Im September 1991 taute nach 5250 Jahren der Eismann Ötzi aus dem gar nicht mehr so ewigen Eis heraus. Eine ledrige Gletschermumie, die zum Symbol wurde für den Eintritt der Erde in ein neues Klimaregime: in eines, bei dem der Mensch der bestimmende Faktor ist.
"Die heutige Situation ist historisch unvergleichlich. Es ist Zeit für eine neue Geschichte des Klimas und der Gesellschaft, für eine, die der heutigen Situation angemessen ist."
Deshalb haben sich Christian Pfister und Heinz Wanner zusammengesetzt und gemeinsam ein Buch verfasst.
"Bücher zur Geschichte des Klimawandels wurden bisher entweder von Klimatologen oder Historikern geschrieben, da die Wissenschaftskulturen der Natur- und Geisteswissenschaften nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind."
Statistiken und Folgen von Witterung
Doch in "Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre" untersuchen der Historiker Christian Pfister und der Klimatologe Heinz Wanner trotzdem gemeinsam, wie sich das Klima über diese Zeitspanne hinweg entwickelt hat – etwa welche Triebfedern wirkten und was das für die Gesellschaften bedeutete. Einfach war die Zusammenarbeit nicht immer, erzählt Christian Pfister, denn:
"Diese beiden Wissenschaftskulturen lassen sich nur schwer in einen Zusammenhang bringen. Die beiden Kulturen verfolgen unterschiedliche Ziele. Sie haben ihren eigenen Denkstil. Sie verwenden unterschiedliche Darstellungsweisen und Daten."
Möglichst präzise Daten und Modellrechnungen auf der einen Seite, Erzählstränge aus rationalen und emotionalen Elementen auf der anderen. Und während Klima sozusagen Wetterstatistik über einen längeren Zeitraum ist, beschäftigen sich Historiker eher mit den Folgen von Witterung.
"Denn Gesellschaften reagieren in erster Linie auf extrem Ereignisse und Naturkatastrophen im Zeithorizont von Jahreszeiten, Monaten, unter Umständen vom Tagen, wie das auch bei den jüngsten verheerenden Überschwemmungen in Deutschland der Fall war. Und es sind eben diese Berichte, welche Chronisten aufgezeichnet haben, und zwar zum Teil erstaunlich präzis."
Hochwasserkatastrophen und Dauerhitze
Das Beispiel im Buch ist die Magdalenen-Flut vom Juli 1342 – das vielleicht schlimmste Hochwasser des gesamten zweiten Jahrtausends in Kontinentaleuropa. "Es muss sich um ein stationäres Tiefdruckgebiet gehandelt haben, positioniert nördlich des Mains, und das hat über mehrere Tage extrem intensive Niederschläge produziert." Allein in der Donauregion starben mehr als 6000 Menschen.
Den Autoren geht es in ihrem Buch darum, die Verbindung zwischen Klima und Gesellschaften aufzuzeigen, etwa wie technische Neuerungen wie der Räderpflug zusammen mit einem günstigen Klima zwischen 1150 und 1300 einen Bevölkerungsboom auslösten, der wiederum die Wirtschaft ankurbelte. Städte wie Bern oder Berlin wurden gegründet. Und allein in Frankreich entstanden in dieser Zeit mehr als 60 Kathedralen.
Ein anderer Punkt: Wie haben sich in den Gesellschaften damals extreme Wetterlagen ausgewirkt? Beispielsweise Hitze- und Dürreperioden:
"1473 dauerten Hitze und Dürre mit wenigen Unterbrechungen 14 Monate lang. 1540 vom Februar bis zum Jahresende. Im Juli brannten die Wälder von Frankreich bis Polen bei Temperaturen weit über 40 Grad. Es lag ein Rauchschleier über dem Kontinent. Kleine Flüsse trockneten völlig aus und die größeren verkamen zu Rinnsalen. Viele Nutztiere starben von Hunger, Durst und Hitze. Der Floßtransport kam zum Erliegen. Es fehlte an Mehl, weil die meisten Mühlen stillstanden. Das heißt, es gab einen Energiekollaps."
Die Lehren für Gegenwart und Zukunft
Die Folge: Der "große Tod" ging um, schreiben die Chronisten. Doch wären wir mit all unserer Technik immun gegen solche Ereignisse? Angesichts des Wettergeschehens der vergangenen Jahre beschleichen den Leser Zweifel. Auch die Autoren warnen: Der Klimawandel macht europäische Gesellschaften wieder verletzlich gegenüber der Witterung – etwas, das wir in den vergangenen 50 Jahren vergessen haben.
"Starke und extreme Niederschlagsereignisse werden sich in allen Jahreszeiten und in weiten Teilen des europäischen Kontinents verstärken. Zudem werden im Sommer längere Hitze- und Trockenperioden erwartet."
Spiegelt sich in der Vergangenheit unsere Zukunft wider? Die Extremwetterlagen von 2003 und 2018 waren weniger extrem als das, was 1473 und 1540 passiert ist. Wiederholte sich die Katastrophe, würden auch heute Viehbestände kollabieren, die Rheinschifffahrt funktionierte kaum noch, Eisenbahnschienen verbögen sich, die Energieversorgung würde zusammenbrechen mit entsprechenden Folgen beispielsweise für die Trinkwasserversorgung, für Telekommunikation und Bankenwesen...
"Es ergeben sich recht brauchbare Hinweise auf die steigende Gefahr extremer Hitzesommer mit der raschen Aufheizung der Atmosphäre. Zumindest sollten die Behörden darauf vorbereitet sein auf so etwas, damit es dann nicht so geht wie bei Covid 19."
Der Klimawandel läuft. Und auch wir werden mit den Folgen konfrontiert. "Klima und Gesellschaft in Europa" ist ein nüchtern geschriebenes Buch, alles andere als reißerisch. Doch gerade die kühle Sprache der Forscher macht die Wirkung ihrer Analysen umso größer. Das lässt dem Leser Raum zum Denken – Raum, um sich der Folgen des Klimawandels in unserer Zukunft bewusst zu werden.
Christian Pfister, Heinz Wanner: "Klima und Gesellschaft in Europa. Die letzten tausend Jahre", Haupt Verlag, 400 Seiten, 49 Euro.