Bednarz: Tiksi ist heute überall im hohen Norden und im fernen Osten Sibiriens zu finden. Es ist in der Tat so, dass viele der Siedlungen und Gemeinden, die zu Sowjetzeiten dort entstanden sind, heute, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, "liquidiert" werden. Sie haben entweder ihre strategische Bedeutung verloren oder aber auch die Bodenschätze, die dort in den Regionen gefunden wurden, sind erschöpft. Die Russen verlassen die Ränder Sibiriens.
von Löwis:
"Vom Baikal nach Alaska", das ist ein Bildband, aber alles andere als ein gewöhnlicher Bildband. Sie bewegen sich auf der Straße des Todes. Sie reisen zum "schwarzen Planeten" Kolyma. Wollen Sie Touristen abschrecken mit diesem Buch?
Bednarz:
Touristen werden ohnehin kaum in diese Region kommen, denn sie ist ja verkehrsmäßig überhaupt nicht erschlossen. Und auch diese Straße des Todes von der Lena zum Stillen Ozean nach Magadan, die einst von GULAG-Häftlingen angelegt wurde, ist ja nur einige Monate im Winter in ihrer ganzen Länge zu befahren, denn sie führt durch Sümpfe und über Flüsse, an denen es keine Brücken gibt. Und nur, wenn die Sümpfe gefroren sind und die Flüsse gefroren sind, kann man mit einem Auto die ganze Strecke passieren. Touristen werden sich dahin, auch in absehbarer Zeit, nicht verirren.
von Löwis:
Lassen Sie uns über einige Bilder des Bildbandes reden, Fotos, die mich besonders beeindruckt haben: eine leere Fensterhöhle, darüber ein Schild "KLUB AEROPORTA OJMJAKON".
Bednarz:
Ojmjakon ist der Kältepol der Erde, eine kleine Siedlung, 400 Einwohner, allerdings während des Zweiten Weltkriegs ein wichtiger Zwischenlandeplatz für die amerikanischen Versorgungsflugzeuge, die aus Alaska Richtung Moskau flogen. Bis vor wenigen Jahren wurde Ojmjakon auch noch von Aeroflot regelmäßig angeflogen. Heute fliegt Aeroflot nicht mehr dahin. Der Flughafen verkommt, verfällt, die Rollbahn wächst zu. Und der Klub, wie es heißt, des Flughafens, ist nur noch eine Trümmerlandschaft.
von Löwis:
Ein Dorf am Baikalsee, Holzhäuser. Vor jedem Haus eine Kuh, ein Telegraphenmast, ein paar Hühner. Sibirien-Idylle oder Armut pur?
Bednarz:
Für westliche Augen Armut pur - für die Menschen dort keineswegs, denn sie leben wie Generationen vor ihnen von dem, was ihnen die Natur bietet: was ihnen der Baikalsee bietet, von den Fischen und von dem, was ihnen die Taiga bietet, dem Holz zum Heizen und dem Wild zum Essen. Die Leute empfinden sich nicht als arm. Aber für westliche Augen erscheinen sie arm.
von Löwis:
Ein Kreuz mit einer Christusfigur, dahinter viele Kreuze in der Taiga ...
Bednarz:
Eine Erinnerung an die unzähligen Lager in Sibirien, die während der Stalin-Zeit dort errichtet wurden. Dieser kleine Friedhof erinnert an litauische Fischer, die im Jahre 1942 dorthin deportiert wurden, tausend Kilometer nördlich des Polarkreises ins Lena-Delta, und die dort fast alle mit ihren Familien, Frauen und Kindern umgekommen sind.
von Löwis:
Die Ruine eines mehrstöckigen Holzhauses, geschmückt mit einem Lenin-Plakat und der Parole: Der Sieg des Kommunismus ist unausweichlich.
Bednarz:
Die Überreste einer einst blühenden Goldgräberstadt, Salechard, in der Nähe von Ojmjakon. 4000 Menschen lebten dort. Der Ort ist inzwischen ebenfalls, wie es heißt, "liquidiert".
Löwis:
Der Kommunismus hat ja ungeheuer viel investiert in Sibirien, gigantische Projekte auf den Weg gebracht. Ist der Kommunismus schuld an der heutigen Misere oder die neuen Zaren, die Sibirien links liegen lassen?
Bednarz:
Ich glaube, sowohl das Sowjetsystem ist schuld an der heutigen Misere, denn zu Sowjetzeiten wurde Sibirien bedenkenlos und gnadenlos ausgenutzt, und die heutigen Herren Russlands sind schuld, weil sie sich um Sibirien nur noch dort kümmern, wo sie Erdöl und Erdgas aus dem Boden holen und ansonsten die Menschen, die zu Sowjetzeiten dorthin gelockt wurden, vergessen.
von Löwis:
Sibirien, das war ja auch das Land der Dekabristen. Ist etwas geblieben vom Geist der Dekabristen? Sind die Sibirjaken sich heute dieses Erbes bewusst?
Bednarz:
Es gibt sehr viele Menschen - gerade in den größeren
Städten -, die sich dieses Erbes bewusst sind. In Irkutsk
z. B. ist die Erinnerung an die Dekabristen sehr lebendig. Man findet ja auch überall noch Spuren. Man kennt noch, und sie sind noch erhalten, die Gebäude etwa, in denen die Fürstin Wolkonskaja lebte. Die Dekabristen haben Kultur nach Sibirien gebracht, und das ist zumindest heute den Kreisen, die sich mit Kultur beschäftigen, den Intellektuellen in Sibirien, bewusst.
von Löwis:
Klaus Bednarz, "Vom Baikal nach Alaska", das sind Bilder einer faszinierenden Natur, und das sind Bilder eines scheinbar unaufhaltsamen Niedergangs. Zeigen Sie das ganze Sibirien, oder gibt es auch Zeichen eines Aufschwungs Ost zwischen Ural und Pazifik?
Bednarz:
Es gibt nicht erkennbar einen Aufschwung Ost, aber es gibt erkennbar bei den Einheimischen, bei der Urbevölkerung, bei den Jakuten, bei den Ewenken, bei den Tschuktschen, bei den Eskimos an der Beringstraße, eine Rückbesinnung auf alte Traditionen, auf die alte Kultur, zum Teil aus der Zwangssituation heraus. Sie müssen sich wieder auf alte Jagdtechniken besinnen, weil es zum Beispiel keinen Sprit mehr für ihre Außenbordmotoren gibt. Sie bauen sich ihre Boote wieder selber aus Walrosshaut. Das heißt, da ist durch den Druck der Situation wieder eine Rückbesinnung auf die alte Kultur zu beobachten. Aber ansonsten habe ich in Sibirien nur Elemente des Verfalls gesehen und des Raubbaus, da etwa, wo japanische und chinesische Firmen in riesigem Umfang die Taiga abholzen.
von Löwis:
Was mir auffällt, besonders in den Großstädten: Es gibt auch eine massive Amerikanisierung, wenn man z. B. nach Nowosibirsk kommt, die Bars oder Restaurants oder so etwas anschaut.
Bednarz:
Das ist in Sibirien überall zu beobachten, keine Hinwendung zum Westen, sondern Richtung Osten, Richtung Amerika, aber auch sehr viele junge Menschen, die chinesisch und japanisch lernen. Das ist eine Erscheinung, die man heute eigentlich überall östlich des Ural beobachten kann.
von Löwis:
Wie haben die sibirischen Metropolen die Wende in Russland verkraftet, das Ende der Sowjetunion: Nowosibirsk, Irkutsk, Tomsk, Ulan-Ude?
Bednarz:
Unterschiedlich. Magadan, etwa, am Stillen Ozean ist heute eine Stadt, die zunehmend entvölkert wird. Die Menschen ziehen weg. Irkutsk, eine Stadt mit einer reichen, auch kulturellen Tradition, erlebt eine gewisse Blüte, ebenfalls Jakutsk, weil Jakutsk das Zentrum der sibirischen Gold- und Diamantengewinnung ist. Aber sobald man aus diesen Metropolen herauskommt in die Siedlungen, in die Dörfer, ist der Verfall gegenwärtig.
von Löwis:
Sibirien, das war ja jahrhundertelang für die Herrscher Russlands eine Schatzkammer und zugleich auch ein riesiges Straflager. Was ist Sibirien für Moskau zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
Bednarz:
Ein Problemgebiet, das nach wie vor über unendliche Ressourcen verfügt, bei dem man aber nicht so recht eine Konzeption erkennen kann, wie man mit diesen Ressourcen umgeht. Niemand bietet dem unkontrollierten industriellen Holzeinschlag, etwa in der Taiga, Einhalt. Die Versuche, große westliche Firmen eng einzubinden, etwa in die Erschließung der Erdöl- und Erdgasfelder, die sind bisher nur zum Teil gelungen. Das heißt, Sibirien ist ein ungemein großes Potential, aber auch eine Problemzone für Russland.
von Löwis:
Klaus Bednarz, noch ein Foto, ein ganz gewöhnliches Foto: ein alter Dampfer irgendwo auf einem der großen Ströme Sibiriens, Bildunterschrift: "Viel Zeit zum Träumen - ein melancholischer Reporter in melancholischer Landschaft." Was verbinden Sie mit Sibirien: Träume oder eher Alpträume?
Bednarz:
Wenn man als Westler die Möglichkeit hat, dieses Sibirien jederzeit wieder zu verlassen, ist es nach wie vor eine grandiose Erfahrung, ein Land, das in weiten Strecken unberührt ist, wunderschön ist, schön und schrecklich zugleich - das ist Sibirien.
Rotes Feuerkraut in einer von der Sonne vergoldeten Taiga vor der Kulisse schneebedeckter Gipfel. Kräne in einem Eismeerhafen, die ihre Hälse in den Himmel recken und auf Schiffe warten, die nie mehr kommen. Sibirien-Bilder von Klaus Bednarz: Vom Baikal nach Alaska, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.