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Kleinkrieg zwischen Kitsch und Kunst

Die ungarische Künstlerstadt Szentendre erstickt an ihrer Popularität. Jeden Sommer kommen mehr als 100.000 Besucher in den nur 24.000 Einwohner zählenden Ort. Die heimischen Künstler kämpfen gegen Kitsch und Kommerz, um den Charakter der Kleinstadt zu erhalten.

Von Anat Kalman |
    Am letzten Maiwochenende beginnt in der ungarischen Kleinstadt Szentendre wieder die Kultursaison. Wenn das an der Donau gelegene romantische Barockstädtchen aus dem Winterschlaf erwacht, die Straßencafés ihre Tische wieder rausstellen und die Souvenirbuden aufgebaut werden, dann wird er wieder ausgefochten - der Kleinkrieg zwischen Kitsch und Kunst, zwischen Caféhausmusik auf der einen Seite und Probenlärm für Konzert und Theater auf der anderen; zwischen Galeriegesprächen und Souvenirmarktgewühle.

    Adam Farkas, Ungarns berühmtester zeitgenössischer Bildhauer, lebt seit 50 Jahren in dieser Stadt und weiß, warum hier die Künstler ganz bewusst genauso laut auftreten, wie die Tourismusbranche.

    "Es reicht uns einfach. Die Stadt ist voll von Krimskrams-Läden und Souvenirbuden. Die Busse laden morgens ihre Touristenmassen ab, die verstopfen tagsüber die Strassen und werden abends weggekarrt. Dabei war Szentendre bis 1990 eine Künstlerstadt. Die größten ungarischen Maler, Schriftsteller und Musiker haben hier gelebt. Auch mein Lehrer Jenö Barcsay der Begründer der geometrischen Bildhauerschule. In den 70er Jahren wurden die meisten Galerien gegründet. Nach der Wende brach dann alles zusammen, weil der Staat Kunst nicht mehr subventionierte. Die Künstler zogen weg, der Tourismusboom setzte ein."
    Natürlich bringen sie auch Geld - die Touristen. Doch mit den Jahren wurden es immer mehr. Heute tummeln sich in den engen Gassen dieses Städtchens, das knapp 24.000 Einwohner zählt, jeden Sommer mehr als 100.000 Besucher aus aller Welt. Darum entschied Ex-Bürgermeister Gabor Miakisch zusammen mit Adam Farkas und seinen Kollegen, den Tourismus einzuschränken, ohne ihn zu behindern.

    Miakisch: "Vor drei Jahren haben wir eine fest umrissene 'Tourismuszone' geschaffen. Darüber hinaus dürfen keine Cafés, Buden, Läden, Restaurants oder Hotels mehr eröffnet werden. Das bewahrt den Charakter des Städtchens jenseits dieser Zonen. Die Künstler bekommen dagegen über die ganze Stadt verteilt kostenlos Galerien, Wohn- und Arbeitsräume. Hier können sie produzieren und ausstellen und müssen von ihrem Verdienst nichts abgeben. Daneben gibt es einen 'künstlerischen Stadtrat", der die Kultursaison und den Theatersommer subventioniert."

    Von den räumlichen Einschränkungen waren viele Unternehmer zunächst gar nicht begeistert, so Maria Gal, die Besitzerin einer Bude mit Holzschnitzereien.

    "Ich komme für die Sommersaison aus Siebenbürgen hierher, um unsere Holzwaren anzubieten. Und nun sind wir auf engstem Raum zusammengepfercht. Natürlich kaufen die Touristen da weniger, weil alle Läden und Buden aneinander kleben. Die Kunden verwechseln sogar die Eingänge der Läden."

    Kunst und Künstler kehren seither jedoch hör- und sichtbar nach Szentendre zurück. Neben den fünf Museen, die die Werke alter Szentendrer Bildhauer und Maler ausstellen, gibt es mittlerweile wieder zwölf ansässige Galerien zu denen eine Galerie zeitgenössischer Architekten zählt und eine Grafische Werkstatt, die Seriegraphien im Siebdruckverfahren herstellt.

    Das europäischste aller Projekte ist jedoch die Kunstmühle, ein alter Bauernhof, den die Szentendrer Künstler gerade selbst restaurieren. Auf 4000 Quadratmeter stehen drei Gebäude und eine riesige Scheune , das Studienzentrum für Sommerkurse, die die Stadt in Zusammenarbeit mit Aix-en-provence, Saarbrücken und Krakau anbietet. Künstlerisch besonders interessant sind dabei die Kurse von Adam Farkas. Er stellt seine Skulpturen auch in Paris und Tokio aus und meint, dass sich Szentendrer Künstler vor allem wieder auf eine Sinnsuche machen.

    "Im Westen sind experimentelle Formen wichtig. Kunst ist dort Form- oder Farbenspiel. Je origineller, desto besser. Wir hier suchen selbst in der Abstraktion wieder einen Sinn, nichts ist bei uns zufällig. So versuche ich allen Körperbewegungen neue Dimensionen abzugewinnen. Die lassen sich - nach meinem Lehrer, dem Bildhauer Jenö Barcsay - in geometrische Teile aufspalten, woraus ich dann meine Licht- und Schattenskulpturen, also meine eigenen Abstraktionen, meine eigenen Weltwahrnehmungsmodelle entwickle."

    Immerhin, es gibt mittlerweile auch Geschäftsleute, die all das gut finden. Etwa Lajos Boross, der Geschäftsführer eines großen Szentendrer Weinlokals. Er meint:

    "Ich unterstütze mittlerweile die Künstlerprogramme mit dem einen Prozent der Einnahmesteuern, die ungarische Unternehmer jährlich spenden dürfen. Denn letztlich bringt uns das die besseren Touristen. Menschen, die diese kleine Stadt wirklich entdecken - und die dann sogar mal wieder kommen."