt es den vermeintlich knochenharten Chef des Medienkonzerns, einen gewissen Hopkins, dem man Machtbesessenheit und jede Art von Abgrund zutraut – und der sich letztlich als menschenfreundlicher Workaholic erweist, der einfach nicht aus seiner Haut kann, den nicht einmal eine Psychoanalyse vor seiner Verdammnis zum Erfolg bewahrt.

    "Mein Vater hat mir immer leidgetan, weil meine Mutter ihn so schlecht behandelte. Auch für mich hatte sie wenig Zeit, außer wenn ich etwas tat, was sie für überragend hielt. Bekam ich ein besonders gutes Zeugnis oder gewann etwas, durfte ich zu ihr hinauf aufs Zimmer und allein mit ihr Tee trinken. 'Wir beide sind einzigartig', sagte sie immer. 'Wir leisten etwas.' Vermutlich hatte ich von ihr vermittelt bekommen, dass nur Leistung zählt."

    Am Ende, und das ist das Bemerkenswerteste an diesem 1955 erstmals veröffentlichten Roman, wird tatsächlich alles gut. Nicht im Sinne eines allzu herzzerreißenden Happyends, wohl aber im Sinne der Entwicklung des Protagonisten: Thomas Rath erkennt, dass das radikale Bekenntnis zur Wahrheit der einzige Weg ist. Dass es sich nicht lohnt, das kleine Stück Leben ganz und gar der Arbeit zu opfern. Dass man den Gespenstern der Vergangenheit nur dann ihren Schrecken nimmt, wenn man ihnen direkt in die Augen schaut.

    Dem amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen war das alles zu viel des Guten: In seinem in der deutschen Neuausgabe abgedruckten Nachwort wirft er Sloan Wilson vor, es sich am Ende zu einfach zu machen, wenn er an die Selbsterkenntnis und die guten Seiten des Menschen appelliert. Kurzum, er unterstellt dem "Mann im grauen Flanell" letztlich eine Neigung zum klassisch-amerikanischen Kitsch. Doch sind es der Tonfall und die sprachliche Kraft des Romans, die den Kitschverdacht mit einem Handstreich wegwischen. Beispielsweise dann, wenn der Durchschnittsamerikaner Thomas Rath den Wendepunkt beschreibt, den Augenblick, in dem er begreift, dass er sein Leben ändern muss – vielleicht auf einer von vielen Rolltreppen inmitten der Menschenmassen, vielleicht am Beginn eines neuen Arbeitstags:

    "Lange dachte ich, ich stünde am Rand und betrachtete dieses Treiben, und es war ein ziemlicher Schock, als ich an mir herabblickte und sah, dass auch ich einen grauen Flanellanzug trug."

    Sloan Wilson: Der Mann im grauen Flanell
    Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld
    Dumont Verlag, 445 Seiten, 22 Euro