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Klinikschule in Berlin
"Soziales Lernen ist genauso wichtig wie der Unterrichtsstoff"

50 Schüler besuchen die Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie in einer Berliner Klinik. Sie sind wegen auffälligem Verhalten, Leistungsstörungen, Depressionen oder Magersucht hier. Der Schulbesuch ist Teil der Therapie. Dabei geht es anfangs nicht primär um den Lernstoff, sondern um die soziale Beziehung.

Von Elisabeth Gregull |
    Kinder- und Jugendpsychiatrie Uchtspringe bei Stendal.
    "Die Beschulung der Kinder hat einen ganz besonderen Stellenwert und ist eigentlich Teil des diagnostischen und therapeutischen Prozesses," so Chefarzt Michael von Aster. (imago / IPON)
    Wenn Nils auf seinen ersten Schultag in der Klinikschule zurückblickt, überkommen ihn gemischte Gefühle:
    "Am Freitag, wo ich das erste Mal hier war, da habe ich gedacht: Oh Gott, ich möchte hier nie wieder hin! Aber jetzt möchte ich hier gar nicht mehr weg."
    Dass Nils gern in die Klinikschule geht, ist nicht selbstverständlich. Wie viele der jungen Patienten hat er vorher negative Erfahrungen in der Schule gemacht. An der Klinikschule gefallen ihm vor allem die kleinen Klassen mit maximal sechs Schülern. Die Räume sind hell und freundlich eingerichtet, es gibt Regale voller Bücher und Computer mit Lernsoftware. In der ersten Klasse ist gerade ein Schüler mit einem Lernprogramm fertig geworden:
    "Cool, ich habe es geschafft!" / "Super" / "Ende – da ist ein Herz."
    Zuerst muss die zwischenmenschliche Beziehung stimmen
    Erfolgserlebnisse sind für die Kinder besonders wichtig. Wenn sie neu in die Klasse kommen, steht erst mal nicht der Lernstoff im Mittelpunkt, betont Lehrerin Bettina Ruwe. Viel wichtiger sei die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern:
    "Und wenn die Beziehung steht, dann kann man auch mehr von ihnen verlangen und in die inhaltliche Arbeit gehen."
    Die rund 50 Schüler der Klinikschule sind Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie im DRK-Klinikum Berlin-Westend. Sie werden wegen unterschiedlicher seelischer Krankheiten behandelt. Das Spektrum reicht von Verhaltensauffälligkeiten über Leistungsstörungen bis hin zu Depressionen oder Magersucht. Die Patienten gehen von Montag bis Freitag von Viertel-nach-Acht bis zwölf Uhr in die Klinikschule. Am Nachmittag haben sie dann Einzel- oder Gruppentherapien auf den Stationen. Für Chefarzt Michael von Aster gehört der regelmäßige Unterricht mit zur Behandlung:
    "Die Beschulung der Kinder hat einen ganz besonderen Stellenwert und ist eigentlich Teil des diagnostischen und therapeutischen Prozesses."
    Ein spezieller inklusiver Schwerpunkt
    Die Klinikschule deckt alle Klassenstufen und Schulformen ab - von der Grundschule bis zum Gymnasium. Sie ist eine Außenstelle der Comenius-Schule, einer speziellen inklusiven Schwerpunktschule in Berlin. Das Team besteht aus sieben Sonderpädagoginnen, einer Grundschullehrerin und zwei Studienräten. Sie fördern die Schüler altersgemäß und individuell, indem sie sich mit den Herkunftsschulen abstimmen. So entsteht ein Förderkonzept mit individuellen Zielen. Der Grundschüler Keanu zum Beispiel soll gerade regelmäßig mit einem Partner zusammenarbeiten.
    Er hat noch 15 Minuten Zeit, um mit einem Mitschüler einen Vortrag über "Haie" vorzubereiten. Dann steht er vor der Klasse und spricht über den ausgestorbenen Megalodon, einen Hai, der bis zu 20 Tonnen wiegt:
    "Das entspricht dem Gewicht von sechs Elefanten. Könnt Ihr Euch vorstellen, so ein richtig ausgewachsener Elefant?"
    Nach dem Vortrag lösen die beiden gemeinsam ein Kreuzworträtsel am Computer: "Gol .." – "Goldfisch!"
    Kleine Klassen, enger Kontakt mit den Lehrern
    Das soziale Lernen ist hier genauso wichtig wie der Unterrichtsstoff selbst. Der enge Kontakt zu den Lehrern und die kleinen Klassen helfen auch Patientinnen wie Ayla. Die Teenagerin ist vor ihrem Klinikaufenthalt gar nicht mehr in die Schule gegangen. Doch in der Klinikschule sah sie eine neue Chance:
    "Wo ich hierher gekommen bin, habe ich mir von Anfang an vorgenommen, die versäumte Zeit in der Schule hier nachzuholen."
    Ayla hat wieder Mut gefasst und konnte Stoff aufholen. Die Schüler werden sehr differenziert gefördert. Für die Fächer Mathe und Deutsch vergeben die Lehrkräfte individuellen Aufgaben. Auf dem Stundenplan stehen auch Fächer wie Musik, Kunst oder Sport.
    Die Schüler bleiben im Durchschnitt sechs bis acht Wochen in der Klinik, manche auch mehrere Monate. Ältere Schüler können hier Abschlüsse wie den Mittleren Schulabschluss oder die Berufsbildungsreife machen. Am zentralen Prüfungstag bringen die Herkunftsschulen die Prüfungen in die Klinikschule, holen sie später wieder ab und bewerten sie. Die Klinikschule hat während der Prüfung nur die Aufsicht. Auch wenn Oberstufenschüler Klausuren schreiben, liegt die Aufgabenstellung und Benotung bei den Herkunftsschulen. Die Klinikschule selbst vergibt keine Noten. Für manche Patienten sind gute Leistungen in der Schule ohnehin kein Problem, weiß Beatrice Mußmann, die Koordinatorin der Klinikschule:
    "Wenn man eine Magersucht hat, dann hat man eigentlich leistungsmäßig keine Probleme. Dann mutet man sich eher zu viel zu als gut ist und ist ein Perfektionist in allen Bereichen."
    Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Ärzten
    Für eine gesunde Entwicklung geht es dann darum, dass sich die Betroffenen nicht zu viel zumuten. Bei allen Krankheitsbildern arbeiten die Lehrkräfte eng mit den Therapeuten und Ärzten zusammen. Chefarzt Michael von Aster setzt auf eine ganzheitliche Förderung der Patienten:
    "Es gibt ganz verschiedene therapeutische Zugangswege, die aufeinander abgestimmt werden müssen, und da, genau in diesem Kanon, hat auch die Schule ihren Platz."
    Nach dem Klinikaufenthalt kehren manche Schüler zurück in ihre Herkunftsschule, für andere ist ein Schulwechsel sinnvoller. Das Lehrerteam kümmert sich um die Übergänge und nötige Fördermaßnahmen. Während des Klinikaufenthalts bietet die Schule auch ein Stück Alltag in einer nicht alltäglichen Situation. Für den Grundschüler Nils ist klar, dass ihm der Schulalltag in der Klinik auch eine Brücke in die Zukunft baut:
    "Wenn ich dann wieder entlassen werde, dann kann ich mich besser an den normalen Alltag gewöhnen."