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Klischees, Vorurteile und Verfolgung

Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal widmete zwanzig Jahre seines Forscherlebens dem europäischen Blick auf die Sinti und Roma. Titel und Fazit seiner umfassenden Studie: "Europa erfindet die Zigeuner".

Von Eva Pfister |
    In Chroniken aus dem 15. Jahrhundert tauchen die Fremden zum ersten Mal auf: Wie wohlhabende Sarazenen erscheinen sie in der Illustration einer Schweizer Chronik, in der sie als "schwarze getaufte Heiden" bezeichnet werden, die aus Ägypten kämen. Diese verbreitete Herkunftslegende brachte den Roma den Namen "Gipsy" ein. Als die dunkelhäutigen Fremden immer länger in Europa blieben und mit ihrer nomadisierenden Lebensweise für Irritationen sorgten, verdächtigte man sie, für die Türken zu spionieren, und begann, sie aus den eigenen Herrschaftsgebieten zu vertreiben. Dokumente aus dem 16. und 17. Jahrhundert belegen, wie die Strafen für das "Herumzigeunern" sich verschärften: Von Prügelstrafen, Brandmarkung und Pranger – bis hin zum Galgen.

    Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte die Wissenschaft, dass die Sprache der Roma, die sie sich europaweit durch mündliche Überlieferung bewahren konnten, indische Wurzeln hatte. Dies wäre eigentlich ein Grund gewesen, das Volk aufzuwerten, so Klaus-Michael Bogdal, aber nach kurzer Zeit wurden die Roma als Nachfahren der untersten indischen Kaste, der Parias, angesehen, - wofür es keinerlei Belege gibt. Wie lässt sich diese durchgehende Abneigung und Abwertung erklären?

    "Nach der Ankunft, in den ersten 100, 150 Jahren, sind es religiöse Gründe. Das sind eben Heiden, so kommen sie in das übliche Ablehnungsschema zwischen christlichem Abendland und heidnischem Morgenland hinein. In der Aufklärung, und das ist für mich das Entscheidende, sind sie immer das negative Spiegelbild all dessen, was man in Europa nicht sein möchte. Die Zigeuner sind eine schriftlose Gesellschaft, und man möchte eine hochzivilisierte Schriftkultur werden, die Europäer sind stolz darauf, ihre eigene Geschichte zu entdecken, und die Roma sind die, die gar kein Interesse daran haben, diese Form von Nationalgeschichte zu entwickeln. Im 19. Jhdt. kommen dann die üblichen hygienischen Vorstellungen dazu, Europa ist ein sauberes Land, in dem man sich wäscht, in dem man Badezimmer einrichtet, und all das sind sie auch nicht. Und so können Sie Baustein für Baustein aufeinander stellen, um am Ende bei rassistischen Konstruktionen um 1900 zu landen."

    Während die Roma in einigen Ländern Südosteuropas lange Zeit wie die einheimischen Bauern einfach Leibeigene waren und auch in Spanien mit seinem Völkergemisch einen Platz fanden, erfüllten sie in Mitteleuropa die Funktion der Gegenwelt. Klaus-Michael Bogdal belegt dies anhand einer Fülle von literarischen Zeugnissen. Da gibt es die wilden Räuberbanden, die in den Wäldern hausen (und etwa Goethes "Götz von Berlichingen" freundlich aufnehmen!), es gibt die mit Magie begabten alten Hexen – und natürlich die schönen jungen Frauen. An der "schönen Zigeunerin" machte sich die erotische Sehnsucht des sittlichen Bürgers fest. Die berühmteste dieser faszinierenden und gefährlichen Frauen hat Prosper Mérimée geschaffen und George Bizet hat sie auf die Opernbühne gebracht.

    "In Carmen wird eigentlich die typische Geschichte einer Beziehung zwischen einer Zigeunerin und einem Nicht-Zigeuner oder Weißen, könnte man sagen, geschildert und die nimmt einen typischen Verlauf: Die Faszination bedeutet Anziehung, Liebe bedeutet eigentlich Nähe, aber der weiße Mann kann diese Nähe nicht gewinnen, die bleibt geheimnisvoll, sie öffnet sich ihm nicht. Die Konsequenz ist, sie wird immer negativer ausgestattet, sie begeht Liebesverrat und so weiter. Und das heißt natürlich am Ende: Dann kann er sie erstechen und darf er sie auch erstechen als stolzer Spanier!"

    Diese Dramaturgie, die zum Ende die Vernichtung legitimiert, entdeckte Klaus-Michael Bogdal auch in einer Erzählung von August Strindberg. In "Tschandala" führt der schwedische Autor mit erstaunlicher Brutalität aus, wie Faszination in Ablehnung umschlägt und sich in Hass und Vernichtungswillen steigert. Die Erzählung von 1889 liest sich wie eine Vorbereitung auf den Holocaust, von dem auch die Sinti und Roma betroffen waren. Der Holocaust war es denn auch, der sie dazu brachte, ihre Schriftlosigkeit aufzugeben, um ihre schrecklichen Erfahrungen für die Nachgeborenen festzuhalten.

    "Wenn man das in der Tradition der eigenen Kultur macht, hält das zwei oder drei Generationen, das heißt man kann erzählen oder man kann Lieder schreiben, das ist auch alles gemacht worden nach dem Holocaust, aber das bleibt in der eigenen Gruppe und es verschwindet wieder. Oder es wird zur Legende, es wird zur Erzählung, und der Holocaust ist natürlich etwas, das darf nicht zur Legende und Erzählung werden. Und deshalb sind in den letzten 20 Jahren eine Fülle von Selbstzeugnissen entstanden, die führen wiederum dazu, dass man fragt: Können wir nicht selber unsere eigene Geschichte aufarbeiten, können wir nicht darüber schreiben? Das stößt natürlich an unüberwindbare Hindernisse, weil es die Dokumente nicht gibt. "

    Aus diesem Grund wird Bogdals Buch "Europa erfindet die Zigeuner" von den Roma interessiert aufgenommen. Die beeindruckende Spurensuche erzählt anhand der Rezeptionsgeschichte sehr viel von der Präsenz der Romvölker in Europa, zumal er auch vom Wandel in ihrem juristischen Status, von Assimilierungszwängen und einzelnen echten Integrationsversuchen berichtet.
    Im Nachwort wird der Autor persönlich. Mit seinem Buch möchte Klaus-Michael Bogdal auch dazu beitragen, in der heutigen Situation, wo Fremde aus Osteuropa oder Afrika bei uns ankommen, nicht wieder zurückzufallen in die alten Muster von Vorurteilen und Verfolgung.

    Klaus-Michael Bogdal: "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
    592 Seiten, 24,90 Euro