Jürgen Liminski: Bei einem herausragenden Intellektuellen wie Günter Grass stellt sich die Frage: Kann so eine Gestalt überhaupt apolitisch sein? Muss sie nicht in das gesellschaftliche Geschehen mit dem Wort eingreifen, um es in Richtung der großen Themen wie Gerechtigkeit zu lenken?
Klaus Staeck: Das denke ich schon. Und die da immer Kritik daran geübt haben, die wollen ja generell nicht, dass die Künstler in irgendeiner Form sich mit der Politik einlassen, um es mal so auszudrücken.
Liminski: Stichwort "Gruppe 47". Schon früh hat sich Grass engagiert, allein und mit anderen. Hat er denn mit seinem Renommee auch politisch etwas erreicht?
Staeck: Na ja, er hat erreicht, mit anderen übrigens, in einem Nachkriegsdeutschland, was ja nicht gerade von Patrioten und von Widerstandskämpfern überfüllt war, hat er unsere Demokratie, auf die wir stolz sind und die wir heute leben, tatsächlich erst mal lebenswert gemacht, mit Heinrich Böll, mit Eugen Kogon, mit Walter Dirks und wie sie alle heißen, mit Gräfin Dönhoff. Das war ja nicht selbstverständlich. Und wenn man das als Wirkung nehmen will, dann hat er, immer mit anderen zusammen, sehr viel erreicht, dass überhaupt, ja, die Menschen an die Politik herangeführt wurden.
Liminski: Hat er auch etwas im Sinne der Gerechtigkeit erreicht?
Staeck: Na ja, Gerechtigkeit - das sage ich auch als Jurist - ist ja immer eine schöne Vorstellung und ein Näherungswert. Die totale Gerechtigkeit wird es nie geben. Aber er hat zumindest auf die Probleme aufmerksam gemacht, die Ungerechtigkeit auslösen, die zur Ungerechtigkeit führen. Das ist sein Verdienst. Was können denn Künstler? Sie können Geschichten erzählen, sie können Bilder machen und sie können das, was wir so schön "Aufklärung" nennen, ja, vorantreiben im Sinne von einem bürgerlichen Gemeinsinn, den wir immer so gern zitieren, wenn es um die sogenannte Zivilgesellschaft geht.
Liminski: Grass galt auch als Moralist und sein Eingeständnis, als junger Mensch in der Waffen-SS gedient zu haben, hat wohl viele Weggefährten erschüttert, Sie vielleicht auch. Er selber sah das als Jugendsünde. Wie ordnen Sie das ein?
Staeck: Na ja, das hat mich natürlich auch irritiert, so spät als Freund davon erfahren zu haben. Das ist richtig. Aber er wird seine Gründe gehabt haben und ich habe mich manchmal gefragt, was wäre, wenn er das eher gesagt hätte? Wäre dann ein Teil seiner Wirksamkeit möglicherweise verloren gegangen und wie verantwortlich ist man mit 17? Wir haben eine ganze Veranstaltung in der Akademie mal dazu gemacht, zu dem Thema, und da gab es dann doch sehr verschiedene Auffassungen, auch wie weit man verantwortlich ist. Aber niemand ist ohne irgendwie eine Schwachstelle im Leben. Das wäre ja ein wunderbarer Mensch, der ganz ohne Tadel ist.
Liminski: Eines seiner späteren Themen, Herr Staeck, war die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ist das ein großes, bleibendes Thema auch über den Tod hinaus?
Staeck: Das ist ein Thema und das wird größer werden. Denken Sie nur an die TTIP-Verhandlungen in Sachen Freihandel. Da kommt schon auf Europa, auf Deutschland etwas zu, was ich nicht unterstützen kann und ich mich dagegen auch wehre. Ich will keine Schiedsgerichte hier neben unseren öffentlichen Gerichten haben und ich möchte auch unsere Kultur, die auch ja Grass wesentlich mit geformt hat, ich möchte sie so erhalten wissen, wie sie bei uns nun mal auch gewachsen ist. Wir haben ein anderes System der Kulturförderung als die Amerikaner - und ich bin stolz darauf - und brauchen das auch für die Vielfalt der Kultur und damit auch der Demokratie.
Liminski: Was würden Sie als das Vermächtnis des Schriftstellers Günter Grass bezeichnen?
Staeck: Das sind immer große Worte, aber jedenfalls für mich war er ein streitbarer Demokrat. Ein streitbarer Demokrat, der die öffentlichen Belange zu seinen eigenen gemacht hat und sich entsprechend dann auch eingemischt hat, ob das nun den anderen immer gefiel oder nicht. Er hat viel auch Schelte erleben müssen, er ist auch oft beschimpft worden dafür, dass er sich einmischt, weil viele Menschen ja auch die Kunst da möglichst rein halten wollen und gegebenenfalls übel nehmen, wenn Kunst und Politik sich so begegnen, wie es im Werk und vor allen Dingen in den Aktivitäten von Günter Grass geschehen ist.
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