Komplexität denken
Kleine, alarmierte Geschichte des Feuilletons

Das Feuilleton in der Zeitung ist wie das Gewürzregal im Supermarkt. Man braucht es selten wirklich, aber wenn es nicht da ist, fehlt Entscheidendes. Ob gedruckt, digital oder im Radio, es ist und bleibt eine kapriziöse Anleitung zum Selberdenken.

Von Hans von Trotha |
Verschiedene Zeitungen und Zeitschriften stehen hochkant nebeneinander.
Das Feuilleton bietet als Zeitungsbuch und Stimme, als kommunikative Praxis, die eigens herausgebildete Kulturtechniken probt, einen zusätzlichen, anderen, sehenden Auges und willentlich komplexeren Blick auf die Welt (IMAGO / Steinach / IMAGO / Sascha Steinach)
Ob Deutschland sich als gespalten darstelle, so Bundeskanzler Scholz in einer Regierungserklärung, sei „keine Frage für irgendein Feuilleton“. Offenbar assoziieren seine Redenschreiber den Begriff mit wenig relevanten schöngeistigen Kommentaren. Entstanden in den ersten hochauflagigen Journalen nach 1800, war das Feuilleton nicht nur publikationstechnisch, sondern auch gedanklich ein von den politischen Berichten getrennter Raum, zeitweise Schauplatz fundamentaler Debatten – in der Weimarer Republik zum Beispiel oder in der jungen Bundesrepublik. 
Verschwindet da zusammen mit den gedruckten Feuilletons schleichend eine Form der Analyse diesseits der Wissenschaft und jenseits der Meldungen? Was ginge damit verloren? Zumindest der Wille und die Fähigkeit, Dinge komplexer zu sehen, als sie zunächst erscheinen – und damit das vielleicht wichtigste und womöglich effektivste Mittel, Populismus welcher Art auch immer zu begegnen. Eine Geschichte des Feuilletons als Plädoyer für dessen Zukunft.
Hans von Trotha hat mit einer Arbeit über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Philosophie und Gartenkunst im 18. Jahrhundert promoviert. Zehn Jahre hat er einen Verlag geleitet, zehn Jahre die Berlinale beraten. Heute lebt er als freier Publizist in Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Im Garten der Romantik (Berenberg) und zuletzt der Roman Pollaks Arm (Wagenbach) sowie die Essays Die große Illusion (über den Neubau des Berliner Schlosses, Berenberg) und Der französische Garten rund um Paris (Wagenbach).

Gibt es effiziente Mittel, dem zu begegnen? Vielleicht. Vielleicht liegen sie näher, als wir denken. Vielleicht müssen wir uns ihrer nur dezidierter bewusst sein, sie anders einsetzen und den Gegebenheiten der Gegenwart effektiver anpassen. Gemeint ist ein Kommunikationsraum, in dem es auch mal komplizierter zugehen darf, ohne dass das Publikum, im konkreten Fall vor allem ein Lesepublikum, außer Acht gelassen wird, in dem vergleichsweise populär, zumindest für ein breiteres Publikum ein Denken geprobt wird, das tendenziell auf komplexen Analysen beruht. Gemeint ist das Feuilleton. – Ausgerechnet?
Manchmal ist es der Blick in die Geschichte einer Institution, der deren Potenzial erst freilegt, verschüttet unter den Gepflogenheiten der jeweiligen Gegenwart. Und Potenzial bedeutet immer Verantwortung – gerade in Zeiten, in denen nicht nur liebgewordene Komfortzonen, sondern auch grundlegende gesellschaftliche Werte und Gepflogenheiten bedroht sind.
In einer seiner späten Regierungserklärungen verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz: Ob Deutschland sich als gespalten darstelle, sei, Zitat: „keine Frage für irgendein Feuilleton“.
Offenbar assoziiert man im Kanzleramt den Begriff mit wenig relevanten schöngeistigen Kommentaren zu im Grunde wichtigen Fragen – wie der, ob Deutschland sich als gespalten darstellt. Aber mal ehrlich: Würde man die Frage ernsthaft stellen – wen würde man fragen: Olaf Scholz oder nicht doch eher irgendein Feuilleton?
Es ist eine Frage, wie sie an den Kern dessen rührt, was Feuilleton ist, seit es als solches erfunden wurde – eine Instanz neben, zeitungsproduktionstechnisch hinter der Berichterstattung über die Politik und deren Kommentierung. In der Zeitung heißen die Lagen Bücher. Neben der Politik, der Wirtschaft und dem Sport trägt ein Buch in den meisten deutschen Tageszeitungen traditionell den Titel Feuilleton – mit wenigen Ausnahmen, da heißt es Kultur. Und da liegt womöglich schon das erste Missverständnis, dasselbe, dem man auch im Kanzleramt aufzusitzen scheint: Zwar gehört die Kulturberichterstattung traditionell auch zu den Aufgaben des Feuilletons, es erschöpft sich aber keineswegs darin, auch in jenen Zeitungen nicht, in denen es unter Kultur läuft. Vielmehr bietet das Feuilleton als Zeitungsbuch und Stimme, als kommunikative Praxis, die eigens herausgebildete Kulturtechniken probt, einen zusätzlichen, anderen, sehenden Auges und willentlich komplexeren Blick auf die Welt. Genau das macht es zum Ort für Antworten auf populistische Setzungen.
Nicht nur die Lage verändert sich in dieser Welt – sie scheint immer volatiler, instabiler, unberechenbarer zu werden –, auch die Geschwindigkeit, in der wir über elektronische Medien und deren Vernetzung mit einzelnen Nachrichten darüber konfrontiert werden. Diese objektive Überforderung befeuert das Bedürfnis nach einfachen Antworten. Das ist nachvollziehbar. Umso wichtiger ist es, Orte zu identifizieren, an denen unterschiedliche Perspektiven auf ein Phänomen angewandt und Zusammenhänge hergestellt werden, die vielleicht nicht gleich auf der Hand liegen, und zwar auch diesseits der Wissenschaft, die das ihrem Wesen nach betreibt, in der Regel aber vor sehr begrenztem Publikum. Gemeint sind Orte methodischen Hinterfragens, frei nach dem Motto des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!“
Man kann Lessing mit viel gutem Willen als einen der Gründerväter des deutschen Feuilletons bezeichnen. Denn sowohl inhaltlich, als komplexe Analyse gesellschaftlicher Phänomene, als auch mediengeschichtlich gründet das Feuilleton in der Institutionalisierung der Kritik im Zuge der Aufklärung. Etabliert als neuer Bestandteil der ersten hochauflagigen Journale nach 1800 als publikationstechnisch und gedanklich von den politischen Berichten getrennter Raum, war das Feuilleton tatsächlich zunächst für eine Art Kulturberichterstattung reserviert, für Kunst-, insbesondere Theaterbesprechungen – allerdings in einer Zeit, in der die fundamentale Bedeutung des Begriffs Kritik aus der Hochzeit der Aufklärung noch nachhallte und die entscheidenden gesellschaftlichen Debatten öffentlich in den Künsten, namentlich in der Literatur und da insbesondere auf dem Theater angestoßen und ausgetragen wurden. Und so war der neu geschaffene Resonanzraum Feuilleton immer auch Ort gedanklicher Analysen und Experimente, die weit über dokumentierte Kunstereignisse hinausgingen. Bisweilen wurde das Feuilleton zentraler Schauplatz fundamentaler Debatten – in der Weimarer Republik etwa oder in der jungen Bundesrepublik, aber auch noch einmal in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Daran müssen wir uns erinnern. Denn es zeigt das Potenzial der Institution Feuilleton.
Man kann den Geist, die Entwicklung und den zeitweisen Einfluss des Feuilletons als Teil der Zeitung, Textsorte und gedankliche Haltung nur aus der Geschichte der Kritik heraus verstehen, einer Kunstkritik, die immer auch Gesellschaftskritik war. Die Karriere des Begriffs Kritik sowie die Karriere der damit bezeichneten gedanklichen Operation beginnt mit dem Einsetzen der europäischen Aufklärung. Es hatte keiner Kritik bedurft, solange Metaphysik und Kunst, Religion und Gesellschaftsbild ein unhinterfragtes Ganzes bildeten. Wo jedes seinen Platz hat, muss auch Kunst nicht nachträglich eingeordnet werden. Einer Kritik bedarf es erst, als im Zuge eines weltanschaulichen Umbruchs die traditionelle Regelästhetik, die vorgab, wie Kunst funktioniert, von einer im weitesten Sinn psychologischen Ästhetik abgelöst wird, die von der Wirkung eines Kunstwerks ausgeht, deren Qualitäten nur nachträglich beschreiben werden können. Das setzt das enorme kritische Räderwerk der Aufklärung in Gang, eines der kreativsten, umfassendsten und folgenreichsten Projekte in der Geschichte der abendländischen Philosophie, das nebenbei auch zur Gründung des Feuilletons führen wird.
Der Gebrauch des Begriffs Kritik setzt sich um Verlauf des 17. Jahrhunderts durch, nach Reinhart Koselleck „als Bezeichnung der sachgerechten Beurteilung, die sich besonders auf antike Texte, aber auch auf die Literatur- und Kunstwerke, sowie auf Volk und Menschen bezog“ – also auf die Gesellschaft als Ganzes. Koselleck erklärt die Entstehung einer institutionalisierten Kritik als Reaktion auf eine fundamentale Krisenerfahrung in der Folge einer Revolutionierung des bis dahin bekannten Bildes von der Welt durch die Aufklärung. Auch das Vertrauen in die Kunst als objektivem Abbild eines umfassenden Zusammenhangs wird in diesem Zuge durch eine andere, subjektive Erfahrung von Kunst abgelöst. Konstanz und Sicherheit sind nicht mehr offensichtlich. Ersatz zu schaffen, wird Aufgabe der Kritik.
Die hatte, da es sie bis dahin gar nicht gegeben hatte, keine Medien, um sich zu entfalten. Die entstehen mit ihr, zum Beispiel die moralischen Wochenschriften, allen voran The Tatler, The Guardian und The Spectator in England. Sie wurden zum Katalysator der Aufklärung, versammelten Texte zu Sitten und Gebräuchen, gesellschaftlichen Fragen und zu den in den Kaffeehäusern verhandelten Themen, diesen neuen Diskursräumen einer im Entstehen begriffenen bürgerlichen Öffentlichkeit. Das Genre der Wahl war der Essay, die vergleichsweise freie, unterschiedliche Aspekte und Sichtweisen miteinander verwebende gedankliche Analyse welches Phänomens auch immer. Der Essay scheut die einfache Antwort strukturell. Versuch, englisch: essay, französisch essaï, eine Textsorte, die Michel de Montaigne im Zuge der Renaissance zum philosophischen Instrument schärfte, und die nun als publizistisches, nämlich öffentlichkeitswirksames und Öffentlichkeit schaffendes Mittel des Diskurses einen gesellschaftlich besonders relevanten Zweig der Mediengeschichte in Gang setzt. John Dennis, der als erster Literaturkritiker gehandelt wird, hatte es um 1700 als Aufgabe der Kritik bezeichnet, „die durch den Sündenfall verwüstete menschliche Natur wiederherzustellen, indem die Ordnung wiederhergestellt“ würde. Die Wiederherstellung der Ordnung ist also die Aufgabe der Kritik. Es ist eine Ordnung zweiter Hand, aber immerhin wieder eine Ordnung in einer Welt, die sonst in Individualismus und Vereinzelung zerfallen würde.
Schon hier ist, um kurz nach vorn zu spulen, zu erkennen, welche Verantwortung den Feuilletons und allen Medien zufällt, die feuilletonistisches und essayistisches Nachdenken im Windschatten der Kritik propagieren.
John Dennis sah in der Kritik also ein Mittel, die verloren gegangene Ordnung wieder herzustellen. Die Frage nach der Ordnung ist traditionell die metaphysische Frage. Einer kritischen Praxis stellt sich aber zunächst die ästhetische Frage, kurz: Was ist schön? Und die ist nach dem Übergang von der Regelästhetik zur Wirkungsästhetik genauso schwer zu beantworten.
Seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts gilt im Prinzip der Grundsatz: Schön ist, was ich schön finde. Kritik hat unter diesen Bedingungen die Aufgabe, dem potentiell unendlich vielstimmigen Chor derer, die sagen Das finde ich schön, eine Partitur unterzuschieben. Das soll durch die Institutionalisierung der Kategorie des Geschmacks gelingen. Die regelpoetische Fiktion, dass aller Kunst eine gemeinsame Architektonik zugrunde liege, wird von der anthropologischen Fiktion abgelöst, dass aller Kunstrezeption ein gemeinsamer Geschmack zugrunde liege. Vor dem Kunstwerk sind alle Menschen gleich. Der Geschmack wird zur ästhetischen Leitinstanz, die für diesen Satz bürgen soll.
Kritik hat zunächst also die Aufgabe, Gesetze der Kunst und Gesetze eines allgemeinen Geschmacks gleichzeitig zu formulieren. Da dieser Geschmack aber nicht recht nachzuweisen ist, wird seine Evidenz umso energischer behauptet, etwa durch die Berufung auf alle Leserinnen und Leser, „die ein menschliches Herz haben“. Das ist im Grunde eine argumentative Bankrotterklärung (die dem Feuilleton als Makel und Problem immer anhaften wird).
Obwohl sie also systematisch auf denkbar schwachen Beinen steht, wird die Kritik als Heilsbringerin gefeiert. Voltaire etwa, dessen Werk keinem System folgt, sondern konsequent die kritische Methode anwendet, erklärt die Kritik zur zehnten Muse, die endlich den Unsinn aus der Welt vertreiben werde. Kritik wird zu dem Instrument der entscheidenden Instanz, die über dem Versuch schwebt, das 18. Jahrhundert aufzuklären: der Vernunft.
Die Kunstkritik der ersten Generation kommentiert Kunst nicht nur, sie will sie beeinflussen. Kritik versteht sich als Instanz, die für eine bessere Kunst in einer besseren Welt verantwortlich ist, also für die Zukunft; so wie auch die damalige Geschichtsschreibung Entwicklungen der Zukunft zum Gegenstand hat, nicht die Vergangenheit. Der aus der Biologie stammende Begriff Entwicklung ist dabei zentral. Hier hat auch die Hegelsche Geschichtsphilosophie ihre Wurzeln, die im Dreischritt von These, Antithese und Synthese der Dynamik der Entwicklung einen beschreibbaren Mechanismus unterschiebt und damit unterderhand auch die Grundmechanik einer essayistischen Publizistik formuliert, die Argumentationsform des Komplexen im Gegensatz zu schlicht verkündeten Wahrheiten von Thronen und Altären (oder den Rednerpulten von Populistinnen und Populisten).
Um 1800 dann glauben die jungen Leute nicht mehr daran, dass sich ästhetische Normen verbindlich herleiten lassen. Die Romantikerinnen und Romantiker lehnen die Grundlagen der Aufklärung ab, einschließlich der Institution des Geschmacks und aller Versuche, ihm eine Logik unterzuschieben. Ihr Konzept von Kunst und Kritik wird kryptisch. Die Wirkung eines Kunstwerks interessiert sie nicht. Romantische Kunsttheorie und Kritik stehen mit dem Rücken zum Publikum wie die Menschen auf den Bildern von Caspar David Friedrich. Wirkungsanalyse wird durch das Programm ersetzt, das Kunstwerk als etwas Objektives zu etablieren, unabhängig von seiner Wahrnehmung. Insofern ist das Desinteresse am Publikum nicht nur arrogant, sondern auch theoretisch konsequent. Das kritische Programm lautet jetzt: Ergänzung und Vollendung von Kunst durch Kritik. Dabei verschwimmt die Grenze. „Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, … hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst“, verkündet Friedrich Schlegel. Er gilt im deutschsprachigen Raum als erster Meister der zukunftsweisenden publizistischen Form des kritischen Essays. Um diesem einen Raum zu schaffen, bringt auch die Romantik ihre Medien hervor, das bedeutendste unter ihnen die Zeitschrift Das Athenäum.
Doch das kryptische Kunstkonzept hält nicht lang. Kunst und Kritik werden bald wieder publikumsbezogener. Die Sorge der Kritik gilt allerdings nicht mehr einem idealistischen Kunstideal, schon gar nicht der metaphysischen Ordnung, Kritik wendet sich der gesellschaftlichen Ordnung zu. Das hat mit den politischen Verhältnissen zu tun. Der Aufstieg Napoleons und die Niederlage Preußens in Jena entflammen einen glühenden Patriotismus, der sich gegen die Ideen der Französischen Revolution und auch gegen den mit den deutschen Klassikern verbundenen Humanitäts- und Vernunftglauben richtet. Der Wendung zur Politik folgt eine Unterordnung der Künste unter einen sozialen Zweck, die Ablehnung jeder spekulativen Ästhetik.
Einer der wichtigsten Kritiker und Theoretiker jener Zeit war Ludolf Wienbarg. Er verstand sich als „Vorschwimmer“ im Strom der Zeit, der formuliert, was die Menschen beschäftigt, „nicht mehr wie vormals allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes“. Ludolf Wienbarg fragt: „Was … unterscheidet uns und unsere Zeit von solchen Menschen und Zeiten, die sich einer gemeinsamen Weltanschauung zu rühmen haben?“ Und antwortet: „der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit, und daher der Mangel an Wahrheit.“  Das Problem – unser Problem – war also schon im 19. Jahrhundert identifiziert.
Die Wendung der Künste zur Politik führt dazu, dass sich die Politik für die Künste interessiert. Wienbarg und Karl Gutzkow wird verboten, den Schritt zu tun, den jede Generation bislang getan hatte: eine Zeitschrift zu gründen. Sie hätte „Deutsche Revue“ heißen sollen. Taktgeber ist nicht mehr London, sondern Paris.
Nach 1848 lässt das politische Engagement nach. Geschrieben wird jetzt weniger mit Blick auf die Kunst als fürs Publikum. Zwischen 1850 und 1870 weicht der Typus des freien Publizisten (das Feld ist noch weitgehend männlich dominiert) dem des angestellten Journalisten im Dienst einer Redaktion, eines Blatts, eines Eigentümers. Rezensionen und Essays der Nachmärzzeit sind oft nicht mit Namen gekennzeichnet. Das soll das Interesse auf den Gegenstand lenken. „Die Kritik“, schreibt der Kritiker Julian Schmidt 1851, „schließt das Urtheil nicht ab, sondern sie regt nur durch die Hervorhebung des Charakteristischen und durch das Verhältniss, in welches sie dasselbe zu ihren Principien stellt, das Nachdenken … an“. Darüber hinaus versteht sich Kunstkritik als Ort der Formulierung einer neuen Kunsttheorie. Es ist die Realismustheorie, die so vor allem in den Zeitschriften entwickelt wird. Während dieses wichtigste Medium einer Kunstkritik einen enormen Aufschwung erlebt, verschiebt sich deren Stellenwert innerhalb des Mediums. Man geht dazu über, Kritiken, vor allem Theaterkritiken, im unteren Drittel der Zeitungsseite, getrennt vom Nachrichtenteil, zu setzen – „unter dem Strich“, wie es heißt. Schon seit Ende 1789 erscheint im revolutionären Paris das populäre Journal des Débats mit einem Beiblatt für Theaterkritiken – das erste Feuilleton.
Hatten Autoren und immer wieder auch Autorinnen von Essays und Rezensionen bislang stets ihre Medien geschaffen, werden sie jetzt abhängig von den Medien, die sie in Lohn und Brot nehmen. Das hat Auswirkungen auf die Auswahl des Kommentierten, auf die Form, die Länge und auf den Inhalt der Texte, nicht zuletzt auf deren politische Ausrichtung. Die überregionale politische Presse verdrängt die Lokalzeitungen und übernimmt jetzt auch die Kulturberichterstattung. In Berlin entsteht eine Presse, die den Anschluss an London und Paris findet, um 1870. Damit sind neue Aufgaben für die Feuilletons verbunden. Es geht darum, ein desinteressiertes, heterogenes Massenpublikum zu unterhalten und damit an ein Blatt zu binden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es mehr oder weniger hauptberufliche Kritiker, Rezensenten und Feuilletonisten. Es sind jetzt spezialisierte Journalisten. Allein in Berlin erscheinen in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts um die 20 Tageszeitungen. Die bedeutendsten Feuilletons kommen allerdings nicht aus der Hauptstadt, es sind die der Frankfurter Zeitung und der Münchner neuesten Nachrichten – Vorgängerinnen der beiden heute noch renommierten Feuilletons aus Frankfurt und München, wobei sich die politische Orientierung nach dem Krieg umgekehrt hat.
Der Druck der Medien auf Form und Inhalte nimmt zu. Die Feuilletons reagieren. Das neue Zeitungswesen verlangt Kürze, Schnelligkeit und Aktualität. Hans Mayer hat es auf die Formel gebracht: „Hastige Mitteilungen für hastige Leser“. Und sehr viele Leserinnen, wäre hinzuzufügen. Wir nähern uns einer Gegenwart, die vielleicht schon länger andauert, als uns bewusst ist, die nicht erst vernetzter elektronischer Medien bedurfte, um zu entstehen – wobei diese die Entwicklung exponentiell vorangetrieben haben.
Die Frage nach der Legitimation der Kritik als Instanz und damit die nach der Bedeutung des Feuilletons kennt jetzt nur noch eine Antwort: die Autorität von Autorin oder Autor. Das befördert neben den hastigen Mitteilungen große literarisch‑feuilletonistische Formen. Der analytische Feuilleton-Essay lebt wieder auf. Joseph Roth, ein Meister des Genres, befand: „Bei der Frankfurter Zeitung schreibt man nicht für die Leser, sondern für die Nachwelt.“
Die Vielfalt der Zeitungslandschaft, das Selbstbewusstsein von der Last ästhetischer Debatten befreiter kritischer Stimmen und die vom neuen Feuilletonwesen erzwungene Kürze eröffnen eine Arena, in der sich Persönlichkeiten entfalten können – spritzig, pointiert und leidenschaftlich. – „Entweder du liest eine Frau, oder du umarmst ein Buch“, fasst es Kurt Tucholsky zusammen. „Der Beifall war endenwollend“, ätzt der Theaterkritiker Friedrich Torberg. Das suggestiv behauptete Urteil zählt – eine moderne Version der Evidenzbehauptung der Aufklärung. Und auch diese Kritik will etwas bewirken. Alfred Kerr schreibt: „Kritik ist Widerstand. Kritik ist Zurechtrenken. … Das Kunstwerk ist fast immer ein Vorwand für den Kampf um eine kühne vernünftigere Menschenordnung.“
„Ich untersage mit dem heutigen Tage endgültig die Weiterführung der Kunstkritik in der bisherigen Form“, so Joseph Goebbels am 26. November 1936. Seine Parole gegen die von ihm so genannten „Meckerer und Kritikaster“, von denen viele Juden waren, lautet: „Kunstbetrachtung“ statt Bewertung.
Das wirkt nach, auch nach dem Krieg, zumindest in westdeutschen Zeitungen. Da macht sich Anfang der fünfziger Jahre ein Feuilleton breit, das sich als Raum des Metaphysischen, Zeitenthobenen, vermeintlich Unpolitischen versteht. 1951 schreibt Albrecht Fabri im Merkur: jedes Kunstwerk sei aus sich selbst heraus zu verstehen, gegen „echte Kunst“ gebe es keine „ideologischen“, nur „ästhetische Einwände“. Noch hat das Feuilleton nicht zurückgefunden zu seiner gesellschaftlichen Schlagkraft. Aber dabei bleibt es nicht. Parallel zur politischen Debatte, bald auch als einer ihrer Schauplätze entwickelt sich in der Bundesrepublik ein politisches Feuilleton. Intellektuelle, und das sind Autorinnen und Autoren eines neuen Feuilletons in exponierter Weise, reklamieren wieder gesellschaftliche Verantwortung.
Wie schon einmal in den Zwanzigerjahren werden die Feuilletons westdeutscher Nachkriegszeitungen zum Faktor der Leserinnen- und Leserbindung, einer intellektuellen Identifikation, die bis zu einem gewissen Grad auch mit einer weltanschaulichen Verortung einhergehen kann: hier das Lager eines eher dynamisch kritischen, dort das eines eher bewahrend konservativen Feuilletons. Ersteres verkörpert seinerzeit namentlich das der Süddeutschen Zeitung, Letzteres das der FAZ. Diese – moderate, aber identifizierbare – Lagerbildung hatte Konsequenzen: Nicht nur die Leserschaft blieb ihren Blättern nicht zuletzt deswegen treu, auch Autorinnen und Autoren. Dieser feuilletonistische Equilibrismus war eine gute Basis für Debatten. Die folgenreichste war der sogenannte Historikerstreit, ausgelöst 1986 durch einen Text des konservativen Historikers Ernst Nolte zur deutschen Erinnerungskultur im Feuilleton der FAZ. Es wurde eine der fundamentalen Debatten über Identität und Selbstbewusstsein der Bundesrepublik. Sie begann damit, dass Nolte seine Thesen nicht auf wissenschaftliche Vorlesungen beschränkte, sondern die gekürzte Version eines nicht gehaltenen Vortrags mit dem Titel Vergangenheit, die nicht vergehen will im Feuilleton platzierte und damit in einen sehr viel größeren Resonanzraum stellte, in dem nicht wissenschaftliche, sondern publizistische Regeln galten. Die Folgen der Debatte reichen bis in unsere Tage.
Die Feuilleton-Resonanzraum-Architektur der alten Bunderepublik hielt bis zum Mauerfall. Das Ende dieser moderaten Lagerbildung lässt sich im Rückblick konkret beobachten. Es fand im Feuilleton der Berliner Zeitung statt.
Nach dem Mauerfall verkaufte die PDS, Nachfolgeorganisation der Staatspartei SED die Berliner Zeitung an den Verlag Gruner + Jahr, der das Blatt mit journalistischem Ehrgeiz und unter Einsatz von viel Geld zur führenden Hauptstadtzeitung entwickeln wollte – anknüpfend an die Tradition der Zwanzigerjahre. Wie damals, sollte das Feuilleton für die Bindung einer neu, auch im Westen zu gewinnenden Leserschaft eine Rolle spielen. Die Kombination aus Aufbruchstimmung und finanziellen Ressourcen führte zu einem Aufblühen des Feuilletons der Zeitung, zumal sich bekannte Feuilletonstimmen aus beiden Lagern abwerben ließen. Das Experiment ging aber nicht wirklich auf, und die prominenten Feuilletonistinnen und Feuilletonisten wanderten wieder ab – jetzt ohne Rücksicht auf frühere Arbeitsplätze und damit möglicherweise verbundene weltanschauliche Konnotationen. Dieses durchaus auch produktive antagonistische Element fehlt den deutschen Feuilletons seitdem.
Gegen eine allmählich drohende Bedeutungslosigkeit bäumte sich das Feuilleton immer wieder auf, während der Neunziger Jahre etwa das der FAZ unter Mitherausgeber Frank Schirrmacher. Der propagierte ausdrücklich ein Debattenfeuilleton – offenbar, um eine als solche empfundene Lücke zu füllen, und er beförderte eine weitergehende Öffnung des Feuilletons für die Wissenschaft.
Vor allem aber hatte sich das Feuilleton der digitalen Medienrevolution zu stellen, die ihrerseits permanent Gegenstand zum Teil brillanter feuilletonistischer Analysen war und ist. Selbst hat das Feuilleton jenseits der Reproduktion der gedruckten Inhalte allerdings im digitalen Resonanzraum bisher keinen wirklichen Ort gefunden. Und Feuilleton ist immer so abhängig gewesen von den Medien, die es verbreiteten, dass diese schlichte Übertragung vom einen publizistischen Aggregatzustand in den anderen nicht wirklich funktioniert.
Das Problem liegt auf der Hand: Wenn schon das Feuilletonwesen der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts als „hastige Mitteilungen für hastige Leser“ und Leserinnen bezeichnet wurde, wie steht es dann erst um entsprechende Publikationsformen in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts. Fragen der Aufmerksamkeitsökonomie und der Online-Lesegewohnheiten rücken in den Mittelpunkt: Scrollen und Klicken statt Blättern und Querlesen – das sind unterschiedliche Kulturtechniken im Umgang mit Texten. Aber auch für kurze, emotionale, pointierte Formen hält die Geschichte des Feuilletons ja Modelle bereit – siehe die knappen Einlassungen während der Weimarer Republik. Das Pointierte, Emotionale ist dem Feuilleton nicht fremd, im Gegenteil, es gehört historisch zu seiner DNA. Wobei es immer gelungen ist, daneben Raum für die große Form zu kultivieren, den feuilletonistischen Essay.
Dürftige Zeiten, heißt es, bringen dürftige Denker hervor. Lässt sich das auch aufs Feuilleton übertragen? Feuilletons reagieren immer mehr als dass sie gestalten. Besser gesagt: Sie gestalten, indem sie reagieren. Auch das ist strukturell Erbe des Geistes der Kritik, die einer Ausgangslage bedarf, auf die sie reagieren kann. Objektiv lässt sich ein gewisser Niedergang des Feuilletons als Institution nicht übersehen: Der entsprechende Raum in den Zeitungen ist zusammen mit den dahinter stehenden Budgets deutlich schmaler geworden. Das befördert die Wahrnehmung als bloßes Beiblatt, wie sie die Scholzsche Formulierung „irgendein Feuilleton“ insinuiert. Das ändert aber nichts daran, dass in diesem womöglich vernachlässigten, aber immerhin noch existierenden, aktiven und gedanklich weiterhin ausgesprochen produktiven Publikationsraum mit immer noch vergleichsweise sehr hoher Reichweite eine Form des Schreibens und Denkens in jeweils spontaner Tateinheit betrieben wird, die gerade dann an Relevanz gewinnt, wenn die Lage unübersichtlich wird und sich Antworten auf diese Lage im politischen Raum immer eindimensionaler geben. In diesem politischen Raum führt die genannte Konstellation ein ums andere Mal zu derselben Reaktion: zu einer Adaption populistischer Argumentationen auch durch andere Parteien, um verlorene Stimmen zurückzugewinnen, fast immer ohne Erfolg. Mit zunehmender Lautstärke werden dann von allen Seiten die immer gleichen vermeintlichen Lösungen als Wahrheiten verkündet.
Das ist die Stunde des Feuilletons, wenn vielleicht auch nicht zwingend als Zeitungsteil, so doch als Denkform, als Format, als publizistische Kulturtechnik. Es geht darum, Dinge nicht einfacher darzustellen, als sie sind, sondern, im Gegenteil, die Komplexität ihrer Hintergründe zu beleuchten, selbst da, wo sie einfach erscheinen mögen. Es ist die Form des feuilletonistischen Essays aus dem Geist der aufklärerischen Kritik, die hier gebraucht wird und nach neuen Formaten verlangt.
Es gehört zu den existenziellen Notwendigkeiten unserer Zeit angesichts der Bedrohung durch einen digitalen Medienoverkill und durch verrohende Gesellschaften, in denen die einst blühende Kultur von Essay und Diskurs schleichend aber brachial durch populistische Setzungen unterspült wird, das Feuilleton als Form und Struktur, als diskursiven Raum und essayistische Technik der Offenheit, als Fähigkeit zur Wahrnehmung, Kommunikation und auch zum lustvollen Zelebrieren von Komplexität zu bewahren und in ein anderes Medienzeitalter zu überführen.
Moritz Heimann schrieb 1897, Autorinnen und Autoren im Feuilleton seien „nicht einfach Verkünder der Wahrheit, die jenseits von Zweifel ist; sondern sie sind Führer und Verführer, sie wirken durch Suggestion. Dieses ist der Sinn des Glaubens an Autoritäten und der Hingabe an Helden, dass sie es für uns unternehmen, was wir nicht vermögen und wessen wir doch bedürfen: die unendlich individuierten Erscheinungen des Lebens zu einem Weltbilde zu bändigen und zu ordnen.“
Feuilleton als Ort für Verführerinnen und Verführer und sogar potenzielle Heldinnen und Helden, Verführerinnen zur Komplexität und Helden des Kompromisses – Arenen genau dafür brauchen wir, gedruckt, gesendet, projiziert und gestreamt.