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Klaus-Rüdiger Mai und seine Streitschrift
"Kirche säkularisiert sich selbst"

Die "Politisierung" spaltet die evangelische Kirche. Davor warnte der Schriftsteller Klaus-Rüdiger Mai im Dlf. Die Kirche orientiere sich zu sehr am Zeitgeist. Allzu oft hätten Christen in Gottesdiensten den Eindruck, an einem Parteitag teilzunehmen. "Das hat mit Kirche nichts mehr zu tun."

Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch mit Andreas Main |
    Der Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur Klaus-Rüdiger Mai
    Der Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur Klaus-Rüdiger Mai (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Andreas Main: Wer das Buch von Klaus-Rüdiger Mai liest, muss sich dazu verhalten. Die einen werden den Kopf schütteln. Andere werden zustimmend mit dem Kopf nicken. Ich habe manchmal den Kopf geschüttelt, meist habe ich zustimmend genickt. Wobei meine Meinung denkbar unwichtig ist. Wichtig ist vielmehr, dass Teile der Evangelischen Kirche die Streitschrift des protestantischen Schriftstellers durchaus ernst nehmen, während andere ihn abtun und in gewisse Schubladen packen. Aber anders als Inquisitoren, damals wie heute, kann ich dem Autor des Buchs "Geht der Kirche der Glaube aus?" ja auch einfach ein paar offene Fragen stellen, kann Klaus-Rüdiger Mai auch hinterfragen. Wir sitzen im Berliner Deutschlandfunkstudio zusammen, wo wir dieses Gespräch aufzeichnen bzw. aufgezeichnet haben. Willkommen und guten Tag, Klaus-Rüdiger Mai.
    Klaus-Rüdiger Mai: Ja, schönen guten Tag.
    Main: Herr Mai, es ist gefühlt das zehnte Buch, das sich mit 'Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirchen', mit 'Hypermoralismus', mit der 'Kirche als Moralagentur' beschäftigt. Wozu braucht es das elfte, also Ihres?
    Mai: Es braucht die Streitschrift, dass Streit in die Sache hineinkommt, denn wir müssen uns auseinandersetzen. Wenn wir denn eine Verantwortung für die Kirche haben und diese Verantwortung auch übernehmen wollen, dann müssen wir uns einmischen. Und insofern ist das kein Buch, was nur beschreibt, sondern was auch wirken will, was sich einmischen will, was Themen zur Diskussion stellen möchte, weil ohne diese Diskussion wir nicht weiterkommen. Und damit wäre auch unserer Kirche nicht gedient.
    "Wie bei einem Parteitag"
    Main: Eine der Fehlentwicklungen Ihrer Kirche, die Sie benennen: Sie sehen die Evangelische Kirche als verlängerten Arm bestimmter Parteien an. Ist das Ihr Hauptproblem?
    Mai: Mein Problem ist, dass Kirche sich parteipolitisch äußert, wo sie das doch nicht tun sollte. Denn Kirche ist eine Gesamtheit. Und, wenn man den Eindruck hat, dass, wenn man aus einer Predigt kommt, man auch hätte bei einem Parteitag der Grünen oder der SPD sein können und inzwischen auch teilweise der CDU, dann hat man auch das Gefühl, dann hätte man gleich dorthin gehen können. Dann hat das mit Kirche nichts mehr zu tun.
    Dann spaltet das im Übrigen auch die Kirche, die eine Gesamtheit zu sein hat. Ich glaube, dass Kirche eine Verantwortung hat, verschiedene Menschen zusammenzuführen. Und Kirche könnte vielleicht das Einzige sein, wenn die Gesellschaft auseinanderfällt, die noch integrierend wirken kann. Kann sie aber auch nur, wenn sie nicht politisierend, wenn sie nicht spaltend wirkt.
    "Wir können nicht allen Menschen auf der Welt helfen"
    Main: Als Advocatus Diaboli, als des Teufels Advokat halte ich jetzt mal dagegen: Ihnen geht auf die Nerven, dass die Kirchen sich für Flüchtlinge und Energiewende einsetzen. Wenn sie womöglich gegen Abtreibung arbeiten würden, dann wäre für Sie alles wieder in Ordnung?
    Mai: Für mich wäre es in Ordnung, wenn Kirche aus dem Glauben heraus agiert und aus dem Glauben heraus diskutiert. Und die Frage, wie ich es denn mit den Flüchtlingen halte, ist zumindest erst mal keine christliche Frage und keine kirchliche Frage, sondern es ist eine Frage der politischen Vernunft. Und die politische Vernunft bedeutet: Was kann ich denn – und dadurch wird es wieder eine christliche Frage – was kann ich denn wirklich leisten?
    Also, was wir ja verloren haben, ist das Gefühl für die Tragik. Das Tragische ist doch, dass wir nicht allen Menschen auf der Welt helfen können. Und, weil wir nicht allen helfen können, müssen wir doch unsere Kräfte so realistisch einschätzen, dass wir dann denjenigen, oder dass wir diejenigen, die kommen, dass wir denjenigen wirklich auch helfen können, dass wir wirklich Hilfe leisten können, weil das nicht unsere Kräfte überbeansprucht. Da ist eine Verantwortung.
    Politik ist die Kunst des Möglichen, nicht die Kunst des Wünschbaren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Und, wenn Kirche jetzt meint, sie muss da mitdiskutieren und eine moralische Ebene hineinbringen, die aber nicht hilft bei der Bewältigung der Probleme, dann wirkt Kirche sogar an dieser Stelle kontraproduktiv. Also, ich bin nicht dafür, dass Kirche sich in eine politische Position begibt, weil sie dadurch letztendlich ihren Auftrag, nämlich für das 'Reich nicht von dieser Welt' zu wirken, vergibt.
    "Selbstsäkularisierung"
    Main: 'Das Reich nicht von dieser Welt' – Sie spielen auf das an, was Theologen als eschatologischen Vorbehalt bezeichnen. Der bedeutet – weiter theologisch gesprochen – im Umkehrschluss aber auch, dass dieses Reich Gottes schon auch in dieser Welt ansatzweise real werden soll. Also, Sie wollen die Kirche und die ganze Debatte entpolitisieren, halte ich jetzt dagegen.
    Mai: Nein, ich möchte, dass genau das in dieser Welt schon beginnt, dass es real wird. Kirche hat den Auftrag für die Welt, für die Zeit danach, für das Eschatologische, für das Paradies, für das Jenseits hier schon in dieser Welt zu wirken, aber mit Blick darauf. Und, wenn ich das wegnehme, dann beginne ich damit, dass ich mich selbst säkularisiere.
    Dann folge ich eben nicht mehr dem Heiligen Geist, sondern dem Zeitgeist. Und deswegen ist es wichtig, dass diese Dimension aufrechterhalten wird. Es geht darum, dass Kirche im Übrigen ihre Hauptaufgaben erledigt. Und die Hauptaufgaben sind sechs, aus meiner Sicht heraus, und zwar das ist Bibelkunde, das ist Gottesdienst, das ist Bildung, das ist Diakonie, das ist Seelsorge. Und …
    Main: Jetzt kommt der schwierigste Brocken – Mission.
    Mai: Deswegen sage ich es am Schluss auch: Mission. Denn, wenn Kirche alle anderen Aufgaben gut erfüllt, ist ein Teil der letzten Aufgabe Mission auch schon erfüllt. Wenn ich gute Bildungsarbeit leiste – und das machen kirchliche Einrichtungen auch. Meine Tochter geht auf ein evangelisches Gymnasium. Das ist eine großartige Bildungseinrichtung. Da gehen auch Kinder hin, die nicht konfessionell gebunden sind.
    Wenn Kirche also hier eine gute Bildungsarbeit macht, dann wirkt sie per se auch missionierend. Und, wenn Kirche auch die Seelsorge richtig betreibt, wirkt sie missionierend, wenn sie diakonisch vorbildlich arbeitet, wirkt sie auch missionierend. Deswegen ist das wichtig. Aber auf der anderen Seite haben wir auch die Aufgabe als Christen, die gute Botschaft in die Welt zu bringen. Und das dürfen wir uns nicht versagen aus Angst, wir könnten jemanden damit verprellen oder jemandem unangenehme Gefühle bereiten.
    "Nein, es läuft nicht alles schief"
    Main: Das heißt aber auch, wenn Sie jetzt so stark hervorheben, dass dieses Gymnasium, dieses evangelische, gut funktioniert und dort evangelische Kirche ihrem Auftrag aus Ihrer Sicht gerecht wird: Es läuft nicht alles schief in Ihrer Kirche?
    Mai: Nein, ganz und gar nicht. Es gibt großartige Pastoren, die ihre Arbeit machen, die im Gemeindedienst stehen. Es gibt hervorragende Bildungseinrichtungen. Es gibt hervorragende Diakonieeinrichtungen. Nein, es läuft nicht alles schief. Was ich sehe, ist nur, dass man sich auf diese Aufgaben konzentrieren muss. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es ist doch nicht gut, wenn wir die Ortsgemeinden so langsam auflösen, und wenn wir sie vergrößern.
    Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass die Basis, dass die Keimzelle der evangelischen Kirche die Ortsgemeinde ist. Die ist unter allen Umständen zu stärken. Hier brauchen wir im Übrigen auch mehr Pfarrer. Das bedeutet, dass der Pfarrerberuf aufgewertet werden muss, nicht nur in seiner Reputation, auch finanziell aufgewertet werden muss. Und genügend Geld ist da.
    Wenn ich auf der anderen Seite sehe, dass es so viele Einrichtungen gibt, wie beispielsweise die "Evangelische Akademie zu Berlin", die ihrem Auftrag schlichtweg nicht mehr gerecht wird. Oder, wenn ich sehe, dass es so viele Sonderpfarrerstellen gibt, dann weiß ich, es ist genügend Geld da und ich fände es wichtiger und richtig, das in den Gemeinden zu investieren.
    "Rechts-Links-Schema leistet schlechte Dienste"
    Main: Herr Mai, um es transparent zu machen, Ihre Position, auch auf der politischen Ebene, spiegelt vieles wider, was geschrieben und gedacht wird im "Cicero", dem Magazin für politische Kultur, auch in der Online-Zeitung und dem Monatsmagazin "Tichys Einblick". Sind Sie also so etwas wie ein Lautsprecher vom liberal-konservativen, einige würden sagen, rechten Rand? Oder ist Ihre Position in den Kirchen mehrheitsfähig?
    Mai: Ob meine Position mehrheitsfähig ist, weiß ich nicht. Ich habe keine Probe angestellt. Und mir geht es auch nicht um Mehrheitsfähigkeit. Meine Aufgabe als Intellektueller und als Schriftsteller ist es, Dinge zu benennen, in die Diskussion zu bringen. Ich bin kein Politiker, der sich zur Wahl stellt. Ich bin auch kein Theologe, der Bischof werden möchte, sondern ich will Diskussionsprozesse anregen. Das zum einen. Zum anderen – es gibt eine Rezension, das hat mir sehr gefallen, da hat jemand geschrieben: Die Positionen in dem Buch sind nicht allein konservativ, sie sind auch klassisch liberal und klassisch sozialdemokratisch. Gerade, wenn es darum geht, um Bildungspolitik oder Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und so weiter - was wir begreifen müssen, ist, dass wir in einem großen Umbruch sind. Das heißt, die Welt verändert sich.
    Die Vielzahl der Krisen, von Finanzkrise bis Flüchtlingskrise, sind ja nicht zufällig und sie sind ja nicht allein nur menschliches Versagen von Frau Merkel oder anderen, sondern sie sind auch ein objektiver Tatbestand, dass unsere Welt in einen großem Paradigmenwechsel geraten ist, wie er das letzte Mal vom Spätmittelalter zur Neuzeit und davor von der Spätantike zum Mittelalter stattgefunden hat, wo sich wesentliche gesellschaftliche Parameter und Mentalitäten auch ändern. Wenn man das einmal begriffen hat, dann kann man diese Veränderung, die wir jetzt haben, etwas historischer auch sehen.
    Deswegen ist mit einer Einordnung rechts oder links gar nichts mehr gesagt. Im Gegenteil, wir sind in einer Situation, wo wir versuchen, die Welt des 21. Jahrhunderts soziologisch mit dem Instrumentenkasten des 19. Jahrhunderts zu verstehen und zu bearbeiten. Das heißt, wir brauchen eigentlich noch ganz andere philosophische, soziologische Anstrengungen, um diese Veränderung in der Welt, in der wir sind, zu begreifen, wirklich zu begreifen und endlich auch mal abzukommen von dem berühmten Rechts-Links-Schema, was – wie ich finde – so ausgezeichnet schlechte Dienste leistet. Es führt dazu, dass Diskussionen nicht stattfinden, sondern dass man nur noch in Schubladen denkt und Schubladen benutzt. Das hilft uns aber nicht weiter. Es macht vielleicht ein ruhiges Gewissen, aber es hilft nicht in der Erkenntnis der Welt.
    Main: Und, weil der Riss in der Gesellschaft ist, wie Sie ihn eben skizziert haben, gehen Sie davon aus, dass die Kirchen Akteure sein könnten, die auf der Suche nach neuen Begrifflichkeiten, nach neuen Denkstrukturen Impulse setzen könnten, die bisher in der Debatte verlorengegangen sind?
    Mai: Na, vor allen Dingen habe ich die große Hoffnung, dass indem die Kirche sich nicht ins Handgemenge begibt, nicht in den Strauchkampf begibt, sondern beim Glauben bleibt und uns das Wesentliche immer wieder nahebringt, dass wir erlöst werden können, dass wir eine Perspektive haben als Menschen, wie Paulus auch sagt: "Tod, wo ist dein Stachel, Tod, wo ist dein Sieg?"
    Dass wir auf dieser Basis der Menschlichkeit, egal, was uns politisch und parteipolitisch trennen mag, immer wieder zusammenfinden können, dass Kirche Gewissheiten schafft, wenn alle Gewissheiten sich verflüchtigen, das ist meine große Hoffnung und das ist der Grund des Buches.
    "Nicht der böse Islamophobe oder der böse Gutmensch"
    Main: Also, eine Insel der Einheit zu schaffen, einen gemeinsamen Nenner, auf dem wir uns bewegen und trotzdem streiten können.
    Mai: Wir können uns streiten und wir dürfen aber nie vergessen, dass der andere nicht der böse Islamophobe oder der böse Gutmensch, sondern dass der andere ein Diskussionspartner ist und wir um die beste Möglichkeit ringen. Es ist letztendlich so – das hat schon Martin Luther gesagt: "Kein Bischof darf über einen Christenmenschen urteilen, es sei denn mit seiner Zustimmung." Und letztendlich, für Ämter in der Kirche zählen nicht Parteimitgliedschaften, sondern nur zwei Dinge – das Vertrauen der Gemeinde und der christliche Glaube. Und das sollte uns vereinen. Und das sollte auch das Wichtige sein. Und deswegen ist die Schrift gegen die Politisierung auch gerichtet, weil die ein spalterisches Element ist.
    "Christentum braucht Kirche"
    Main: Klaus-Rüdiger Mai, wir haben jetzt viel über Kirchen geredet. Hängen Sie die Bedeutung dieser Institution nicht vielleicht doch etwas hoch? Oder anders gefragt: Entfaltet Christentum seine Kraft nicht im einzelnen Menschen und weniger in sichtbarer Kirchengestalt?
    Mai: Beides gehört zusammen. Die sichtbare Kirchengestalt und der christliche Glaube, das christliche Fühlen im einzelnen Menschen. Denn Christentum, das ist doch auch das Schöne am Christentum, ist doch auch die Versammlung von Gläubigen. Wenn ich in den Gottesdienst gehe zu Ostern und wir singen zusammen Kirchenlieder, also nicht nur zu Ostern, aber Ostern haben wir dann besonders viel zu singen, deswegen sagte ich das. Und wir singen zusammen. Das hat ja der lutherische "Urkantor" Johannes Walter schon gesagt: "Wenn die Gemeinde singt, dann ist es so, als sei sie ein Stück der himmlischen Kantorei, als sei man schon halb im Himmelreich." Das heißt, hier findet doch eine Vergewisserung im Glauben statt.
    Ostergottesdienst in der evangelisch-lutherischen Marktirche Hannover
    Ostergottesdienst in der evangelisch-lutherischen Marktirche Hannover (picture alliance / Philipp von Ditfurth / dpa)
    Menschen sind Gemeinschaftswesen und Kirche ist die Gemeinschaft der Christen. Und deswegen finde ich dieses Gemeinschaftsleben wichtig. Und, wenn ich zweifle, und wenn ich auch nicht weiter weiß, dann finde ich in der Kirche, wenn es denn guter Gottesdienst ist und nicht Parteidienst ist, dann finde ich da Vergewisserung. Und ich habe einen Superintendenten, wenn ich zu ihm in die Predigt gehe, in seinen besten Predigten habe ich das Gefühl eines kathartischen Momentes, mal wieder einzustehen – und er redet nicht über Politik –, mal wieder einzustehen – sondern über das Leben und den Glauben –, mal wieder einzustehen und darüber nachzudenken: Sind deine Positionen richtig? Hast du dich da richtig verhalten? Und das ist eine ganz große Chance, die Kirche hat. Und deswegen ist für mich Kirche auch so wichtig.
    Ich glaube nicht, dass ich die Rolle der Kirche da übertreibe. Es hat noch einen anderen Grund, einen historischen. Die enormen Erfolge, die wir in Europa haben, diese große Entwicklungen, wirtschaftlich, kulturell, zivilisatorisch, sind auch Resultat der Kirche. Die Kirche hat Europa verrechtlicht. Sie hat letztendlich die ersten Bildungsinstitutionen geschaffen. Die Aufklärung kommt aus dem Christentum. Und, wenn man das alles weiß, weiß man, wie wichtig, wie essenziell wichtig für unsere Welt das Christentum ist. Und Christentum ist Inhalt, aber auch Form. Und deswegen braucht Christentum auch Kirche.
    "Sie haben die Politisierung nicht ertragen"
    Main: Ja, nun ist es aber so, Sie zitieren ja selbst diese Umfragen, dass offensichtlich Christen nicht mehr massiv in die Sonntagsgottesdienste strömen, das Christentum aber durchaus beliebt ist – so die Umfragen. Also, was wollen Sie mehr?
    Mai: Ich möchte, dass Kirchenleitung dieser Verantwortung entspricht. Nur dann kann man Kirche auch ernstnehmen und dann entsteht auch wieder eine neue Neugier auf Kirche. Ich habe ja so viele Zuschriften auch bekommen von Leuten, die sagen, ja, wir sind aus der Kirche ausgetreten, weil wir haben das und das nicht mehr ertragen. Und ich habe dann auch immer geantwortet: "Es wäre besser, ihr wäret geblieben und hättet dafür auch eure Stimme erhoben, dass es so ist."
    Main: Was haben die nicht ertragen?
    Mai: Sie haben die Politisierung nicht ertragen. Sie haben nicht ertragen, dass sie Dinge in der Welt anders sehen und von ihren Kirchenleitungen belehrt werden, dass sie damit schlimme Dinge denken. Ich kann das an einem ganz unpolitischen Beispiel festmachen. In Hamburg gab es einen Volksentscheid darüber, ob die Daseinsvorsorge, also Gas, Wasser, Strom wieder zurückgekauft wird vom Privatinvestor, von der Stadt. Die Kirche hat diese Initiative, diese Volksinitiative reichlich bezuschusst, und zwar dafür, dass sie zurückgekauft wird. So, nun gibt es ja verschiedene Ansichten. Ich hätte in dem Volksentscheid dafür entschieden, dass die Stadt das zurückkauft. Ein lieber Freund von mir sagt, nein, er ist völlig dagegen. Aber er ist auch aus der Kirche ausgetreten, weil er gesagt hat: 'Ich zahle Kirchensteuer dafür, dass die Kirche etwas finanziert auf politischer Ebene, was nicht meiner Anschauung entspricht.' Und es ist keine Frage des Glaubens, ob die Daseinsvorsorge zurückgekauft wird oder nicht.
    Und das sind Dinge, die Menschen aber stören. Und deswegen wäre eine Hinneigung zu einem authentischen Glauben wichtig. Und lassen Sie mich das an dieser Stelle auch sagen, es mag so etwas wie nachgekartet klingen, aber es ist in der Tat so. Es ist ein verheerendes Symbol, wenn ein Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche auf dem Tempelberg das Kreuz ablegt. Das empfinden Menschen dann nicht mehr als authentisch, zumal es ein Bild gibt – drei, vier Jahre zuvor –, an der gleichen Stelle steht ein Papst Benedikt mit dem leuchtenden Kreuz. Es war also keine Notwendigkeit. Da muss Kirche authentisch sein und zur Trinität und zum Glauben stehen und nicht sagen: "Na ja, jetzt verstecke ich mal mein Kreuz, und jetzt stehe ich doch nicht dazu." Das ist das, was Menschen aufregt, weil sie Glauben suchen. Und Glauben überzeugt nur dann, wenn er authentisch ist.
    Main: Klaus-Rüdiger Mai war das, Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur, der in der Nähe von Berlin lebt. Danke, Herr Mai, dass Sie sich gestellt haben einem Gespräch über Ihre Streitschrift "Geht der Kirche der Glaube aus?". Das Buch ist im Übrigen in einem durch und durch evangelischen Verlag erschienen, in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. 184 Seiten kosten 15 Euro. Klaus-Rüdiger Mai, danke für das Gespräch.
    Mai: Herzlichen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.