Der Frühling ist eigentlich die beste Zeit für Eisbären. Das Meereis hat seine größte Ausdehnung, und die Robben gebären ihre Jungen: Beides erleichtert den Eisbären die Jagd ungemein. Deshalb sollten sie in dieser Zeit an Gewicht zulegen, die Fettreserven aufbauen, die sie brauchen, um die mageren Sommer- und Herbstmonate zu überstehen. Allerdings lässt der Klimawandel das Meereis immer stärker schwinden. Und wohl als Folge sinkt die Eisbärenpopulation: In der Beaufortsee im Norden Alaskas ist sie in den vergangenen zehn Jahren um etwa 40 Prozent zurückgegangen:
"Wir wissen allerdings nicht, wie dieser Rückgang und das Schwinden des Meereises genau zusammenhängen. Deshalb wollten wir herausfinden, was die Eisbären eigentlich auf dem Meereis machen: Wie lange sie rasten, laufen oder schwimmen, wie oft sie Robben jagen, wie oft sie dabei erfolgreich sind und wie viel Robben sie überhaupt brauchen, um ihren Energiebedarf zu decken. So wollten wir verstehen, wie sich Veränderungen im Meereis auf den Energiebedarf der Eisbären auswirken", erklärt Anthony Pagano vom US-amerikanischen Geologischen Dienst USGS in Anchorage.
Eisbärenweibchen zur Beobachtung mit Halsbändern ausgestattet
Zwischen 2014 und 2016 verbrachte der Wildtierbiologe deshalb die Frühlingsmonate damit, in der Beaufortsee neun Eisbärenweibchen mit Hightech-Halsbändern auszustatten.
"Wir setzen GPS-Halsbänder ein, in denen wir eine Videokamera untergebracht haben, um die Welt sozusagen aus Eisbärensicht wahrzunehmen. Zusammen mit den GPS-Daten konnten wir jeweils zehn Tage lang nachvollziehen, was die Tiere wann wo genau machten. Außerdem haben wir während dieser Zeit über Urin- und Blutproben ihren Stoffwechsel analysiert, also wie viel Energie sie an einem normalen Tag in freier Wildbahn brauchen."
Die Ergebnisse sind beunruhigend. So glaubten die Forscher bislang, dass Eisbären viel weniger Energie brauchen als ein "normales" Spitzenraubtier: Sie galten als "faule" Jäger, die einfach an einem Eisloch liegen und warten, dass eine Robbe zum Luftholen auftaucht. Die Blut- und Urinproben beweisen jedoch, dass diese Einschätzung falsch war: Ihr wirklicher Energiebedarf liegt anderthalb mal über den für Eisbären geschätzten Werten.
"Eisbären sind also sehr stark von ihrem Jagderfolg abhängig. Dabei ist dieser Jagderfolg sehr unterschiedlich. Vier der neun Bärinnen haben während dieser zehn Tage zehn Prozent an Körpermasse zugelegt. Die anderen fünf jedoch verloren zehn Prozent. Das ist enorm viel für die kurze Zeit. Doch sie müssen Fett speichern, um durch Hungerperioden zu kommen."
Eisbären und ihre Energieverbrauch
Die Daten widerlegten auch eine weitere Annahme: dass Eisbären ihren Energieverbrauch während des Hungers im Sommer und Herbst weit herunterfahren können. Er ist und bleibt vielmehr hoch. In Kombination mit dem schwindenden Meereis sind die Eisbären anscheinend in einer Abwärtsspirale gefangen:
"Wir beginnen jetzt besser zu verstehen, was passiert. Mit dem Schwinden des Meereises müssen die Eisbären aktiver werden und größere Strecken zurücklegen als früher - und wir können berechnen, wie viele Robben sie mehr fangen müssten, um diesen Mehrbedarf auszugleichen."
Derzeit reicht eine erwachsene Ringelrobbe in zehn Tagen, um das Gewicht zu halten - fürs Zunehmen allerdings nicht. Der steigende Kalorienbedarf lässt sich in der Arktis nur schwer decken: An Land gibt es keine große, fette Beute für einen Eisbären - und der Jagderfolg bei den Robben ist nicht beliebig steigerbar. Die Population schwindet, weil sie schlicht zu viel hungern, vermuten die Forscher. Eine weitere Studie, die gerade in der Fachzeitschrift "Polar Biology" veröffentlich worden ist, stützt diese Ansicht: Durch den Klimawandel müssen die Tiere immer weitere Strecken schwimmen - und beim Schwimmen verbraucht ein Eisbär fünfmal mehr Energie als beim Laufen.