Der Wind streicht unablässig über Shishmaref auf Sarichef Island – eine handtuchbreite, gerade einmal sieben Quadratkilometer große Insel am Ausgang der Beringstraße. Der Polarkreis liegt 35 Kilometer weiter nördlich, die russische Küste ist nur 150 Kilometer entfernt.
Kommt der Wind aus dem Norden, bläst er eiskalt über die einzige kleine Anhöhe mit den windschiefen Holz- Kreuzen, die sich strahlend-weiß vom dunklen, wolkenschweren Himmel abheben. Ken Stenek steht vor einem Grab am Rande des kleinen Friedhofs: der Name Norman Kokóeok ist eingraviert. Er starb am 2. Juni 2007. Er wurde 25 Jahre alt.
"This is Normans grave. He went to the ice coming back from a hunting trip."
Vom Jagen nicht mehr zurückgekommen
Normans Tod sei wie ein Schock gewesen für die 600-Seelengemeinde, sagt Ken. Norman wollte an diesem 2. Juni jagen gehen wie immer um diese Zeit - Enten, Gänse, Robben. Er raste mit seinem Motorschlitten über das Eis, das sonst immer grün und blau in der Sonne funkelte - und merkte gar nicht, wie es immer matschiger wurde, je weiter er auf der Tschuktschensee vorankam. Dann brach er plötzlich ein und versank im eiskalten Wasser. Er konnte nur noch tot geborgen werden. Ken nennt Norman das erste Klimaopfer von Shishmaref.
"I attribute his death to the changing climate. June 2nd is pretty early. Going out means ice conditions are not safe."
So dünn sei das Eis Anfang Juni früher nie gewesen. Ken macht den Klimawandel für Normans Tod verantwortlich und sagt, die Jäger müssten heute viel größere Risiken auf dem Eis in Kauf nehmen – dabei lebt das Eskimo-Volk der Inupiat seit vielen Jahrhunderten vom Fischfang und von der Robbenjagd.
Ganzes Wohnhaus ins Meer gerissen
Aber auch auf der Insel selbst wird das Leben immer ungemütlicher. Ken zeigt die Stelle an der Uferkante, wo ein wütender Sturm im Jahr 2007 nicht nur 30, 40 Meter Land fortgespült hat, sondern ein ganzes Wohnhaus ins Meer riss. Wir wissen nicht, was passiert, wenn der nächste große Sturm kommt, sagt Ken. Erst gestern habe sich die unruhige See wieder ein Stück Land geholt.
"You can see: The water was a little higher last night and there was eroding along the edge there."
Die Gemeinde muss mit diesen Ängsten leben, seit sich das Packeis nicht mehr ab Anfang Oktober wie eine Rüstung um die Insel legt und sie vor den Stürmen schützt. Seit es um einige Grad wärmer geworden ist – und das viel schneller als anderswo in den USA - ist Shishmaref den Wellen der Tschuktschen-See hilflos ausgeliefert.
Die Gemeinde hat die Gefahr längst erkannt und im vergangenen Jahr ein weiteres Mal für die komplette Umsiedlung der Gemeinde gestimmt. Doch passiert ist seither: nichts.
Wann holt sich das Meer den Erstbesten von der Insel?
Es sei nur eine Frage der Zeit, wann sich das Meer den Erstbesten von der Insel hole, sagt Stan Tocktoo. Er mache sich wirklich bei jedem Sturm ernste Sorgen. Stan Tocktoo ist 56 Jahre alt, hat kaum noch Zähne im Mund und ein wettergegerbtes Gesicht mit Falten so tief wie Gletscherspalten. Er sitzt für die Inupiat im Rat von Shishmaref – und hatte bereits beim letzten großen Sturm gedacht, das sei das Ende.
"Die Wellen am Haus meiner Mutter waren so hoch, dass das Wasser wie Regen an den Wänden heruntergeschossen kam. Ich sagte: Mutter, das ist kein Regen. Das sind die Wellen, die über Deinem Dach zusammenschlagen."
Präsident Obama hatte die Gefahren des Klimawandels für die Menschen ganz oben in Alaska erkannt und im Jahr 2015 immerhin die Stadt Kotzebue besucht, um sich ein Bild von der Lage im hohen Norden zu machen. Jetzt heißt der Präsident Donald Trump – und er hält den Klimawandel für eine glatte Lüge.
"Als Trump aufkündigte, dachten wir: 'Der ist bekloppt'"
"Der Klimawandel ist real. Als Donald Trump das Pariser Klimaabkommen aufkündigte, dachten wir: Der ist bekloppt! Wir kämpfen hier um unser Überleben!" sagt Donna Barr, die Bürgermeisterin von Shishmaref, deren Büro im Untergeschoss der Kirche liegt und aussieht wie eine Mischung aus Bibliothek und Kinderzimmer. Donna Barr ist eine quirlige junge Frau mit hellem Lachen, die sich nicht nur um die Jugendlichen in dem kleinen Ort kümmert – ihre Sorgenkinder, wie sie sagt: denn sie haben auf dieser Insel als Jäger und Fischer keine Zukunft mehr und entfremden sich zunehmend von den Traditionen und Werten ihrer Eltern. Donna Barr geht es aber um noch viel mehr: Ums nackte Überleben.
"Das Schlimmste ist, wenn unsere Landebahn überschwemmt wird und wir nicht mehr per Flugzeug evakuiert werden können. Wir müssen alle in die Schule und in die Kirche bringen. Alte, Kinder, Mütter, Teenager – in dieser Reihenfolge. Dann müssen sie mit Helikoptern kommen und uns hier rausholen."
Das Problem dabei ist nur: es gibt keinerlei Pläne für den Notfall. Und niemand kann sich in Shishmaref darauf verlassen, gerettet zu werden. Es sei total entmutigend, dass es weder in Washington noch bei der Staatsregierung von Alaska Alarm-Pläne gebe, sagt Donna Barr.
"Sie wollen uns keinerlei Hilfestellung geben. Dabei sind wir auch Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir kämpfen für den Erhalt unserer Kultur. Und wir brauchen dieselbe Unterstützung wie jeder andere US-Bürger auch."
Niemand will die Kosten für die Umsiedlung tragen
Die Inupiat von Shishmaref sitzen buchstäblich in der Falle: Niemand will mehr in die Sicherheit ihres Ortes investieren, der laut Gemeindebeschluss umgesiedelt werden soll. Es will aber auch niemand für die Kosten der Umsiedlung aufkommen - geschätzte 300 Millionen Dollar. So ist die Katastrophe von Shishmaref ein Untergang mit Ansage – und das Perfide daran ist: Das entspricht der amerikanischen Gesetzeslage, erklärt Sally Russell Cox, die zuständige Regierungskoordinatorin für Städte- und Gemeindeplanung im fernen Anchorage.
Die Gemeinden können sehr wenig für die Prävention tun. Geld kommt erst, wenn es eine Katastrophe gibt – dann fließt eine Menge Geld. Aber zuerst muss die Katastrophe passieren.
Kein Wunder, dass sich alle verraten und verkauft fühlen in Sishmaref. Die Bürgermeisterin Donna Barr. Der Lehrer Ken Stenek. Und Stan Tocktoo vom Stamm der Inupiat, der am liebsten wieder auf dem Eis jagen gehen würde wie früher: Ohne Angst haben zu müssen, einzubrechen. Und ohne erst viele Kilometer fahren zu müssen, bis sich das erste Wild blicken lässt. Stan ist verzweifelt. Keiner kümmert sich um uns, sagt er. Die vergessen uns hier einfach.
"Das Desaster kommt. Die Frage ist nur, wann. Wir können es nicht verhindern. Das ist der Klimawandel. Hier sollten mal Verantwortliche während der Stürme kommen und sehen, was wirklich passiert. Wir brauchen Hilfe!"