Selten wurde Geschichte so bildhaft erzählt - und selten kommt man Menschen aus längst vergangenen Zeiten in einem Buch so nahe. Wenn Neil MacGregor die ersten Töpfe der Menschheit vorstellt, sitzt der Leser mit am Lagerfeuer. Er ist im Verlauf des Buches dabei, wenn die ersten Riesenreiche entstehen - und wieder untergehen. Wenn Religionskriege die Welt erschüttern und Frauen für ihre Rechte kämpfen.
Und wenn sich aus all dem Schritt für Schritt der moderne Mensch entwickelt. Kurzum, der Direktor des britischen Museums in London zeigt anhand von Dingen, wie die Menschen zu dem wurden, was sie sind.
"Objekte haben eine ganz andere Geschichte als schriftliche Überlieferungen. Texte sagen uns mehr oder weniger das, was sie zu der Zeit aussagen sollten, als sie aufgeschrieben wurden. Dinge aber wechseln ihre Bedeutung. Heute können sie etwas ganz anderes erzählen als zu der Zeit ihrer Entstehung. Sie sind wichtige Hilfsmittel, um zu erklären, warum wir sind, wie wir sind. Was wir wollen und was wir brauchen."
So Neil MacGregor auf der Frankfurter Buchmesse. Für diese eindrückliche Reise durch die letzten zwei Millionen Jahre hat der Wissenschaftler zunächst für eine BBC-Radioserie 100 Objekte aus dem British Museum ausgesucht und vorgestellt: Von der Speerspitze über den Dürer-Holzschnitt, das erste Papiergeld bis hin zur goldenen Kreditkarte. Das daraus hervor gegangene, 800 Seiten starke Buch profitiert noch sehr von der bildhaften Hörfunk-Sprache - auch wenn dem Leser im Buch zusätzlich Bilder zur Verfügung stehen. Durch die detaillierten Beschreibungen werden die Objekte für den Leser lebendiger, als sie es allein durch das Betrachten der Fotos wären.
Und hier liegt ein großer Verdienst von MacGregors Buch - es erklärt Geschichte unmittelbar am Objekt. Und das mit einfachen Mitteln, aber auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Neben den eigenen Überlegungen lässt MacGregor den jeweils neuesten Forschungsstand zu den einzelnen Objekten einfließen. Warum er und die BBC dieses Mammut-Projekt überhaupt angegangenen haben, erklärt er so:
"Wir wollten mit der BBC-Reihe und mit dem Buch eine andere Geschichte aufschreiben. Eine Geschichte, die sich nicht an Schrift, sondern an Objekten orientiert. Denn Schrift lässt die Gesellschaften gut aussehen, die überhaupt etwas aufgeschrieben haben. Aber ein Großteil der Menschheit hat nie etwas Schriftliches hinterlassen. Aber wenn wir die Geschichte von uns allen erzählen wollen - und das durch alle Zeiten hindurch -, können wir das nur anhand von Objekten tun."
Bekannte und wertvolle Objekte der Sammlung des britischen Museums sind dabei - wie der Stein von Rosette, die Ramses-Statue oder der Bronzekopf des Augustus. Mit ihrer Hilfe zeigt MacGregor nicht nur, wie die Gesellschaft zu der jeweiligen Entstehungszeit funktionierte. Sondern auch, wie die Objekte zur Zeit ihrer Entdeckung gesehen wurden - und schließlich, wie sie heute Historiker bewerten.
Die größten Überraschungen bergen aber die kleinen Dinge. Mac Gregor zeigt eindrücklich, wie sich mit Hilfe von Alltagsgegenständen wie Töpfen, Stoffresten oder Porzellanscherben ganze Weltbilder auf den Kopf stellen lassen. Wie etwa die Porzellanscherben, die im Sand Tansanias gefunden wurden - und die laut MacGregor das eurozentrische Weltbild tief erschüttern konnten. An diesem ostafrikanischen Strand lagen Scherben aus China, Syrien und der Golfregion - verwendet um 1200 nach Christus. Für MacGregor ein deutlicher Beweis, dass es neben dem Mittelmeer ganz andere, größere Handelszentren auf der Welt gab:
"Was wir hier haben, ist schlicht der Beweis, dass um das Jahr 1000 herum die gesamte Küste Ostafrikas in Kontakt stand mit China, der Golfregion und mit Indonesien - also mit dem gesamtem Indischen-Ozean-Raum. 500 Jahre bevor die Europäer den Indischen Ozean überhaupt entdeckten. Der Indische Ozean war also lange zuvor schon ein riesiges Handelszentrum. Und wenn es einen Grund für dieses Buch gab, dann ist es der, zu zeigen, dass unsere Vorstellung vom Mittelmeer als Mittel-Zentrum der Welt absurd ist."
Doch Europa behält auch bei MacGregor seinen Wert als wichtiger Kulturraum - doch ihm werden gleichwertige Reiche entgegengesetzt. Nicht nur aus Afrika. Er legt dar, wie auch über alle Jahrhunderte hinweg China als kultureller Antipode wirkt. Ebenso wie Japan, die Perserreiche und die südamerikanischen und karibischen Hochkulturen.
Dass gerade davon einige den Zusammenstoß mit der europäischen Kultur nicht überlebten, oder in der Sklaverei verelendeten, behandelt MacGregor ausführlich. Dabei arbeitet er heraus, wie wenig gleichzeitig über diese untergangenen Kulturen im Westen bekannt ist. Eben weil sie nichts aufgeschrieben haben. Und es ist sein ausdrücklicher Wunsch, diesen Vergessenen zu einer Stimme zu verhelfen.
"Das ist vor allem wichtig, wenn wir über die Beziehungen zwischen Europa und dem Rest der Welt ab dem 15. Jahrhundert reden. Wenn wir also über die wichtigen Kontakte von Europäern mit anderen Kulturen sprechen wollen. Denn da haben wir auf der einen Seite schriftlich Festgehaltenes und auf der anderen Seite - gar nichts. Unser Anliegen war es, denen eine Stimme zu geben, die von der Geschichte sprachlos zurückgelassen wurden."
Dabei ist Neil Mac Gregor nie anklagend oder überheblich. Im Gegenteil. Trotz der wenig friedlichen Menschheitsgeschichte bleibt er Menschenfreund. Sogar Optimist. Und so ist das letzte seiner ausgesuchten 100 Objekte eine Solarlampe. In China hergestellt, bringt sie Licht und Strom in die dunklen Gebiete Indien und Afrikas - und ermöglicht den Menschen dort, den Anschluss an die immer besser vernetzte Welt nicht zu verlieren.
"Sonnenenergie scheint uns als Schlusspunkt der Weltgeschichte gut geeignet. Sie könnte dazu beitragen, dass die Chancen gerechter unter den Menschen verteilt werden, und dass wir die Möglichkeiten, die das Leben bietet, wahrnehmen, ohne unseren Planten zu zerstören."
Mit diesem letzten Objekt entlässt MacGregor den Leser in eine Welt, die sich seit zwei Millionen Jahren rasant verändert hat. Und trotzdem: Für ihn steht auch fest, dass die Menschen durch alle Zeiten hindurch immer auch dieselben Ängste, Hoffnungen und Träume geteilt haben - egal auf welchem Kontinent sie lebten. Der große Verdienst von MacGregor ist es, diese Linie über einen so großen Zeitraum aufzuzeigen - ohne dabei pathetisch oder zynisch zu sein.
Besonders wird das Buch, wenn der Autor mit kleinen Alltagsobjekten große gesellschaftliche Veränderungen nachzeichnet - ähnlich wie es der Amerikaner Bill Bryson gerade auch mit seiner "Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge" tut. MacGregor hat mit seinen "100 Objekten" die Geschichtsschreibung nicht neu erfunden, aber sein Buch überzeugt durch Wissen und Witz. Und durch eine Leichtigkeit, die man in anderen geschichtlichen Abhandlungen doch oft vermisst.
Neil MacGregor: "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten".
Verlag C.H. Beck, 816 Seiten, 39,95 Euro. ISBN: 978-3-406-62147-5
Und wenn sich aus all dem Schritt für Schritt der moderne Mensch entwickelt. Kurzum, der Direktor des britischen Museums in London zeigt anhand von Dingen, wie die Menschen zu dem wurden, was sie sind.
"Objekte haben eine ganz andere Geschichte als schriftliche Überlieferungen. Texte sagen uns mehr oder weniger das, was sie zu der Zeit aussagen sollten, als sie aufgeschrieben wurden. Dinge aber wechseln ihre Bedeutung. Heute können sie etwas ganz anderes erzählen als zu der Zeit ihrer Entstehung. Sie sind wichtige Hilfsmittel, um zu erklären, warum wir sind, wie wir sind. Was wir wollen und was wir brauchen."
So Neil MacGregor auf der Frankfurter Buchmesse. Für diese eindrückliche Reise durch die letzten zwei Millionen Jahre hat der Wissenschaftler zunächst für eine BBC-Radioserie 100 Objekte aus dem British Museum ausgesucht und vorgestellt: Von der Speerspitze über den Dürer-Holzschnitt, das erste Papiergeld bis hin zur goldenen Kreditkarte. Das daraus hervor gegangene, 800 Seiten starke Buch profitiert noch sehr von der bildhaften Hörfunk-Sprache - auch wenn dem Leser im Buch zusätzlich Bilder zur Verfügung stehen. Durch die detaillierten Beschreibungen werden die Objekte für den Leser lebendiger, als sie es allein durch das Betrachten der Fotos wären.
Und hier liegt ein großer Verdienst von MacGregors Buch - es erklärt Geschichte unmittelbar am Objekt. Und das mit einfachen Mitteln, aber auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Neben den eigenen Überlegungen lässt MacGregor den jeweils neuesten Forschungsstand zu den einzelnen Objekten einfließen. Warum er und die BBC dieses Mammut-Projekt überhaupt angegangenen haben, erklärt er so:
"Wir wollten mit der BBC-Reihe und mit dem Buch eine andere Geschichte aufschreiben. Eine Geschichte, die sich nicht an Schrift, sondern an Objekten orientiert. Denn Schrift lässt die Gesellschaften gut aussehen, die überhaupt etwas aufgeschrieben haben. Aber ein Großteil der Menschheit hat nie etwas Schriftliches hinterlassen. Aber wenn wir die Geschichte von uns allen erzählen wollen - und das durch alle Zeiten hindurch -, können wir das nur anhand von Objekten tun."
Bekannte und wertvolle Objekte der Sammlung des britischen Museums sind dabei - wie der Stein von Rosette, die Ramses-Statue oder der Bronzekopf des Augustus. Mit ihrer Hilfe zeigt MacGregor nicht nur, wie die Gesellschaft zu der jeweiligen Entstehungszeit funktionierte. Sondern auch, wie die Objekte zur Zeit ihrer Entdeckung gesehen wurden - und schließlich, wie sie heute Historiker bewerten.
Die größten Überraschungen bergen aber die kleinen Dinge. Mac Gregor zeigt eindrücklich, wie sich mit Hilfe von Alltagsgegenständen wie Töpfen, Stoffresten oder Porzellanscherben ganze Weltbilder auf den Kopf stellen lassen. Wie etwa die Porzellanscherben, die im Sand Tansanias gefunden wurden - und die laut MacGregor das eurozentrische Weltbild tief erschüttern konnten. An diesem ostafrikanischen Strand lagen Scherben aus China, Syrien und der Golfregion - verwendet um 1200 nach Christus. Für MacGregor ein deutlicher Beweis, dass es neben dem Mittelmeer ganz andere, größere Handelszentren auf der Welt gab:
"Was wir hier haben, ist schlicht der Beweis, dass um das Jahr 1000 herum die gesamte Küste Ostafrikas in Kontakt stand mit China, der Golfregion und mit Indonesien - also mit dem gesamtem Indischen-Ozean-Raum. 500 Jahre bevor die Europäer den Indischen Ozean überhaupt entdeckten. Der Indische Ozean war also lange zuvor schon ein riesiges Handelszentrum. Und wenn es einen Grund für dieses Buch gab, dann ist es der, zu zeigen, dass unsere Vorstellung vom Mittelmeer als Mittel-Zentrum der Welt absurd ist."
Doch Europa behält auch bei MacGregor seinen Wert als wichtiger Kulturraum - doch ihm werden gleichwertige Reiche entgegengesetzt. Nicht nur aus Afrika. Er legt dar, wie auch über alle Jahrhunderte hinweg China als kultureller Antipode wirkt. Ebenso wie Japan, die Perserreiche und die südamerikanischen und karibischen Hochkulturen.
Dass gerade davon einige den Zusammenstoß mit der europäischen Kultur nicht überlebten, oder in der Sklaverei verelendeten, behandelt MacGregor ausführlich. Dabei arbeitet er heraus, wie wenig gleichzeitig über diese untergangenen Kulturen im Westen bekannt ist. Eben weil sie nichts aufgeschrieben haben. Und es ist sein ausdrücklicher Wunsch, diesen Vergessenen zu einer Stimme zu verhelfen.
"Das ist vor allem wichtig, wenn wir über die Beziehungen zwischen Europa und dem Rest der Welt ab dem 15. Jahrhundert reden. Wenn wir also über die wichtigen Kontakte von Europäern mit anderen Kulturen sprechen wollen. Denn da haben wir auf der einen Seite schriftlich Festgehaltenes und auf der anderen Seite - gar nichts. Unser Anliegen war es, denen eine Stimme zu geben, die von der Geschichte sprachlos zurückgelassen wurden."
Dabei ist Neil Mac Gregor nie anklagend oder überheblich. Im Gegenteil. Trotz der wenig friedlichen Menschheitsgeschichte bleibt er Menschenfreund. Sogar Optimist. Und so ist das letzte seiner ausgesuchten 100 Objekte eine Solarlampe. In China hergestellt, bringt sie Licht und Strom in die dunklen Gebiete Indien und Afrikas - und ermöglicht den Menschen dort, den Anschluss an die immer besser vernetzte Welt nicht zu verlieren.
"Sonnenenergie scheint uns als Schlusspunkt der Weltgeschichte gut geeignet. Sie könnte dazu beitragen, dass die Chancen gerechter unter den Menschen verteilt werden, und dass wir die Möglichkeiten, die das Leben bietet, wahrnehmen, ohne unseren Planten zu zerstören."
Mit diesem letzten Objekt entlässt MacGregor den Leser in eine Welt, die sich seit zwei Millionen Jahren rasant verändert hat. Und trotzdem: Für ihn steht auch fest, dass die Menschen durch alle Zeiten hindurch immer auch dieselben Ängste, Hoffnungen und Träume geteilt haben - egal auf welchem Kontinent sie lebten. Der große Verdienst von MacGregor ist es, diese Linie über einen so großen Zeitraum aufzuzeigen - ohne dabei pathetisch oder zynisch zu sein.
Besonders wird das Buch, wenn der Autor mit kleinen Alltagsobjekten große gesellschaftliche Veränderungen nachzeichnet - ähnlich wie es der Amerikaner Bill Bryson gerade auch mit seiner "Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge" tut. MacGregor hat mit seinen "100 Objekten" die Geschichtsschreibung nicht neu erfunden, aber sein Buch überzeugt durch Wissen und Witz. Und durch eine Leichtigkeit, die man in anderen geschichtlichen Abhandlungen doch oft vermisst.
Neil MacGregor: "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten".
Verlag C.H. Beck, 816 Seiten, 39,95 Euro. ISBN: 978-3-406-62147-5