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Klima von Heuchelei und Entrechtung

Diderots 1760 geschriebener Roman "La Religieuse" zeigt am Beispiel einer Nonne, wie der einzelne Mensch in einer religiös autoritären Gesellschaft unausweichlich zerstört wird. Bei einem Theaterabend in Aubervilliers, einem vom Islam dominierten Quartier am Stadtrand von Paris, haben die im Stück thematisierten Probleme Unfreiheit, Verachtung und brutale Gewalt besondere Brisanz.

Von Ute Nyssen | 20.04.2005
    Laicité, Egalité, Mixité – dieser Wahlspruch stammt von Ni putes ni soumises, einer seit dem Jahre 2002 sich formierenden französischen Frauenbewegung in den vom Islam dominierten Quartiers oder richtiger, Ghettos am Stadtrand von Paris. Nicht Hure nicht Unterworfene, bereits der Name ist eine Provokation. Neu und politisch wegweisend ist, dass hier junge Mädchen, unter religiösen Vorzeichen in Unfreiheit gehalten, mit Verachtung, brutaler Gewalt, Zwangsehe konfrontiert, öffentlich ihre Stimme erheben. Es gehört großer Mut dazu, das traditionelle Schweigegebot zu durchbrechen.

    An ihren Schlachtruf denkt man bei einem engagierten Theaterabend in Aubervilliers. Hier, in einem von diesen problematischen Quartiers, wurde jetzt im Théâtre de la Commune DIE NONNE gespielt, eine Bühnenbearbeitung des berühmten Romans von Denis Diderot. Geschrieben 1760, veröffentlicht erst nach dem Tode des Autors. Zu dessen Lebzeiten hätte der sehr anschauliche und schonungslos satirische Text fraglos ein Verbot ausgelöst. Diderots Roman, auch mehrfach verfilmt, zeigt am Beispiel einer Nonne, wie der einzelne Mensch in einer religiös autoritären Gesellschaft unausweichlich zerstört wird. In einem christlichen Klosterghetto, aus dem es kein Entrinnen gibt.

    Im Zentrum steht Schwester Suzanne, als Sechzehnjährige gezwungen, den Schleier zu nehmen. Die bürgerlichen Eltern verfügen nicht über das Geld für eine Mitgift und da sie in Wahrheit einem Fehltritt der Mutter ihr Leben verdankt, schiebt man sie ins Kloster ab. Schwester Suzanne fühlt sich zu einem Leben als Nonne nicht von Gott berufen und strengt einen Prozess zu ihrer Befreiung an. Sie verliert den Prozess und nun rächt sich das Kloster für ihren Ausbruchsversuch aufs allergrausamste.

    Sie wird von der Äbtissin und deren Gefolge systematisch psychisch und physisch so gequält, dass sie nur knapp dem Tode entgeht. Ihr Anwalt erzwingt ihre Übersiedlung in ein anderes Kloster, aber hier erwarten sie Bedrängnisse neuer Art: die Äbtissin, eine leidenschaftliche, feinfühlige Frau, die ihre Kräfte in dem müßigen Klosterleben nicht anderweitig entfalten kann, bestürmt sie mit eindeutig sexuellen Anträgen. Verzweifelt und verwirrt von den lesbischen Zärtlichkeitsausbrüchen, grübelt Suzanne nur über Wege nach, wie sie entkommen kann. Die Äbtissin, von ihr zurückgewiesen, verfällt in Raserei, stirbt im Wahnsinn. Suzanne beschuldigt man der Verhexung. Mit Hilfe ihres Beichtvaters gelingt ihr schließlich die Flucht. In einer armseligen Unterkunft bei einer Wäscherin verbringt sie ihre Tage in Angst und Schrecken und Diderot lässt offen, ob es für sie noch eine Rettung gibt.

    Fadela Amara, Mitbegründerin der Frauenbewegung, hat in ihrem Buch " Ni putes ni soumises" beschrieben, wie sich durch die Massenarbeitslosigkeit seit den 90er Jahren, die besonders die Immigranten traf, die Machtverhältnisse in den Quartiers verändert haben: An die Stelle des arbeitslosen Vaters sind die Brüder getreten und mit ihnen eine verschärfte Verfolgung der Mädchen, die als gleichberechtigte Französinnen ein selbstbestimmtes Leben führen wollen. Zum Fetisch wird die Jungfräulichkeit erhoben, erniedrigende Sexualpraktiken sind die Konsequenz daraus; planmäßige Vergewaltigungen, auch zu mehreren, sind an der Tagesordnung schreibt Amara; in einigen Fällen kam es zum Mord an Abweichlerinnen. Unter dem Bann eines religiösen Obskurantismus und der so genannten Familienehre.

    Denn wie in Diderots NONNE gilt es in diesem Klima von Heuchelei und Entrechtung vor allem, das Dekorum zu wahren. Was werden die Nachbarn sagen. Aber gegenüber der Situation von Schwester Suzanne in ihrer Vereinzelung gibt es doch einen Fortschritt: die solidarische Aktivität von Ni putes ni soumises mit sehr erfolgreichen Demarchen bei der Regierung, Öffentlichkeitsarbeit, Schaffung einer Notkasse, etc. Vielleicht macht das Schule.

    Wünschen würde man sich, dass eine Autorin oder ein Autor vom künstlerischen Rang eines Diderot als Protestruf das Schicksal heutiger vogelfreier Frauen aufschriebe. Dass das Problem ein europäisches ist, zeigt das Beispiel der Türkin Hatun Sürücu, die in Berlin auf offener Straße erschossen wurde.