Für Klimawissenschaftler ist die Sache ziemlich einfach: Der Ausstoß gewaltiger Mengen von Treibhausgasen wie Kohlendioxid erwärmt die Erdatmosphäre. Wenn die Menschen diese Entwicklung stoppen wollen, müssen sie den CO2-Ausstoß verringern und wenn die Erderwärmung auf zwei Grad begrenzt werden soll, muss dies sogar ziemlich schnell und sehr drastisch geschehen.
Doch die meisten Menschen sind keine Klimawissenschaftler und die menschliche Gesellschaft funktioniert nicht nach so einfachen Regeln. Das wiederholte Scheitern der Bemühungen um Klimaschutz war für den britischen Geografen Mike Hulme Anlass, nach den Ursachen dafür zu suchen. Und er ist auch fündig geworden – allerdings auf Feldern weit ab von der Naturwissenschaft.
Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise durch Philosophie, Religion, Psychologie, Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaft. Nicht der Klimawandel selbst, sondern die Frage, wie aus Fakten hierüber Überzeugungen werden und welches Handeln diesen Überzeugungen folgt, das ist das Thema des Buches:
"Die vollständige Geschichte vom Klimawandel ist die, die davon erzählt, wie sich eine Vorstellung entwickelt, und davon, wie diese Vorstellung die Art und Weise verändert, wie wir denken, fühlen und handeln. Klimawandel verändert nicht nur unsere physische Welt; die Vorstellung von Klimawandel verändert vielmehr auch unsere gesellschaftlichen Welten."
Diese Vorstellung von Klimawandel ist enorm vielfältig und der Autor beschreibt die gegensätzlichen Interpretationen weitgehend ohne Wertung. Wie ein Mensch den Klimawandel versteht, hängt für Hulme vor allem davon ab, wo und wie er in welcher Umgebung lebt und welche Werte er hochhält. Wichtig ist etwa auch die Religion.
"Unsere Glaubensansichten über Menschenwürde und Verantwortlichkeit, über den Wert der nicht menschlichen Welt und über die eigentliche Bestimmung und das Schicksal der Menschheit sind oft entscheidend dafür, wie wir das Thema Klimawandel fassen. Diese grundlegenden Glaubensvorstellungen steuern, in welchen Kategorien wir Lösungen denken und welche wir in die Debatte ein- und an den Verhandlungstisch mitbringen."
Von individuellen Wertvorstellungen hängt etwa die Antwort auf die Frage ab, in wieweit die heute lebenden Menschen die Pflicht haben, künftigen Generationen ein intaktes Klima zu hinterlassen. Selbstverständlich ist dies für Hulme nicht. Wer davon ausgeht, dass künftige Generationen allgemein unter schwindenden Rohstoff-Reserven und Umweltschäden leiden werden, wird ihnen nicht auch noch ein ruiniertes Klima hinterlassen wollen. Ökonomen, die dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum und damit zunehmenden Wohlstand in den nächsten Jahrzehnten erwarten, hielten dagegen zu viel Rücksichtnahme auf die nächsten Generationen für unnötig. Mike Hulme fasst diese Haltung so zusammen:
"Wir sollten uns nicht zu sehr verpflichtet fühlen, heute Opfer zu bringen, die zukünftige Generationen noch reicher machen als sie es bereits sein werden, so wenig wie beispielsweise unsere Eltern ihr einziges Auto hätten aufgeben müssen, um uns den Kauf eines zweiten Autos für unseren Haushalt zu ermöglichen."
Menschen unterscheiden sich Hulme zufolge grundlegend in ihren Wertesystemen – etwa in Bezug auf die Einstellungen gegenüber Risiken und die Art, wie sie kommuniziert werden. Der Autor widmet sich auch diesen Seiten des Themas ausführlich – und der Leser entwickelt Verständnis dafür, dass das physikalisch eindeutige Geschehen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen kann. Die Bemühungen um einen international koordinierten Stopp des Klimawandels beurteilt Hulme folgerichtig äußerst skeptisch.
"Politik mag zwar der ultimative soziale Prozess sein, den wir bislang entwickelt haben, damit Gruppen von Menschen gemeinsame Entscheidungen treffen, legitimieren und durchsetzen können, doch eine globale Klimawandelpolitik stellt diesen Prozess stärker auf die Probe, als es bisher jemals geschehen ist."
Überzeugende Alternativen hat Hulme allerdings nicht anzubieten. Er zielt in eine andere Richtung: Im Schlusskapitel "Jenseits von Klimawandel" schlägt er vor, die unterschiedlichen Sichtweisen in Mythen zu verdichten mit Titeln wie "Trauern um den Garten Eden" oder "Der Turmbau zu Babel". Das könne zum besseren Verständnis der Menschen untereinander beitragen, immerhin. Doch es wäre interessant zu erfahren, wie sich der Autor den Weg vom Reden zum Handeln vorstellt.
Und so hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits bringt Hulme eine umfassende und gut lesbare Einbettung des Themas Klimawandel in den Kontext der vielen Lebenswirklichkeiten der Menschen mit vielen neuen und originellen Erkenntnissen. Der Leser kann sich veranlasst fühlen, nach der eigenen selektiven Wahrnehmung von Informationen zum Thema zu fragen. Andererseits erzeugt die Vielfalt der präsentierten Sichtweisen den Eindruck der Beliebigkeit. Offen bleibt auch die Frage, wie der Autor selbst die Dringlichkeit der Begrenzung des Klimawandels beurteilt.
Die erste englischsprachige Fassung des Buchs erschien schon im Jahr 2009. Das schmälert seinen Wert nicht, zumal der Autor aktuelle Ereignisse außen vor lässt. Wenige Monate nach Erscheinen des Werks scheiterte der von vielen Hoffnungen begleitete Klimagipfel in Kopenhagen, was der Autor als nachträgliche Bestätigung seiner Analyse werten kann. Für alle, die aus diesem Scheitern Lehren ziehen wollen, um es beim nächsten Mal besser zu machen, ist das Werk leider nur von begrenztem Wert.
Mike Hulme: "Streitfall Klimawandel. Warum wir uns in Kontroversen verlieren und dabei versäumen, das Klima zu retten"
Oekom Verlag, 384 Seiten, 24,95 Euro
Oekom Verlag, 384 Seiten, 24,95 Euro