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Kluge Köpfchen

Brieftauben finden sicher nach Hause. Wie das funktioniert, ist noch immer nicht vollständig geklärt. Jetzt haben Forscher der Universität Zürich herausgefunden, dass sie sogar in unbekanntem Gelände erkennen, wo sie sich in Bezug auf ihren Taubenschlag befinden und dass sie sich für verschiedene Ziele entscheiden können.

Von Sabine Goldhahn |
    Weit draußen auf dem Land des Schweizer Kantons Zürich hat der Verhaltensforscher Hans-Peter Lipp seinen Taubenschlag. Einen alten grünen Wagen, der schon vor 20 Jahren bei der Schweizer Armee stand, dort, wo Lipp einst Chef des ehemaligen Brieftaubendienstes war. In diesem alten Autoanhänger sitzen heute Tauben mit Gepäck auf dem Rücken. Sie tragen kleine streichholzschachtelgroße Päckchen – als Training für die GPS-Ortungsgeräte, mit denen sie künftig fliegen sollen.

    "Die meisten Tauben, die wir hier drin haben, tragen eine Attrappe auf dem Rücken, denn das hat ja ein gewisses Gewicht, je nach technischer Ausführung zwischen 20 bis 28 Gramm, und man kann das nicht einfach so auf die Federn kleben."

    Wenn die Tauben sich an die Last am Rücken gewöhnt haben, kann Lipp sie bei seinen Versuchen am Computer überwachen: welche Route sie fliegen und wo sie sitzen bleiben. So konnten er und seine Doktorandin Nicole Blaser eine Frage klären, die Forscher seit Langem bewegt: Fliegen Tauben stur wie ein Roboter von A nach B, indem sie einfach nur die Distanz zwischen sich und ihrem Zielpunkt so lange verringern, bis die beiden Positionen übereinstimmen? Oder fliegen sie mit Köpfchen, nach einer mentalen Karte?

    Um das zu untersuchen, trainierte der Forscher die Tauben so lange, bis sie zwei Orte sicher erkannten, einen, der ihr Heimatschlag war und einen anderen, an dem es Futter gab. Beide waren etwa 30 Kilometer voneinander entfernt. Weitere 30 Kilometer weg, in völlig unbekanntem bergigen Gelände, ließ er dann zwei Gruppen von Tauben fliegen. Die einen hatten sich vorher satt gefressen, und die anderen waren völlig hungrig.

    "Und wenn sie eine Karte im Kopf haben, dann sollten die hungrigen Tauben schnurgerade zum Futterschlag fliegen, während die satten Tauben sich diesen Weg ersparen und sogleich den Heimschlag ansteuern."

    Genau das konnte Lipp beobachten. Trotz unübersichtlichen Geländes flogen die hungrigen Tauben erst einmal direkt zum Futterplatz, bevor sie auf Heimatkurs gingen. Sie entschieden sich also bewusst für einen Umweg. Die satten Tauben hingegen steuerten ihren Heimatschlag direkt an. Ohne eine gute Erinnerung und eine mentale Karte wäre dieses differenzierte Verhalten nicht möglich.

    Jetzt bleibt nur die Frage, wie die Tauben navigieren. Das ist bis heute ein Dauerbrenner in den Diskussionen der Forscher. Offensichtlich spielen mehrere Dinge eine Rolle: So orientieren sich die Tiere an der Sonne, am Erdmagnetfeld und am Geruch. Bei seinen letzten Versuchen in der Ukraine fand Lipp aber zunehmend Hinweise, dass noch etwas anderes wichtig ist:

    "Und zwar nimmt man an, dass die Taube ihren Standort, wo sie sich befindet, wenn man sie loslässt, aufgrund der Schwerkraft ermittelt."

    Somit würde sie sich überall Richtung Mittelpunkt der Erde orientieren, als ob man eine Linie zum Erdinneren zieht. Wenn sie den Standort verlässt und Hunderte von Kilometern weiter landet, ergibt das eine neue Linie zum Erdinneren. Diesen Winkelunterschied zwischen den beiden Positionen könnten die Tiere womöglich anhand winziger Schwerkraftänderungen spüren und sich merken. Wie sonst könnte man erklären, dass Vögel sich auch in Ost-West-Richtung orientieren, wo ihnen das Nord-Süd-gerichtete Erdmagnetfeld nicht weiterhilft? Schon der ukrainische Forscher Valery Kanevsky hat vor Jahren beobachtet, dass Tauben über Schwerkraftanomalien verwirrt umherfliegen oder verloren gehen. Das hat Lipp nun mit GPS-Technik überprüft.

    "Nach etwa 550 Auflässen mit GPS-Verfolgung konnten wir doch feststellen, dass die Theorie eigentlich fast alles richtig vorausgesagt hat, dass nämlich die Tauben, wenn man sie im Randbereich von Schwerkraftanomalien auflässt, sich sehr häufig verirren."

    Ein Gravitationssinn bei Tauben – diese These birgt Diskussionsstoff für die Zukunft. Daher will der Zürcher Forscher die Befunde nun an weiteren Orten mit Schwerkraftanomalien überprüfen.